Politische Berichte Nr.4/2022 (PDF)03a
Blick auf die Medien

EUGH: Österreich diskriminiert bei Kindergeld und Familienleistungen

Rolf Gehring, Brüssel. Im Juli 2020 reichte die Europäische Kommission eine Klage gegen Österreich ein, um die Arbeitnehmerfreizügigkeit und eine nicht diskriminierende Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme nach europäischem Recht durchzusetzen. Sie beantragte, der Gerichtshof möge: „feststellen, dass die Republik Österreich durch die Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag für Erwerbstätige, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtung aus Artikel 7 und Artikel 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme – rog) sowie gegen ihre Verpflichtung aus Artikel 4 der Verordnung Nr. 492/2022 (Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Union – rog) verstoßen hat“.

Österreich führte im Januar 2019 einen Anpassungsmechanismus für die Berechnung der Pauschalbeträge der Familienbeihilfe und diverser Steuervergünstigungen (Kinderabsetzbetrag, Familienbonus Plus, Alleinverdiener-Absetzbetrag, Alleinerzieherabsetzbetrag, Unterhaltsabsetzbetrag) für Erwerbstätigen, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Die Anpassung kann sowohl nach oben als auch nach unten erfolgen und richtet sich nach dem allgemeinen Preisniveau im betreffenden Mitgliedstaat.

Der europäische Gerichtshof stellt in seinem Urteil vom 16. Juni zunächst fest, dass die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag, die Gegenstand der Klage sind, Leistungen im Sinne der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sind. Eine Differenzierung aufgrund der Tatsache, dass Familienangehörige in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnen, ist nicht gestattet. Mit Bezug auf die verschiedenen Steuervergünstigungen weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach dem Unionsrecht im Bereich der sozialen Sicherheit jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit von Wanderarbeitnehmern rechtswidrig ist. Der Gerichtshof argumentiert dann mit der sozialen Realität, dass nämlich insbesondere Wanderarbeitnehmer betroffen sind, da ihre Kinder oft in einem anderen Land leben. Betroffene Wanderarbeitnehmer kommen wesentlich aus Staaten mit niedrigeren Lebenshaltungskosten als in Österreich, womit die Schlechterstellung begründet wird. Darin sieht das Gericht eine ungerechtfertigte mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Der Wanderarbeitnehmer ist nämlich in gleicher Weise wie ein inländischer Arbeitnehmer an der Festsetzung und Finanzierung der Beiträge beteiligt, die der Familienbeihilfe und den Steuervergünstigungen zugrunde liegen. Daher verstoße die streitige österreichische Regelung auch gegen die Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union.

Urteil: https://curia.europa.eu/juris/documents.jsf?num=C-328/20