Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)04
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Streikwelle im Vereinigten Königreich

Eva Detscher, Karlsruhe

Die enttäuschten Hoffnungen auf die Segnungen des Brexits sind Teil der Verzweiflung, die in der massiven Streikbewegung im Vereinigten Königreich zum Ausdruck kommt. Kein Aufleben der Wirtschaft durch die Abkopplung von der EU; keine Kontrolle über nichtlegale Zuwanderung; Menschen, die aufgrund der Freizügigkeit in der EU gekommen waren, um im Vereinigten Königreich zu arbeiten, fehlen überall; Inflation im zweistelligen Bereich, hohe Zinsen, steigende Steuern – und die größte Welle von Arbeitskampfmaßnahmen seit dem Beginn der Thatcher-Ära (am 4. Mai 1979 wurde Margaret Thatcher Premierministerin).

Seit mindestens zehn Jahren stagnieren die Reallöhne, der reale Lebensstandard bricht für viele Arbeitnehmer ein. Wohnen, Essen, Energie, Heizung – für viele inzwischen nicht mehr bezahlbar. Die öffentlichen Dienste sind in denkbar schlechtem Zustand, die tatsächlichen Investitionen in Bahn, Bus, Post, Schulen und Gesundheitswesen brechen zusammen. Allein dem staatlichen Gesundheitsdienst NHS fehlen 40 000 Pflegekräfte, die Krankenhäuser sind überfüllt, Krankenwagen müssen stundenlang warten, Termine für Untersuchungen gibt es mit großen Verzögerungen. Dass es lang gehen kann, bis es einen Arzttermin gibt, war für viele Bürger des UK eigentlich immer akzeptiert. Der Stolz auf das NHS und das damit einhergehende Recht auf Gesundheitsversorgung haben eine gewisse Bescheidenheit bei den Ansprüchen zur Folge gehabt. Die Menschen sehen derzeit aber ganz genau, welchen Belastungen „ihr“ Gesundheitspersonal ausgesetzt ist, von daher verwundert es nicht, dass die Streiks in diesem Bereich auf eine große öffentliche Unterstützung stoßen.

Auch der größte koordinierte Streik seit zehn Jahren am 1. Februar 2023 hatte große öffentliche Zustimmung: Lehrer, Lokführer, Grenzbeamte, Lokführer, Hochschuldozenten und Regierungsmitarbeiter, Busfahrer und Teile der Sicherheitskräfte sowie andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes – mehr als eine halbe Million waren dabei! Die Regierung Sunak will hart bleiben, die Streiks werden weitergehen.

Enttäuschung setzt die Täuschung voraus. Der dritte Jahrestag des Brexits am 31. Januar ging still vorüber

Die wirtschaftliche und soziale Situation in UK ist keine lineare oder direkte oder kausale Folge des Brexits, die Loslösung von EU hat aber auch nicht geholfen, die jetzt vorhandenen Probleme zu vermeiden. Dazu kommt, dass das jahrelange bitterböse Gezerre um den Brexit, die verlogenen Argumentationen der Befürworter, ihre Nachwirkungen in der Lähmung der politischen Akteure zeitigt: die Tories mit Sunak als Premierminister ist in Fraktionen zerrissen (fünf Minister hat er in seinen hundert Tagen Amtszeit schon verloren), was entschlossenes Handeln auf fast allen Sektoren vereitelt. Sie wollen und können nicht den Zusammenhang zum Brexit ziehen, obwohl diese Fehlentscheidung die Weichen falsch gestellt hatte.

Für die oppositionelle Labour-Party stellt es sich ähnlich, da sie in den Startlöchern sitzt, die konservative Regierung abzulösen. Keir Starmer formuliert die Botschaft seiner Partei als „Making Brexit Work“, nachdem er 2019 die Wahl gegen den Tory- Slogan „Get Brexit Done“ verloren hatte. Labour macht im Wesentlichen aktuell keine konstruktiven Vorschläge (so etwa nach dem Motto, die haben die Suppe eingebrockt, jetzt sollen sie sie auch allein auslöffeln). Kritiker bemängeln, dass sie leider nicht ausdrücklich genug hinter den Streikenden und für das Streikrecht stehen.

