Politische Berichte Nr.1/2022 (PDF)02a
Blick auf die Medien

Italien: Mattarella wiedergewählt

Paola Giaculli, Berlin. Während Abgeordnetenkammer, Senat und Vertreter:innen der Regionen – insgesamt 1009 Wahlleute – sich zur Wahl des Staatspräsidenten versammelten, ging die Polizei in mehreren italienischen Städten brutal gegen demonstrierende Schüler:innen vor. Sie hatten gegen die unkontrollierte Ausbeutung der Jugend im Dual-System protestiert. Auslöser der Demonstrationen war der Unfalltod des 18-jährigen Schülers Lorenzo Parelli bei einem Schulpraktikum bei der Maschinenbaufirma Burimec in Udine. Italien verzeichnet einen traurigen Rekord mit 1221 tödlichen Arbeitsunfällen 2021. Der nun wiedergewählte Staatspräsident Sergio Mattarella sprach dies und andere dramatischen Verwerfungen in seiner Rede vor dem Parlament an, erwähnte „übernationale Wirtschaftsmächte, die dazu neigen, sich durchzusetzen und dabei den demokratischen Prozess umgehen“, und forderte, die Bekämpfung der Ungleichheiten zur Achse des politischen Handels zu machen. Die Rede des Staatspräsidenten klang wie ein Katalog der in der italienischen Verfassung festgelegten Grundrechte, um deren Umsetzung sich die frenetisch klatschenden Parlamentarier:innen kaum kümmern. Seit einem Jahr lassen sie sich in übergroßer Mehrheit lieber von dem Technokraten Mario Draghi steuern, den Mattarella vor circa einem Jahr mit der Bildung einer Regierung beauftragt hatte, um das Mitte-Links-Kabinett Conte abzulösen. Der Auslöser der Regierungskrise war Ex-Premier und Senator Matteo Renzi, der Gründer der Fraktion Italia Viva, einer Abspaltung der Partito Democratico. Bei der Ernennung Draghis hatte Mattarella eine „hochqualifizierte Regierung“ der Einheit gefordert. Es entstand eine enorm große Koalition, „ein politisches Monstrum“, so der Soziologe Marco Revelli. Alle Parteien, gleich welcher Orientierung, sind eingeschlossen bis auf die „Brüder Italiens“, die Erbenpartei der faschistischen MSI. Mattarella rechtfertigte diesen institutionellen Ausnahmezustand mit der Pandemie, der sozialen und wirtschaftlichen Krise und der rechtmäßigen Nutzung des EU-Aufbaufonds. Italien ist mit ca. 190 Milliarden Euro das größte Empfängerland.

Mit dieser Entmündigung der Politik würden die Weichen für eine Präsidialrepublik gestellt, kritisieren Juristen. Mattarella selbst hatte mehrmals gewarnt, dass bei einer Wiederwahl die Garantiefunktion in Gefahr sei, die Neutralität des Staatspräsidenten – obwohl die Verfassung dies durchaus zulässt! Nun geschieht dies nach 2013 (Giorgio Napolitano) zum zweiten Mal. Die Debatte über einen möglichen Rückzug Mattarellas vor dem Mandatsende 2029 bedeutet für das politische Klima im Hinblick auf die Parlamentswahlen im nächsten Jahr nichts Gutes.

Die Situation ist entstanden aus der Ambition Draghis, Staatspräsident zu werden. Aber Mattarella hatte ihn zu einer „Rettungsmission“ gerufen, die noch nicht erfüllt war, und so hielten es die Regierungsparteien für notwendig, dass er die Regierung weiterführt. Draghi als Staatspräsident wäre außerdem nicht mehrheitsfähig gewesen, die Vorstellung, er könne als Staatspräsident einen ihm nahestehenden Technokraten zum Ministerpräsidenten ernennen, war inakzeptabel.

Keine Partei aber hatte konkrete Alternativen bedacht. Nach dem Scheitern der Kandidatur Berlusconis, der sich gegen Lega-Chef Matteo Salvini wieder hatte durchsetzen wollen, kamen vom Mitte-Rechts-Bündnis Vorschläge. Immerhin, meint der Verfassungsrechtler Francesco Pallante, im Mitte-Links-Lager sei das nicht der Fall gewesen!

Damit war klar, dass Mattarella erneut gewählt werden musste, um die Stabilität des Regierungskonstrukts zu bewahren, nicht unbedingt aber die Stabilität des Landes. Angesichts der wachsenden Inflationsrate, steigender Energiepreise und des sozialen Notstands müssten die Regierungsparteien dringlicher denn je die Frage nach Stabilität beantworten. Die rechten „Brüder Italiens“ als einzige Oppositionspartei dürften sonst leichtes Spiel haben. Betriebsschließungen durch internationale Fonds und Konzerne und Kündigungen per WhatsApp sind alltäglich. In der Autobranche sind ca. 70 000 Arbeitsplätze gefährdet. Italien sei das einzige Land der OECD, in dem die Durchschnittslöhne seit 1990 gesunken sind, berichtet das Forschungsinstitut Censis. Trotz Wachstums (+6,3 Prozent) steigt die Armut. Die neuen Arbeitsplätze sind fast ausschließlich befristet. Nord- und Süditalien gehen weiter auseinander.

Die von Mattarella ins Leben gerufene Einheitsregierung orientiert sich sicherlich nicht an seinem im Parlament zitierten Grundrechtekatalog. Die Parteien haben kaum eine Bindung mit der Gesellschaft. Kein Wunder, dass sich die Menschen von der Politik abwenden: Bei Nachwahlen wurde der PD-Chef Letta mit einer Wahlbeteiligung von nur 35,9 % im Oktober 2021 in Siena gewählt. Nur 11,3% der Wahlberechtigten erschienen in den Wahllokalen des Wahlkreises 1 in der Innenstadt Roms, wo die PD-Kandidatin Cecilia D’Elia im Januar gewählt wurde.