Politische Berichte Nr.2/2022 (PDF)26b
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Der Outsider von der Weltbank

Die Präsidentenwahl in Costa Rica gewann der Rechtspopulist Rodrigo Chaves

Gaston Kirsche

43 Prozent der Wahlberechtigten gingen am Sonntag, 3. April nicht zur Stichwahl für das Präsidentenamt in Costa Rica. Ein neuer Rekord, seit der Neugründung der Republik 1949 – 3 Prozent mehr als in der ersten Runde am 6. Februar. Von den 5, 2 Millionen Ticas und Ticos waren 3,5 Millionen wahlberechtigt, von denen 2 Millionen wählten.

Seit 20 Jahren nimmt die bis dahin konstant hohe Wahlbeteiligung ab. „Die Wahlmaschine produziert zwar weiterhin Resultate und international gelten wir als vollwertige und konsolidierte Demokratie“, so Andrés León Araya in seiner Analyse „Costa Ricas Wende nach rechts“: „Aber gemessen an den gescheiterten Versprechen, faire Repräsentation zu garantieren und eine gleichberechtigtere Gesellschaft hervorzubringen, ist sie tot“, so der Professor der Politikwissenschaft und Anthropologie an der staatlichen Universität in San José. Auf dem Uni-Campus inmitten der Hauptstadt mit seinen schattenspendenden Bäumen ist Kritik am Abbau des Sozialstaates und der staatlichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit weit verbreitet – im Wahlkampf spielte sie landesweit aber nur eine geringe Rolle. Zusammen mit der ersten Runde der Präsidentenwahl wurde am 6. Februar auch die Abgeordnetenversammlung gewählt: Nur sechs von 57 Gewählten gehören einer Partei an, welche die Politik der Privatisierung und Bevorzugung des privaten Kapitals ablehnen und bei Protesten gegen Sozialabbau neben der außerparlamentarischen Linken sichtbar vertreten ist: Der demokratisch-sozialistische „Frente Amplio“, Breite Front, der auf 8,30 Prozent der abgegebenen Stimmen kam. Dies ist zwar eine Steigerung zur vorherigen Wahl 2018 – aber damals kam der „Partido Acción Ciudadana“, PAC, Bürgeraktionspartei, noch auf 16,26 Prozent. Der PAC war im Jahr 2000 als Linksabspaltung vom jahrzehntelang dominanten „Partido Liberación Nacional“, PLN, Partei der Nationalen Befreiung gegründet worden, nachdem der PLN sich immer mehr von seiner linkssozialdemokratischen Ausrichtung verabschiedet hatte. Der PAC stellte 2014 die zweitgrößte Parlamentsfraktion und gewann 2014 und 2018 die Präsidentschaftswahlen mit einem linksliberalen Programm gegen mehr Freihandel und für einen Ausbau der staatlichen Daseinsfürsorge. Die Ernüchterung in der Wählerschaft war groß, als die Regierungen der PAC sich für eine ihren Wahlversprechen entgegengesetzte Politik der Deregulierung und des Abbaus von Arbeitsrechten entschied. Zwar setzte der PAC einige gesellschaftspolitisch fortschrittliche Reformen wie das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe durch, gegen Widerstände insbesondere evangelikaler Kirchen im religiös geprägten Costa Rica, aber vor allem steht der PAC für ein 2021 mit dem Internationalen Währungsfonds abgeschlossenen Kredit über 1,8 Milliarden US-Dollar, der an die Auflage gebunden ist, die Ausgaben des Staates zu reduzieren – ein weiterer Sozialabbau. Der PAC verlor so in zwei Legislaturperioden vollständig an Glaubwürdigkeit, eine soziale Alternative zur Politik der Deregulierung scheint komplett gescheitert. Der Präsidentschaftskandidat des PAC kam in der ersten Runde der Wahlen nur auf 0,6 Prozent, der PAC konnte mit nur 2,16 Prozent der Wählerstimmen kein Abgeordnetenmandat erringen – gegenüber 23,5 Prozent bei den Abgeordnetenwahlen 2014. Bis auf den „Frente Amplio“ verorten sich das erste Mal in einer Legislaturperiode alle anderen Parlamentsfraktionen wirtschaftsliberal und kapitalfreundlich.

