Politische Berichte Nr.5/2022 (PDF)30
Kalenderblat

3. Juni, 1890, Polen, Gründung der ersten Wohnungsbaugenossenschaft in Bydgoszczy

Polnische Wohnungsgenossenschaften – von der Idee bis zur Verwaltung der Mittel – Entstehung der Genossenschaftsbewegung unter den Bedingungen der Nichtunabhängigkeit

Jakub Kus, Warschau *

Die organisierte genossenschaftliche Tätigkeit entstand in Polen ähnlich wie in anderen europäischen Ländern und in den USA im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Ihre Gründer beriefen sich in der Regel auf die damals gängigen ideologischen Strömungen: Sozialismus, Liberalismus und christliche Solidarität. Die Ideen von Utopisten hatten einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Genossenschaften, beispielhaft seien hier Charles Fourier (Phalansterie – imaginierte harmonische Gemeinschaftsorganisation), Robert Owen (New Harmony – utopisch genossenschaftlich konzipierte Kolonie von kurzer Lebensdauer) sowie Ebenezer Howard (Gartenstädte mit sozialreformerischem Konzept als Stadt in der Landschaft) genannt. In Polen war der wichtigste Vorläufer der Genossenschaften bereits im Jahr 1816. Stanisław Staszic, Gründer einer „Landwirtschaftlichen Gesellschaft für das gemeinsame Sparen im Unglück“ in Hrubieszów in der Wolwodschaft Lublin.

Auf polnischem Boden unter den Bedingungen der Nichtunabhängigkeit bzw. faktischen Nichtexistenz eines polnischen Staatese entwickelte sich die genossenschaftliche Tätigkeit in unterschiedlicher Weise: je nach der Gesetzeslage in den drei Teilstaaten, die von den Großmächten Russland, Preußen und Österreich beherrscht waren. Neben vielen anderen Genossenschaftstypen wurden vor allem die Volksbanken Großpolen – unter deutscher Verwaltung (seit 1861), die Lebensmittelgenossenschaften Königreich Polen – unter russischer Verwaltung (seit 1869) oder die Spargenossenschaften Kasy Stefczyka in Galizien – unter österreichischer Verwaltung (seit 1891) bekannt. Die ersten Arbeits- (1872), Molkerei- (1882) und Wohnungsbaugenossenschaften (1890) wurden gegründet.

Die ersten Wohnungsbaugenossenschaften wurden in den von Deutschland besetzten Gebieten Polens gegründet, die erste war die 1890 gegründete Wohnungsbaugenossenschaft in Bydgoszcz – Spółdzielnia Mieszkaniowa –, die bis heute besteht. In Wielkopolska wurde zu dieser Zeit auch die Genossenschaft Towarzystwo Pomoc – Spółka Budowlana – eine Baugenossenschaft – gegründet. Zwischen 1902 und 1908 wurden in Toruń, Chorzów, Bydgoszcz, Gniezno, Grudziądz, Inowrocław, Bielsko und Katowice Wohnungsbaugenossenschaften als Mietwohnungsbaugenossenschaften gegründet, die sich mit dem Bau von Mehrfamilienhäusern befassten. Interessanterweise erfüllten die Genossenschaften in den unter deutscher Verwaltung stehenden Gebieten nicht nur wirtschaftliche und soziale Aufgaben, sondern stellten auch eine Form der Selbstorganisation der polnischen Gesellschaft dar, die sich der Germanisierungspolitik und der wirtschaftlichen Expansion des Deutschen Reiches in diesen Gebieten entgegenstellte, insbesondere während der Regierungszeit von Bismack, Caprivi und Bülow.

Entwicklung im wieder unabhängigen Polen

Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens im Jahr 1918 engagierten sich linke und christliche politische Strömungen für die Entwicklung der Genossenschaften. Dies wurde vor allem durch die Verabschiedung des Genossenschaftsgesetzes am 29. Oktober 1920 beeinflusst. Dieses Gesetz sieht zwei Modelle für die Funktionsweise von Wohnungsgenossenschaften vor: mieter- und eigentumsbasiert. Die Eigentumsgenossenschaften, in denen sich hohe Beamte, Kaufleute und Militärs zusammenschlossen, waren weiter entwickelt, aber am spektakulärsten waren die Initiativen zur Lösung des Wohnungsproblems der ärmeren Bevölkerung.

Man schätzt, dass vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jeder fünfte Bürger Polens Mitglied einer Genossenschaft war. Die damals sehr aktiven Wohnungsbaugenossenschaften prägten die neu errichteten Stadtteile in Warschau, Krakau und Gdingen und setzten oft ein ehrgeiziges Sozialprogramm um.

