Politische Berichte Nr.4/2022 (PDF)02a
Blick auf die Medien

Auch nach Johnson wird das Programm fortgesetzt

Eva Detscher, Karlsruhe. Premierminister Ihrer Majestät des Vereinigten Königreichs kann nur der Chef der Partei werden, die im britischen Parlament die Mehrheit hat. Seit 2010 ist dies die Conservative and Unionist Party, die Tories. 2019 erzielte Boris Johnson für diese Partei den besten Wahlerfolg seit 1987. Sein Rücktritt am 21. Juli 2022 und sein Ersatz durch Neuwahl eines Vorsitzenden der Tories ohne nationale Neuwahlen des Parlaments insgesamt, ermöglicht dieser Partei das Regieren bis Ende 2024. Bei örtlichen Wahlen 2020 und 2021 hatten die Tories nämlich schlecht ausgesehen.

Die absolute Mehrheit im Unterhaus hat Johnson zu nicht geringen Teilen seinem zur Schau gestellten Habitus des „Kämpfers gegen das Establishment“ zu verdanken, und er nutzte sie dafür, nach dem Motto zu regieren: Wir können tun und lassen, was wir wollen. Erst mal an der Macht, dann machen wir, was wir wollen. Johnson wird oft als Clown bezeichnet, das trifft es aber nicht, das Programm ist ernst! Sein Stil allerdings erlaubt es den Tories, einen Austausch nach erfolgreicher Mission populär durchzuführen.

Die ungeschriebenen Regeln in der Konstruktion der britischen Demokratie verlangen, dass Premier nur werden kann, wer einen Sitz im Unterhaus hat. Es sollte eine Person sein, die sich dem „Prinzip des guten Burschen“ (good-chap theory) verpflichtet fühlt, es schätzt und nicht untergräbt (1). Vom ersten Tag an hat Johnson mit Unterstützung der Mehrheit seiner Partei dieses Prinzip ausgehöhlt. Er ist – damals noch mit Unterstützung von Dominic Cummings, der zwar in Ungnade gefallen, aber mehr denn je politischen Einfluss nimmt und Kräfte um sich schart – angetreten, die britischen Institutionen und damit die Gesellschaft umzubauen. Es ging gleich los mit dem Versuch im September 2019, das Unterhaus zu suspendieren. Das Oberste Gericht (High Court) hat es ihm verhagelt und als Rechtsbruch bezeichnet. In der Folge kamen „die vielen Kampagnen gegen die BBC und Teile der Verwaltungsspitzen“ (2) und zuletzt das Gesetz zur Überprüfung von Regierungstätigkeit durch Gerichte („Judicial Review and Courts Act 2022“): „Zwei Eingriffe enthielt er, (der Gesetzentwurf Anm. d.Verf.) einen, um der Regierung die Korrektur ihres rechtswidrigen Tuns zu erlauben, bevor das Gericht interveniert, den anderen, um den Instanzenzug in einem Teil des englischen Gerichtswesens ein Stück weit einzuschränken. Auf dem Weg zu dem Ziel, die Fesseln der justiziellen Kontrolle von Regierungshandeln zu lockern bzw. abzustreifen, war dies allenfalls ein kleiner Schritt.“ (3) … dennoch große Wirkung, weil es an dem Grundkonsens und den Konventionen nagt. Johnson zieht daher Bilanz: „Wir haben unsere Demokratie umgebaut und unsere Unabhängigkeit wiederhergestellt.“ Mission erfüllt! Es sind Trümmer, die er hinterlässt: „… dramatische(n) Ausdünnung des öffentlichen Dienstes, des Gesundheitsdienst NHS über die Jugend- und Sozialarbeit bis hin zur Polizei; (die) gravierenden Brexit-Folgen mit Blick auf die Abwanderung europäischer Arbeitskräfte und zeitweilige Versorgungsengpässe; von der schlechten Vorbereitung auf die Covid-Pandemie, der in Großbritannien 200 000 Menschen zum Opfer fielen.“ (2), von der akuten Notlage der Armen gar nicht zu reden.

Am 5. September wird Johnsons Nachfolge bekanntgegeben, bis dahin bleibt er im Amt. Die Tory-Fraktion im Unterhaus hat aus elf zwei Bewerber ausgewählt, über die alle Parteimitglieder in einer Stichwahl entscheiden werden. Eine offizielle Zahl der wahlberechtigten Tories gibt es nicht, es wird von etwa 180 000 ausgegangen. Ex-Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss sind im Rennen. Florian Weis schreibt dazu: „Liz Truss wird dabei von einem Teil des rechten Parteiflügels und von denjenigen Johnson-Loyalisten, die „jede/n außer Rishi“ wünschen, unterstützt. Im Unterschied zu Truss und mehr noch zu Johnson tritt Sunak, der den Brexit frühzeitig unterstützt hat, seriöser und verbindlicher auf. Andererseits kann Sunak sich so auch als seriöser Finanzpolitiker gegenüber Truss profilieren, die er als ökonomische Märchenerzählerin angreift, die absurde Steuersenkungsversprechungen mache.“ Nach dem ersten Fernsehduell fragte die FAZ: „Und die beiden sind in einer Partei?“ (4) Der Verteidigungsminister Ben Wallace plädiert für Truss, weil sie erfahren sei in der Auslandspolitik. Innenpolitisch hat sie kulturkämpferisch dem Minderheitenschutz (wokeness) den Kampf angesagt, sich gegen single sex toilets in den Schulen ausgesprochen, gegen Schulschließungen positioniert. Sunak versucht mit den Idealen zu punkten, die seiner Familie aus armen Einwanderern verholfen haben, zu wohlhabenden Bürgern zu werden, betont dabei die Wichtigkeit von guten Schulen für alle (Wiedereinführung der Grammar Schools). Wem die Mehrheit der Tory-Mitglieder folgen will, ist offen.

(1) FAZ 7.7.2022, Gina Thomas, „Der Clown tritt ab“

(2) RLS-Nachricht 22.7.2022, Florian Weis, „Abgang eines Clowns im Sommer der Unzufriedenheit“ https://www.rosalux.de/news/id/46799/abgang-eines-clowns-im-sommer-der-unzufriedenheit

(3) Verfassungsblog, 4.9.2021, „Lean Authoritarianism“. Über justizielle Kontrolle und inkrementelle Verfassungsklempnerei

(4) FAZ 27.7.2022, Jochen Buchsteiner

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