Politische Berichte Nr.2/2022 (PDF)30
Kalenderblat

29. Juni 1912, Schweden: Riksdagen veranschiedet das „1912 års lag“ – Arbeitsschutz wird Norm

01 Schwedische Arbeitsforschung
02 Regionale Arbeitsschutzbeauftragte

Das Jahr 1912 hatte für die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung Schwedens einiges aufzuweisen: Stockholm z.B. richtete die V. Olympischen Spiele der Neuzeit aus – die Organisation der Wettkämpfe und die Gestaltung der Sportanlagen wurden zum Vorbild für nachfolgende Veranstaltungen. Damals aktuelle internationale Konflikte konnten diplomatisch für den Verlauf der Spiele neutralisiert werden, das IOC hatte entschieden, dass Böhmen und Finnland nicht eigenständig einmarschieren durften, sondern sich hinter die Flaggen von Österreich und Russland einordnen mussten. Ebenfalls 1912 beschloss der schwedische Reichstag das Wahlrecht für Frauen. 1912 war das Gründungsjahr des Schwedischen Gewerkschaftsbundes (s.u.) und 1912 wurde vom Riksdagen das „1912 års lag“ – das „1912 Gesetz“ – verabschiedet: ein Gesetz über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.

Eva Detscher, Karlsruhe / Rolf Gehring, Brüssel

Schweden – ein spät industrialisiertes Land

„Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Schweden ein ausgeprägter Agrarstaat, in dem 90 % der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebte. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte eine umfassende Industrialisierung ein, die bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929 die Grundlagen für eine moderne Industriegesellschaft legte. Die Industrialisierung basierte anfänglich auf gutem Zugang zu Rohstoffen und der Verarbeitung dieser Ressourcen an Ort und Stelle (beispielsweise Eisenerz mit Hütten in Svealand, unendliche Wälder im Norden, einer Vielzahl an Sägewerken entlang der norrländischen Küste). Erst in den 1890er-Jahren bildete sich eine sehr fortschrittliche Werkstattindustrie, vor allem in Mittelschweden, heraus (beispielsweise Nobel AB, ASEA (heute ABB), Bahco, LM Ericsson, Alfa Laval, SKF).“ [1] Noch Anfang des 20. Jahrhunderts arbeiten über 50% in der Landwirtschaft – die Industrialisierung findet deutlich nach der englischen statt. Arbeitsschutz tritt eher spät auf den Plan, zuerst mit der Einschränkung der Kinderarbeit (1881), die Gewerbeaufsicht wird 1890 gegründet.

Auch die Gewerkschaften, die Mitte des 20. Jahrhunderts vereinzelt auftauchten, gründen erst 1898 die sogenannten „Landesorganisationen“ (LO).

Bitter verlorener Generalstreik 1909

Nach monatelangen Kämpfen gegen die schlechten Arbeitsbedingungen (insbesondere bei den Transportarbeitern) und für kürzere Arbeitszeiten, höhere Löhne und bessere Sozialleistungen antworteten die Arbeitgeber mit genereller Aussperrung und dem Einsatz von Streikbrechern, die sie in England rekrutiert hatten. Die Gewerkschaften antworteten auf den Generallockout mit dem Generalsstreik.

„Die Parole der Gewerkschaftsvorstände: ‚die Hände von der Arbeit‘ ist mit bewundernswürdiger Einmütigkeit aufgenommen worden. Von etwa 530 000 Arbeitern, die in Schwedens Industrie, Handel und Verkehr beschäftigt sind, befanden sich in den ersten Tagen nach der Proklamierung des Massenstreiks bereits 300 000 im Ausstand. Das sind viele Zehntausende mehr, als die dem Landessekretariat angegliederten Gewerkschaften umschließen, deren Gesamtmitgliederstand rund 162 000 beträgt, ja als in Schweden überhaupt gewerkschaftlich organisierte Arbeiter — 230 000 — gezählt werden. Die Losung der führenden zentralisierten Gewerkschaften hat also nicht nur alle Organisierten ohne Unterschied der Richtung ergriffen, sondern auch breite Massen der Unorganisierten gepackt, von denen sich täglich neue Scharen um das Banner des Streiks scharen. Und gerade diese Tatsache gehört zu den hervorstechendsten Zügen des Kampfes und wird von wesentlichem Einfluss auf seinen Ausgang sein. Ein Massenstreik, der mehr als ein Aufmarsch, eine drohende und warnende Schilderhebung sein soll, kann sich nicht auf die Kreise der Organisierten und Geschulten beschränken. Er muss über sie hinausgreifen, aber von ihnen — als den führenden Kerntruppen — Ziel, Richtung, Disziplin erhalten.“ [Clara Zetkin in 2] Leider konnte der Streik nicht erfolgreich geführt werden, unter anderem wegen Versiegens der Streikkasse.

