Politische Berichte Nr.5/2021 (PDF)30
Kalenderblatt – 1864 – Frankreich

Kalenderblatt: 25. Mai 1864 Frankreich Lyon: Aufstand der Seidenweber (Canuts) 1831

Kalenderblatt: 25. Mai 1864 Frankreich

Frankreich – Das Koalitions-Verbot wird aus dem Strafgesetzbuch gestrichen

Während der Französischen Revolution wurden mit dem Gesetz Le Chapelier vom 14. Juni 1791 die Handwerkerzünfte, die unter dem Ancien Régime die Berufsausübung geregelt hatten, endgültig verboten. Noch weitreichender: dieses Gesetz machte aus der Koalitionsfreiheit ein Delikt, eine Straftat, und verbot damit wirtschaftlichen und sozialen Akteuren den freien Zusammenschluss. Streikbewegungen wurden verboten und strafrechtlich geahndet. Der liberalistischen Sichtweise der Revolutionäre entsprechend sollte weder die Freiheit der Arbeit noch der freie Wettbewerb eingeschränkt werden. Und zwischen den besonderen Interessen des Einzelnen und dem vom Staat gewährleisteten allgemeinen Interesse sollte keinerlei dritte oder zwischengeschaltete Instanz stehen. – Napoleon Bonaparte nahm das Koalitionsverbot in das Strafgesetzbuch von 1810 auf und zwar in einer Form, die sich ausdrücklich gegen die Arbeiter richtete. Bereits 1803 hatte er das „Arbeiterheft“ wieder eingeführt, welches ein Arbeiter auf Reisen immer bei sich tragen musste. Andernfalls konnte er als Landstreicher betrachtet, verhaftet und bestraft werden. Es blieb bis 1890 obligatorisch, obwohl es in den 1850er Jahren praktisch aufgegeben wurde.

Pierre-Gaël Loreal, Paris

Aufgrund ihrer miserablen Lage mussten sich die Arbeiter im 19. Jahrhundert aber immer wieder zu Wort melden und damit gegen das Verbot verstoßen. Zwischen 1819 und 1821 erhoben sie sich insbesondere in Südfrankreich gegen die fortschreitende Mechanisierung bis dahin, dass Arbeiter ihr Recht auf Arbeit verteidigten, indem sie die neuen Maschinen zerstörten.

Vor allem mit der Revolution von 1830, den sogenannten „Drei glorreichen Jahren“, die zur Abdankung von König Karl X. und zum Amtsantritt eines dem Bürgertum näherstehenden Louis-Philippe führte, begannen die Arbeiter ihre Stärke zu erkennen. Die Schließung der Druckereien hatte viele arbeitslos gemacht, eine Folge der von Karl X. angeordneten Einschränkung der Pressefreiheit. Weitere Schließungen in anderen Sektoren folgten, und dieses Reservoir an Arbeitern, die ihren Broterwerb verloren hatten, versammelte sich, errichtete Barrikaden in Paris und ermöglichte schließlich den Triumph der Bourgeoisie: und zwar so erfolgreich, dass die bürgerliche Zeitung „Le National“ am 30. Juli erklärte: „Das Volk war überwältigend, es hat gesiegt, alle Ergebnisse des Kampfes müssen ihm gelten.“ Diese Worte waren schnell vergessen, als der Polizeipräfekt die Arbeiter einen Monat später, als sie Lohnerhöhungen forderten, daran erinnerte, dass „Arbeiterversammlungen an sich eine schwere Störung darstellen. Sie beunruhigen die friedliche Bevölkerung und bedeuten für die Arbeiter einen erheblichen Zeit- und Arbeitsverlust“. Die enttäuschten Arbeiter gaben nicht auf, gegen das Verbot zu verstoßen, so dass es zu Beginn der 1830er Jahre zu zahlreichen Streiks und Demonstrationen kam. Da der gesetzliche Rahmen fehlte, der die Durchführung von Streiks erlaubte, und angesichts der gewaltsamen Reaktion der Behörden wurden aus den Streiks ein Aufstand. Weithin bekannt sind die Aufstände der Canuts 1831 und 1834 in Lyon, aber auch andere harte Streiks, wie z.B. der „Aufstand der vier Pfennige“ im Mai 1833, bei dem die Bergarbeiter von Anzin in Nordfrankreich gegen eine Lohnkürzung kämpften. 19 Bergleute wurden wegen Koalitionsverstößen verurteilt, die ursprünglichen Forderungen wurden nach ihrer Verurteilung aber erfüllt.