Die 1922 gegründete Warschauer Wohnungsbaugenossenschaft (WSM) im Stadtteil Żoliborz ist in die polnische Wohnungsbaugeschichte prägend eingegangen. Sie wurde von den linkssozialistischen Aktivisten Jan Hempel, Maria Orsetti, Stanisław Tołwiński, Stanisław Szwalbe und Bolesław Bierut (nach dem Zweiten Weltkrieg stalinistischer Präsident Polens, Ministerpräsident und Generalsekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei) gegründet. Parallel dazu wurde ein genossenschaftliches Sozialbauunternehmen gegründet, das 1929 allein in Warschau über 1500 Arbeiter beschäftigte und auch in Krakau und Gdynia Genossenschaftswohnungen baute. In der Satzung des WSM sind seine Ziele festgelegt: „Bereitstellung und Vermietung von preiswertem und gesundem Wohnraum an die Mitglieder. Der Wohnraum wird in kollektiver Selbsthilfe mit Unterstützung staatlicher und kommunaler Einrichtungen gebaut, um die kulturellen Bedürfnisse der Mitglieder mit gemeinsamen Anstrengungen zu erfüllen.“ Mitglieder einer Genossenschaft können nur Personen sein, die ihren Lebensunterhalt mit ihrer eigenen Arbeit verdienen. Die (kleinen) Wohnungen mussten mit Wasser, Strom, Gas und Toiletten ausgestattet sein, was damals noch nicht zum Standard gehörte. Bäder, Genossenschaftsläden und Kindergärten in jedem Gebäude waren üblich. Von 1925 bis 1938 baute die Genossenschaft acht große Kolonien mit mehreren Wohnungen, hauptsächlich für Arbeiterfamilien, Gemeinschaftszentren, Sportvereinen, Theatern und Schlafsälen für die Arbeiter. Die Wohnsiedlungen wurden von renommierten Architekten entworfen und sind immer noch ein Beispiel für gute Stadtplanung. Es wurde ein gut funktionierendes städtisches kulturelles und soziales Umfeld geschaffen, das viele Jahre lang sein Hauptziel nicht aus den Augen verlor: die Bereitstellung von qualitativ hochwertigem Wohnraum für arme Familien aus der Arbeiterklasse. Die Geschäftstätigkeit der Genossenschaft wurden ausgesetzt, als sie 1940 von den deutschen Besatzungsbehörden beschlagnahmt wurden. Nach dem Ende des Krieges nahm die Genossenschaft ihre Tätigkeit wieder auf und wurde zur größten Wohnanlage dieser Art in Polen.

Ab 1926 war in Warschau auch die Wohnungsbaugenossenschaft „Zdobycz Robotnicza“ („Eroberung durch die Arbeiter“) tätig, die mit christlich-demokratischen Arbeiterorganisationen verbunden war und Einfamilienhäuser baute. Der Bau wurde teilweise nach dem so genannten wirtschaftlichen System durchgeführt. Ein Teil der Arbeiten wurde von den Genossenschaftsmitgliedern selbst durchgeführt, die für ihre Arbeit eine Teilvergütung erhielten und den Rest von ihrer Miete oder ihrem Kredit abziehen durften. Die Genossenschaft ging 1931 in Konkurs, aber ihre Gebäude sind bis heute eine der schönsten Wohngegenden Warschaus.

Nach 1945 wurden die genossenschaftlichen Tätigkeiten in Polen der staatlichen Politik untergeordnet. Dies bedeutete Verstaatlichungs-, Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozesse, obwohl die formale Kontrolle durch die Bewohner ausgeübt wurde und die soziale und kulturelle Tätigkeit der Genossenschaften weitgehend erhalten blieben.

Der genossenschaftliche Wohnungsbau dominierte lange Zeit den Mehrfamilienhausbau. Im Jahr 2000 erreichte die Zahl der Genossenschaftswohnungen 3,4 Millionen (29 % aller Wohnungen in Polen). Seitdem ist die Zahl der Genossenschaftswohnungen rückläufig. Nach dem Inkrafttreten der Rechtsvorschriften, die den Erwerb von Genossenschaftswohnungen zu Preisen ermöglichen, die den Anstieg des Marktwerts der Wohnung seit dem Bau im Jahr 2016 nicht berücksichtigen, belief sich der Bestand an Genossenschaftswohnungen bereits auf nur noch rund zwei Millionen Wohnungen. Allerdings haben die Regeln für die genossenschaftliche Verwaltung auch andere Formen des Mehrfamilienhausbaus erfasst. Die Wohnungsbaugenossenschaften selbst beschränken sich heute im Wesentlichen auf die Verwaltung des vorhandenen Bestands. Es bleibt die Frage offen, ob eine Rückkehr zur Masseninvestitionstätigkeit der Wohnungsbaugenossenschaften und zur sozialen Dimension der genossenschaftlichen Tätigkeit – wie in den Jahren des 20. Jahrhunderts möglich und gewollt ist.