„Nach dem verlorenen storstrejk 1909 hatte die LO ihre Politik zunächst defensiv ausgerichtet, um hauptsächlich ihre Mitgliederzahl zu stabilisieren und das bisher Erreichte durch Abkommen mit den Arbeitgebern zu verteidigen. Darüber hinaus intensivierte man die Zusammenarbeit mit verschiedenen Volksbewegungen, insbesondere mit der Konsumgenossenschaftsbewegung – sie breitete sich in dieser Zeit schnell aus – sowie der Wahlrechtsbewegung. Die Gewerkschaftsbewegung und die Sozialdemokratie hatten sich nach dem storstrejk 1909 dazu entschieden, ihren Fokus auf Reformen zu legen, so dass der Kampf um rechtliche Gleichstellung, konkret um das allgemeine und gleiche Wahlrecht, immer mehr ins Zentrum rückte. Ein partnerschaftliches Verhältnis von LO und Arbeitgebern schien die Kampfzeit der LO abgelöst zu haben. Auf ihrem Kongress 1912 beschloss die LO als Reaktion auf eine voranschreitende Industrialisierung ihre Einzelgewerkschaften zu Industriegewerkschaften umzuorganisieren.“ [3]

Das „1912 Gesetz“ über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz

„1912 verabschiedete das Parlament ein neues und strengeres Arbeitnehmerschutzgesetz, dessen Hauptziel darin bestand, Arbeitsunfälle zu verhindern. Mit diesem neuen Gesetz wurden die Schutzvorschriften verschärft und die Beauftragten für Sicherheit und Gesundheitsschutz eingeführt, die den Grundstein für unser heutiges System legten.

Das Gesetz gab den Arbeitnehmern das Recht, ihre eigenen Vertreter zu ernennen, obwohl der Begriff ‚Arbeitsschutzvertreter‘ erst 1938 eingeführt wurde. Diese Vertreter standen zunächst in keiner rechtlichen Beziehung zu den Gewerkschaften, was erst in den 1930er Jahren geschah. Als die ersten Vertreter gemäß den Rechtsvorschriften von 1912 ernannt wurden, waren die Gewerkschaften noch nicht stark genug und wurden von den Arbeitgebern heftig bekämpft.“ [5] Nach 1912 wuchs die Zahl der Arbeitsschutzvertreter, und ihre rechtliche Stellung und Absicherung gegen Benachteiligung im Betrieb wurde ausgebaut. Das Gesetz von 1912 galt nur für Teile des Wirtschaftslebens, z.B. nur für solche Landarbeiter, die Maschinen bedienten. Andere Gewerke (z.B.: Milk maids) blieben rechtlos. Aber ihre Funktion bewährte sich, ihre Arbeit wurde anerkannt, der Arbeitsschutz bekam mehr Aufmerksamkeit, auch Berufskrankheiten gerieten stärker in den Blick. Verschiedene Reformen stärken die Rolle der Sicherheitsbeauftragten. Mit einer weiteren Reform 1949 werden betriebliche Arbeitsschutzausschüsse eingeführt und die Funktion der regionalen, von der Gewerkschaften eingeführt. Die Auseinandersetzungen um den Arbeitsschutz und die direkte Beteiligung der Beschäftigten/Gewerkschaften waren auch eine wichtige Basis für das Satsjöbaden Agreement von 1935 (Schwedisches Modell), das den gesellschaftlichen Einfluss der Gewerkschaften stärkte und institutionalisierte. Der Staat muss sich raushalten, allein die beiden Seiten Arbeitgeber und Gewerkschaften handeln.

[1] Wikipedia – Schweden [2] Clara Zetkin in „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, Nr. 23, 16. August 1909 [3] Björn Brennecke: Die schwedische Gewerkschaftsbewegung und das Schwedische Modell, https://www.repo.uni-hannover.de/bitstream/handle/123456789/9166/1014413494.pdf?sequence=1 [4] https://data.riksdagen.se/fil/C64197BA-0C77-4E58-A718-4B0EB95B0E37, [5] Broschüre zu 100 Jahren Gesundheits- und Sicherheitsrepräsentation: herausgegeben von © 2012 The Swedish Trade Union Confederation (LO) ISBN 978-91-566-2801-6

Abb. (PDF): Plakatwerbung: „Denken sie daran, ihre Hände sind ihr wichtigstes Werkzeug. Eine verstümmelte Hand bedeutet einen verstümmelten Lohn. Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zahlen sich aus.“ So lautete der Slogan auf dem Plakat von 1954, das einem Mechaniker gezeigt wurde.

