Politische Berichte Nr.1/2022 (PDF)32a
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Neukaledonien: Unabhängigkeits-Referendum legal, aber illegitim

Edda Lechner, Norderstedt

Nach der Entdeckung durch die europäischen Seefahrer vor nunmehr 500 Jahren und der anschließenden kolonialen Eroberung ist die alte Kolonialmacht Frankreich immer noch im Süden des Pazifischen Ozeans präsent: in Französisch-Polynesien, auf den Inseln Wallis und Futuna und in Neukaledonien. Die Bevölkerung von „Nouvelle-Calédonie“ hat immerhin vor nunmehr 30 Jahren mit Frankreich vereinbart, dass ihre Unabhängigkeit vollzogen werden soll. Sie erhielten auch bereits 2003 nach den Artikeln 76 und 77 der französischen Verfassung den Sonderstatus einer „Collectivité sui generis“. Maximal drei Referenden sollten über die vollständige politische Unabhängigkeit abgehalten werden, zwei davon fanden bereits statt.

Das melanesische Volk der „Kanaken“, das ursprünglich diese Inselgruppe besiedelt hat, macht heute nur noch 44% der ansässigen Bevölkerung von nur 271 000 aus. Seit der kolonialen Besetzung im Jahr 1853 sind inzwischen 34% der BewohnerInnen Franzosen, da diese an einer Landnahme und Besiedlung der attraktiven Inseln sehr interessiert waren. In einer Ansprache im August vergangenen Jahres erklärte der französische Präsident denn auch, dass Frankreich ohne Neukaledonien echt „weniger schön“ wäre. Und passend wies eine offizielle Studie über die Auswirkungen einer eventuellen Unabhängigkeit nur auf deren negative Folgen hin. Zugleich engagierten sich aber 64 bekannte AkademikerInnen aus Frankreich, Australien und anderen Ländern und erklärten in „Le monde“, Frankreich müsse das Selbstbestimmungsrecht der kolonisierten Völker endlich respektieren.

Das dritte Referendum war für den 12. Dezember 2021 vereinbart. Diese geplante Abstimmung fiel nun aber mitten in die Corona-Zeit. Die BefürworterInnen einer Unabhängigkeit erklärten daraufhin unter Protest, dass das angeordnete Referendum auf den August 2022 verschoben werden sollte, und zwar nach den französischen Präsidentschaftswahlen. Bis Ende August 2021 war Neukaledonien nahezu covid-frei. Doch ein heftiger Ausbruch des Virus führte danach innerhalb von nur drei Monaten zu fast 300 Todesfällen, insbesondere in den Kanak-Communities. Damit wurden eindeutig die demokratischen Rahmenbedingungen für eine faire und legitime Wahlkampagne extrem erschwert. Bei früheren Abstimmungen mobilisierte die Unabhängigkeitsbewegung mit großen Kundgebungen. Ab September waren derartige Versammlungen aber nicht mehr erlaubt. Die Pandemie ließ den Kanaken außerdem kaum Zeit für politische Kampagnen, denn sie waren gemäß ihrer traditionellen Trauerpraktiken voll mit den Zeremonien für ihre Toten beschäftigt. Außerdem befürchteten die Menschen zu Recht eine Ansteckung in den Wahllokalen.

Trotz all dieser Bedingungen und den Protesten von Seiten der Kanak-Communities wurde das Unabhängigkeits-Referendum in Neukaledonien von Frankreich für Samstag, den 12. Dezember 2021, angesetzt und durchgeführt. Das Ergebnis war mit 96,5 % gegen die Unabhängigkeit eindeutig, jedoch lag die Wahlbeteiligung bei nur 43,87 %. Beim letzten Referendum im Jahr 2020 lag die Beteiligung noch bei 85,69 %. Und damals hatten nur 53,26 % gegen die Unabhängigkeit gestimmt, beim ersten Referendum 2018 noch 56,67 %. Doch die französische Regierung bestätigte, dass die Abstimmung legal und ohne Zwischenfälle abgelaufen sei. „Legal“ zwar, aber „illegitim“, so äußerte sich Professor Matthias Chauchat von der „Univesité de la Caledonie“. Wohl rechtskonform, aber trotzdem unrechtmäßig, bzw. ungerecht! Die Studentin Marylou Mahé schrieb in einem Beitrag für das „Radio New Zealand“: „Ich habe den Eindruck, dass meine Kultur ignoriert wird, dass meine Kanak-Identität verleugnet wird… Es ist, als ob wir nicht existierten.“ Welche politische und moralische Legitimität kann denn auch ein Unabhängigkeits-Referendum ohne die Beteiligung der kolonisierten Bevölkerung haben?

Abb.(PDF): Emblem von Neukaledonien (Emblème de la Nouvelle-Calédonie): Nautilus vor einem Baum auf zwei Wellen und eine nach der kanakischen Tradition mit Muscheln geschmückte Spitze eines Speers.

Quelle: https://pursuit.unimelb.edu.au/articles/new-caledonia-referendum-a-flashpoint-for-decolonisation

https://www.youtube.com/watch?v=nNF-ntTofCg