Auch die Präsidentenstichwahl wurde zwischen zwei Kandidaten entschieden, die beide für Kapitalförderung, Privatisierungen und einen weiteren Abbau staatlicher Einrichtungen stehen.

„Die beiden Präsidentschaftskandidaten gehören zu politischen Sektoren, welche für die aktuelle Krise verantwortlich sind“, schrieb die feministische Organisation „Mujeres en Acción“ in einer Erklärung: „Die Wahlen 2022 finden im Kontext von Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und gestiegener sozialer Ungleichheit statt.“

Die Lasten der schwersten Haushalts- und Schuldenkrise seit den 80er-Jahren tragen die lohnabhängig Beschäftigten und die im informellen Sektor Arbeitenden. Bereits vor der Coronapandemie stagnierte die Wirtschaftsleistung und die hohen Staatsschulden stiegen. 2019 betrug das Haushaltsdefizit 5,7 Prozent und die Staatsverschuldung 77 Prozent des BIP. Durch die Corona-Krise ist die Wirtschaftsleistung des Landes 2020 um 5,6 Prozent geschrumpft. Die Arbeitslosenquote von 14,4 Prozent ist die höchste seit einem Jahrzehnt. Unter erwerbstätigen Frauen liegt sie bei 19,8 Prozent, bei Männern dagegen bei 12,2 Prozent. Etwa 44 Prozent der Bevölkerung leben in Subsistenz, von Schwarzarbeit oder anderen prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Armutsquote ist auf 26 Prozent gestiegen – gegenüber 21 Prozent 2018.

In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen mit 25 Kandidierenden entfielen mit 27,28 Prozent die meisten Stimmen auf jemanden, der Sicherheit versprach: José María Figueres von der größten Partei PLN. Er war bereits von 1994 bis 1998 einmal Präsident – die direkte Wiederwahl ist in Costa Rica nicht möglich – und bereits sein Vater war dreimal Präsident für den PLN. Er hatte in seiner Amtszeit Privatisierungen durchgeführt, war in einen Korruptionsskandal verwickelt, wurde aber nie angeklagt und war lange in der Leitung des kapitalfreundlichen Weltwirtschaftsforums aktiv.

Der in der ersten Runde mit 16,78 Prozent der Stimmen überraschend Zweitplatzierte Rodrigo Chaves hat 27 Jahre für die Weltbank gearbeitet, davor in den USA studiert und so sehr lange nicht in Costa Rica gelebt. Er war bis Mai 2020 ein halbes Jahr lang als parteiloser Experte Wirtschaftsminister in der Regierung der PAC, trat aber bald zurück, weil ihm die Regierung nicht wirtschaftsliberal genug war. Er trat mit populistischen Slogans als vermeintlich unbelasteter Newcomer an: „Diesen Leuten würde ich die Schlüssel nicht wieder in die Hand geben“, für den Präsidentenpalast erklärte er über seinen Kontrahenten Figueres. Die bisherigen Regierungen hätten nur einer „gewissen Elite“ genützt, und für korrupte Politiker forderte er in einer Fernsehdiskussion halb im Scherz die Todesstrafe. Seine Hauptslogans im Stil von Donald Trump: Machen wir Costa Rica wieder zum glücklichsten Land und – Ich gehe keinem Streit aus dem Weg. Sein erst vor vier Jahren gegründeter Partido Progreso Social Democrático, PSD, Partei des sozialdemokratischen Fortschritts verfügt bisher über keinerlei Regierungserfahrung und ist programmatisch wirtschaftsliberal und rechtspopulistisch.

Die einzige Frau unter den chancenreichen Präsidentschaftskandidaten, die Christsoziale Lineth Saborío, bezeichnete er als intellektuell überfordert von ihrer Kandidatur. Um die Stimmen der rechten Evangelikalen warb er, indem er der „Gender-Ideologie“ den Krieg erklärte.