Abb. (PDF): Bildunterschrift: In der Vergangenheit war die Saisonarbeit der Kinder eine wichtige Ergänzung des Familieneinkommens. Das Foto zeigt junge Mädchen, die 1913 in Göteborg „Maibaumblüten“ herstellen. Die ersten Maiblumen wurden 1907 in Göteborg zu Gunsten von Tuberkulosekranken verkauft. Beda Hallberg war für diese Initiative verantwortlich, und die „mayday flowers“ verbreiteten sich schnell im ganzen Land und darüber hinaus. Heutzutage wird mit dem Verkauf von „mayday flowers“ ein Umsatz von rund 50 Millionen schwedischen Kronen erzielt, und der Verkauf erfolgt zu Gunsten der Bekämpfung der Kinderarmut

01

Schwedische Arbeitsforschung

Die Schwedischen Gewerkschaften und ihr Dachverband LO entwickelten relativ früh ein Interesse an Fragen der Arbeitsorganisation. Fragestellungen zur Arbeitsorganisation und zur Humanisierung der Arbeit wurden in den diversen Foren der Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern verhandelt, u.a. dem Entwicklungsrat für Zusammenarbeit, Ende der 1960er Jahre gegründet. Es war eine Organisation, die auf „Aktionsforschung“ ausgerichtet war. Die Inspiration kam aus Norwegen. Parallel zu Pilotaktivitäten fand eine breitere Debatte über Demokratie am Arbeitsplatz statt.

Vor diesem Hintergrund wurde 1977 durch das schwedische Parlament ein Institut für angewandte Forschung und Entwicklung im Bereich der Arbeit gegründet, das Swedish Center for Working Life (Arbedslivscentrum). Ausgangspunkt für das Institut sollte die Demokratisierung der Arbeit sein, auf die das Mitbestimmungsgesetz ausdrücklich abzielte. Die Parteien des Arbeitsmarktes sollten einen wesentlichen Einfluss auf die Aktivitäten des Instituts erhalten. Das Institut wuchs schnell und hatte in seiner Blütezeit etwa hundert Mitarbeiter. Drei Lehrstühle gab es von Beginn, einen für Arbeitsorganisation, Produktionsformen und Mitbestimmung, einen für Verwaltung und einen dritten für die Verwaltung des öffentlichen Sektors. Nicht nur in Fragen bezüglich der stofflichen Seite der Produktion und ihrer Weiterentwicklung (viele werden sich noch an die 18-Minuten-Takte bei der Autoproduktion von Volvo und ihre Wirkung auf die Diskussion um Gruppenarbeit in anderen Ländern erinnern) war das Institut ein Taktgeber, auch in Bereichen wie betrieblicher Prävention, sozialer Technikentwicklung, Ergonomie der Arbeitsabläufe, Gefährdungsbeurteilung oder für den Umgang mit psychosozialen Belastungen in der Arbeit. Hier hat das Institut immer wieder Impulse gesetzt und letztlich auch das europäische Konzept zum Arbeits- und Gesundheitsschutz beeinflusst.

Quelle: Report 2015:18 ENG Swedish Work Environment Research 2017–2027 – Swedish Work Environment Research 2017–2027 – Input to the Government’s Research Policy, report 2015:18 (av.se)

02

Regionale Arbeitsschutzbeauftragte

Schweden zählt bei etwa neun Millionen Einwohnern mehr als 100 000 Sicherheitsbeauftragte. Ein beeindruckendes System der Vertretung und Beteiligung im Bereich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz. Mehr als 1500 sind als regionale Sicherheitsbeauftragte tätig. Sie vertreten etwa 700 000 Arbeitnehmer in 160 000 Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten.

Es gibt also eine etablierte Kombination von betrieblichen Sicherheitsbeauftragten und Sicherheitsausschüssen auf der Ebene von Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten und auf einer zweiten Ebene von kleinen Betrieben ohne diese formalen Strukturen, die dann über die regionalen Sicherheitsbeauftragten betreut werden. Dabei wird auch die Größe des Landes eine Rolle spielen, in der es nicht so viele industrielle Ballungen, sondern vielfach weit verstreute kleine und mittlere Betriebe gibt. Das Ausbildungsniveau der schwedischen Sicherheits- und Gesundheitsschutzbeauftragten wird im europäischen Vergleich als sehr hoch beurteilt. Regionale Sicherheitsbeauftragten wurden mit dem Gesetz zum betrieblichen Arbeitsschutz eingeführt, das auch die Bildung von Arbeitsschutzausschüssen in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten vorsieht. Sie werden von der Gewerkschaft benannt und können Präventionsmaßnahmen in Betrieben initiieren, sofern mindestens ein Beschäftigter des Betriebs Gewerkschaftsmitglied ist. „Im Jahr 2003 besuchten die regionalen Sicherheitsbeauftragten etwa 65 000 kleine Arbeitsstätten, eine viel größere Zahl als die Arbeitsaufsichtsbehörde. Sie haben ihr Wissen z. B. über die Methoden der Gefährdungsbeurteilung verbreitet und die Eigentümer von Kleinbetrieben davon überzeugt, diese anzuwenden.“ Die Arbeit der regionalen Sicherheitsbeauftragten wird teils durch die Gewerkschaften und teils durch die Regierung finanziert.

Quelle: A Survey of Swedish Work Environmental and Occupational Research during the Twentieth Century: Jan Johansson; in Human Factors and Ergonomics in Manufacturing, Vol. 9 (4) 343–356 (1999)

Abb. (PDF): Logo des Arbeitsschutzes