Wenn die Revolution von 1830 vor allem eine Revolution der Bourgeoisie war, so war die von 1848 noch mehr die der Arbeiter: sie brach mitten in einer Wirtschaftskrise aus, verursacht durch den Rückgang beim Eisenbahnbau und aufgrund schlechter Ernten. Viele Arbeiter waren arbeitslos. Sie waren unzufrieden. Sie waren die Hauptakteure bei den Unruhen vom 22., 23. und 24. Februar 1848, die zur Abdankung von König Louis Philippe führten. Die folgende Regierung brachte Fortschritte durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Anerkennung des Vereinigungsrechts, die Gründung von Produktionsverbänden der Arbeiter und die Schaffung und Einrichtung von Nationalen Werkstätten. So sollte Arbeit bekommen, wer keine hatte. Die provisorische Regierung wurde jedoch am 4. Mai durch die Wahl einer reaktionäreren abgelöst. Diese schaffte am 15. Juni die Nationalen Werkstätten ab, woraufhin am 23. Juni die Arbeiter mit der Parole „Brot oder Blei“ durch die Stadt zogen und Barrikaden errichteten. Die Konfrontation mit der Armee, die nur zwei Tage dauerte, entwickelte sich zu einem Massaker. Die offizielle Zahl der Opfer betrug 3035 unter den Arbeitern, die in die Seine geworfenen Menschen nicht mitgerechnet, und 703 auf Seiten der Ordnungskräfte. Es folgten 25 000 Festnahmen.

Die Republik verlor die Unterstützung der Arbeiter und machte dem Zweiten Kaiserreich Platz. Napoleon III. gab den Ton für die folgenden Jahre an. Er hob das am 25. März 1852 gewährte Vereinsrecht wieder auf.

Anfang der 1860er Jahre beugte sich Napoleon III. dem Druck der Arbeiter und wechselte zu einer sozialliberalen Politik. So wurden 1862 die Anführer eines Streiks in der Pariser Druckindustrie, die zu hohen Strafen verurteilt worden waren, begnadigt. Weiter durfte eine Delegation von 200 Arbeitern unter der Leitung des Ziseleurs Henri Tolain (1828–1897) auf Kosten des kaiserlichen Empire im Oktober 1862 zur Weltausstellung nach London reisen. Der Kontakt mit den Arbeitern und auch mit den Gewerkschaften in England kam zum richtigen Zeitpunkt! Gewerkschaften waren hier seit 1824 gesetzlich verankert, Löhne waren höher, Streiks wurden nicht sanktioniert. Nach ihrer Rückkehr veröffentlichte Tolain im Februar 1864 im Namen von 60 Pariser Arbeitern ein Manifest, das das passive Wahlrecht der Arbeiter, das Recht zur Bildung von Gewerkschaftskammern, aber auch das Streikrecht forderte.