Nachdem mit der PAC in den beiden vergangenen Legislaturperioden eine vermeintlich sozialliberale Alternative bei der Krisenbewältigung gescheitert ist, erschien vielen Wählenden der Rechtspopulist und starke Mann Rodrigo Chaves als gute Option. Vielleicht gerade, weil er erklärt hat, am Parlament vorbei regieren zu wollen mit Dekreten und Volksentscheiden.

Am Sonntag stimmten 52,9% der Wählenden für Rodrigo Chaves, sein Kontrahent José María Figueres erhielt 47,1% der Stimmen. Die vehemente Kritik aus der in Costa Rica vielfältigen feministischen Bewegung an Rodrigo Chaves führte dazu, dass er unter Frauen keine Mehrheit erhielt. Neben außerparlamentarischen Gruppierungen riefen etwa auch ehemalige Ministerinnen aus der PLN massiv dazu auf, Chaves nicht zu wählen. Auch parteipolitisch nicht gebundene Prominente wie die populäre costaricanische Sängerin Debi Nova, deren Tonträger bei Sony Music erscheinen, äußerten sich: „Ich sorge mich, dass Costa Rica einen Präsidenten wählt, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird und der dieses Verhalten wiederholt, speziell gegenüber Frauen, und schamlos ist“, postete Debi Nova am Wahltag auf Instagram. Sie betonte, sie wäre eigentlich politisch „neutral“, aber es dürfe keinen Rückschlag geben für alle Frauen, die im Laufe der Geschichte für die Gleichberechtigung gekämpft hätten: „Ich möchte in einem Land leben, welches eine Führung wählt, die sich für den Respekt, die Würde und die Sicherheit von jedem und jeder einsetzt“. Ohne ihn beim Namen zu nennen und in typisch costaricanischer Zurückhaltung war dies eine eindeutige Aufforderung, Rodrigo Chaves nicht zu wählen.

Denn es hat einen Grund, warum sich Rodrigo Chaves Ende 2019 plötzlich in Costa Rica zu engagieren begann: Zwei Tage, bevor er sich am 30. Oktober 2019 als Wirtschaftsminister vereidigen ließ, musste er die Weltbank verlassen. Aufgrund der Aussagen von sechs Frauen wurde in der Weltbank intern gegen Rodrigo Chaves ermittelt: „Von 2008 bis 2013 hat er sich als Vorgesetzter unangemessen und unerwünscht verhalten“, wie es in dem Beschluss Nummer 649 des internen „World Bank Administrative Tribunal“ vom 7. Juni 2021 heißt, welches dem Autor vorliegt. Ausführlich werden in dem Dokument, aus dem mehrere costaricanische Zeitungen ausführlich zitiert haben, Vorwürfe sexuell motivierter Übergriffigkeit beschrieben. Junge Berufsanfängerinnen mussten sich jahrelang gegen den im Dokument als Herr C. formell anonymisierten männlichen Vorgesetzten verteidigen: Erzwungene Küsse auf den Mund, aufdringliche Einladungen zu Übernachtungen im Hotel usw. Die Angaben zur beruflichen Laufbahn lassen keinen Zweifel, dass es sich beim Herrn C. um Rodrigo Chaves handelt, schreibt etwa die größte costaricanische Tageszeitung „La Nación“, aber auch das „Wall Street Journal“, welches im Oktober 2021 zuerst aus dem internen Verfahren bei der Weltbank berichtete. Rodrigo Chaves hat auf die Enthüllungen im Stile Donald Trumps reagiert: Er beschimpfte die Zeitungen, ihn im Interesse einflussreicher Kreise der Elite zu verleumden. Nach Jair Bolsonaro in Brasilien und Nayib Bukele in El Salvador ein dritter rechtspopulistischer Präsident in Lateinamerika – ausgerechnet in dem Land mit den stärksten demokratischen Institutionen und ohne eine Armee, die für ihm Rückhalt geben könnte – dafür mit einer starken feministischen Bewegung. Mujeres en Acción beendete ihre Erklärung vor der Wahl mit den Worten: „Gewinne wer gewinne – wir sind im permanenten Alarmzustand!“

Abb. (PDF): Abb.: Eric Gaba (user Sting) for Wikimedia Commons using GEBCO_2021 Grid data