* Übersetzung per Deepl.com und Anpassung und Illustration durch Eva Detscher, Karlsruhe und Rolf Gehring, Brüssel; mit Rückgriff auf Quellen: https://educalingo.com/de/dic-fr/phalanstere, https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Owen. https://de.wikipedia.org/wiki/Ebenezer_Howard

Abb. (PDF): Gebäude der Wohnungsgenossenschaft in der Cieszkowskiego-Straße 13 und 15, Bydgoszczy („Bromberg“). 33 Mietshäuser wurden zwischen 1890 und 1914 gebaut, heute verwaltet die Baugenossenschaft noch 28 davon. Teilweise sind Gebäude in städtischen Besitz übergegangen, wo sie als öffentliche Gebäude genutzt werden. Quelle: Webseite dieser Baugenossenschaft: https://www.bsm.bydgoszcz.pl/historia-bydgoskiej-spoldzielni-mieszkaniowej/)

Abb. (PDF): Die Siedlung der Warschauer Wohnungsgenossenschaft um 1960. Die verschiedenen Bewegungen für einen sozialen Wohnungsbau, die um die Wende vom 18ten zum 19ten Jahrhundert entstanden, wollten Licht in die Wohnung bringen und sanitäre Bedingungen verbessern. Mit den Siedlungen entstanden aber immer auch soziale und öffentliche Räume, die durch Präsenz ausgefüllt und gewissermaßen signiert werden, die Begegnung, Austausch ermöglichen.

Abb. (PDF): Der Ökonom Werner Sombart kam aufgrund seiner Beobachtungen der Wirtschaftstätigkeit zu dem Schluss, dass neben privatem und öffentlichem Wirtschaftshandeln die Genossenschaften ein dritter Faktor im ökonomischen Geschehen sind. Das Faksimile aus einem sozialistischen Periodika der Bauarbeiter zeigt einen Bericht über die Aktivitäten der Wohnungsbaugenossenschaften. Tatsächlich haben viele der polnischen Genossenschaften im Rahmen der verschiedenen politischen Systeme, ihren ökonomischen Vorstellungen und strikten Vorgaben überlebt, manche bis heute.

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Fortbestand der Genossenschaften in die Republik Polen

Eva Detscher, Karlsruhe. Polens territoriale Integrität ist im Lauf der letzten Jahrhunderte auf vielfältige Weise verletzt worden. „Polen war als selbständiger Staat 121 Jahre lang von der Bildfläche verschwunden.“ (*) Die Gründung der Genossenschaften fällt in die Zeit der Aufteilung unter Preußen (Deutschland nach 1871), Österreich und Russland, daher auch die Bemerkung im nebenstehenden Artikel, dass sich die Genossenschaftsbewegung in unterschiedlicher Weise entwickelt hat. Es gelang die Gründung der polnischen Republik 1918, und ein wesentlicher Schritt dafür war die Einführung einer polnischen Währung. Dies ist Thema von O. Lehning 1923. „Der erste und wichtigste Erlass … war die Verordnung zur Errichtung einer polnischen Landesdarlehenskasse vom 13. 12. 1916“, die es im weiteren Verlauf auch den Genossenschaften ermöglichte, ihre wirtschaftliche Tätigkeit unter den neuen Bedingungen aufrechtzuerhalten. „Am Ende des 19. Jahrhunderts betrachtete man Polen als eine Nation, die niemals mehr in der Lage sein würde, einen Staat aufzubauen, und zu wenig Bedeutung maß man der aufbauenden Kraft des geistigen Lebens der Polen bei. Wenn auch die Teilgebiete notgedrungen eine verschiedene Entwicklung durchmachten, so durfte doch die wirtschaftliche Organisationskraft der Polen, die besonders von der polnischen Emigration ausging, nicht unterschätzt werden.“ Die abwertenden Urteile über die „slawischen“ Völker, die damals bis in linke Kreise hinein gepflegt wurden, werden durch die Behandlung sachlicher Fragen irrelevant – Polen als ein souveräner Staat unter anderen nicht in Frage gestellt. Mit dem vergleichenden Blick auf den gesamten Wirtschaftsraum von Polen bis Estland werden die Besonderheiten deutlich. Genossenschaften als Wirtschaftsfaktor (vor allem in der Landwirtschaft) spielen in allen diesen Ländern eine Rolle. „Lehrreich und reizvoll zugleich ist es, zu verfolgen, wie hier auf durch den Weltkrieg aufs schwerste erschüttertem Boden sich selbständige Wirtschaftsgebiete bilden und neue Währungs- und Wirtschaftsformen entstehen.“

(*) alle Zitate aus Dr. O. Lehnich: Währung und Wirtschaft in Polen, Litauen, Lettland und Estland. Berlin, Verlag von R. L. Prager 1923