Napoleon III. ernannte Emile Ollivier (1825-1913) zum Berichterstatter für ein Gesetz zur Abschaffung des Koalitiondelikts. Ollivier war ein junger Anwalt, 39 Jahre alt, Abgeordneter seit 1857, Republikaner und mit einer Tochter des berühmten Komponisten Franz Liszt verheiratet. Am 28. April 1864 legte er dem Corps Législatif, der gesetzgebenden Versammlung seinen Entwurf vor. Der Text war kurz und enthielt nur zwei Artikel, die eine Neufassung von drei Artikeln des Strafgesetzbuchs darstellten. Verboten war nicht mehr die konzertierte Arbeitsniederlegung an sich, sondern Gewalt, die bei diesen Aktionen ausgeübt werden könnte, sowie die Verletzung der Arbeitsfreiheit, d.h. die Behinderung der Arbeit anderer. Weder das Recht, öffentliche Versammlungen anzumelden, noch das Recht, sich zu versammeln, stand in dem Gesetz, also war es nur eine teilweise Aufhebung des Le-Chapelier-Gesetzes von 1791. Ollivier verteidigte das Gesetz gegen die Reaktionäre mit einer Reihe von Argumenten. U.a.: die Fähigkeit der Arbeiter, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, könne seit der Anerkennung des allgemeinen Wahlrechts 1848 nicht mehr in Frage gestellt werden. Es wäre paradox, ihnen die Fähigkeit abzusprechen, sich hinsichtlich ihrer Arbeit zu äußern, die ihre „tägliche persönliche Angelegenheit […] ist und für die sie eine besondere Kompetenz haben“. Weiter erinnerte er daran, dass mit der Öffnung des Binnenmarktes durch den französisch-britischen Handelsvertrag von 1860 „Streiks den Verbrauch nicht mehr gefährden könnten“. Er berief sich auch auf die von der Delegation, die die Weltausstellung besucht hatte, geschilderte Situation des englischen Arbeitnehmers. Dieser habe einen um 25 % höheren Lohn erzielt, weil er die Möglichkeit hatte, über die Löhne zu verhandeln, ohne dass die materiellen Lebenshaltungskosten in England dadurch höher wurden. Diejenigen, die das weiter gehende Recht auf Vereinigungen für Arbeiter forderten, beschwichtigte er damit, dass die „Koalition“ eine Vereinigung, aber eben befristet, sei. Ein Anfang, der eines Tages zu einer dauerhaften Vereinigung (im Sinne einer Gewerkschaft oder eines Vereins) führen müsse: „Heute das Recht der Koalitionen, morgen das der Vereinigungen“. Er beendet seine Rede mit den Worten, die von Beifall begleitet werden: „Im Gesetz der Regierung sehe ich nicht nur das, was nicht da ist: das Versammlungs- und das Vereinigungsrecht; ich sehe auch das, was da ist: die Koalitionsfreiheit. Ich beschränke mich nicht darauf, das zu kritisieren, was mir fehlt, sondern ich bin dankbar für das, was mir gegeben ist.“ Das Gesetz wurde schließlich am 25. Mai 1864 mit einer großen Mehrheit von 121 Ja- und 31 Nein-Stimmen angenommen.

Abb. (PDF): Ollivier: „Um die Freiheit zu begründen habe ich nach zwei Seiten zu kämpfen, sowohl gegen diejenigen, welchen mein Vorgehen zu langsam, als gegen diejenigen, denen dasselbe zu rasch erscheint.“ Abb.: //upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8f/Kladderadatsch_1870_0082_-_ndb_ollivier.jpg

Abb. (PDF): Guignol und Gnafron. Die Französische Revolution macht den Seidenweber Laurent Mourguet, geb. 1769 in Lyon, arbeitslos. Zunächst auf Jahrmärkten als Höker bzw. Hausierer oder auch als «Zahnbrecher» unterwegs, erfindet er 1805 und 1808 die Marionetten Guignol und Gnafron und tritt damit auf. Das «Théâtre de Guignol» ist geboren und zählt noch heute zu den kulturellen Wahrzeichen der Stadt Lyon. Die beiden Marionetten, Prototypen des „guten Lyonnaisers“ ziehen mit Spott und Raufhändel gegen die Obrigkeit, Bailli, der Gendarme – einfach gestrickt – tut wie ihm geheißen und macht oft Bekanntschaft mit Guignols Knüppel. So konnte der Zensur oft ein Schnippchen geschlagen und die einfachen Leute unterhalten werden!