Das Streikrecht an sich steht nämlich gegenwärtig auf dem Spiel: Die Regierung hat am 5.1.23 einen Gesetzentwurf über Verkehrsstreiks (Mindestdienstleistungen) ins Parlament eingebracht, der das Streikrecht massiv aushöhlt. (Siehe auch den Bericht der Gewerkschaft Verdi auf Seite 18 dieser Ausgabe). Die Eisenbahner und ihre Aktionen würden das Land erpressen. Dafür könne es kein Streikrecht geben.

Die Regierung hat bereits zugelassen, dass Unternehmen Leiharbeitskräfte beschäftigen (sofern sie sie auf dem Arbeitsmarkt finden!) und dass die Gewerkschaften hohe Abstimmungsquoten erreichen müssen, um einen Streik durchzuführen. Derzeit gilt diese Gesetzgebung nur für den Verkehrssektor, aber die Regierung hat mehrfach angedeutet, dass sie ein Paket von Gewerkschaftsreformen einführen wird, das alle „kritischen“ Dienste einschließt. Dazu können das Gesundheits- und Bildungswesen, die Postdienste und die Kommunikation gehören.

Dieser Gesetzentwurf wurde ursprünglich von Grant Shapps, dem damaligen Verkehrsminister, eingebracht. Inzwischen ist das Gesetz dem Ministerium für Wirtschaft, Energie und Industriestrategie übertragen worden, und der zuständige Minister dieses Ministeriums ist kein anderer als Grant Shapps. Es liegt also die Vermutung nahe, dass die Regierung nun versuchen wird, diese Rechtsvorschriften auch in anderen „kritischen“ Bereichen der Wirtschaft einzuführen. (aus: Pete Whitelegg: The Force Labour Bill).

Und täglich grüßt das Murmeltier – namens Johnson

Zum Helden des Tages möchte sich wieder mal Boris Johnson machen, der seine politischen Memoiren beim renommierten Verlag Harper Collins herausgeben wird, um – so die Vermutung – als erneuter Retter in der Not für das Land und die Tory-Partei (in Umfragen derzeit weit hinter Labour) in Erscheinung zu treten. Im Video vom 31.1.23: „Lassen Sie uns all diese Negativität und Schwarzmalerei, die ich über den Brexit höre, beiseiteschieben. Erinnern wir uns an die Chancen, die vor uns liegen, und die Einführung des Impfstoffs beweist das.“ Das Beweisargument fällt in sich zusammen, da auch eine Mitgliedschaft in der EU diese Einführung erlaubt hätte!

Die „New York Times“ hat am 31. Januar folgende Einschätzung wiedergegeben: „Wir haben zwar keine Verrückten mehr, die die Anstalt leiten, aber wir haben im Grunde eine lahme Regierung, die nicht den Anschein eines Plans zur Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums hat“, sagte Jonathan Portes, Wirtschaftsprofessor am King‘s College London.

Sogar die (verhalten optimistische) Wachstumsprognose des IWF löste in den sozialen Medien einen Sturm von Kommentaren darüber aus, ob sie der Sache der „Remainer“ helfen oder die Brexit-Debatte neu entfachen würde. Die Einschätzung des IWF war trotz der Vorhersage einer Schrumpfung im Jahr 2023 nicht völlig düster. Großbritannien sei im vergangenen Jahr schneller gewachsen als Deutschland oder Frankreich. Wenn sich die Inflation abkühlt und die Belastung durch höhere Steuern nachlässt, dürfte Großbritannien 2024 zu einem bescheidenen Wachstum zurückkehren, so der Internationale Währungsfonds. „Jede kohärente Strategie erfordert (aber) eine Reparatur der wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa, und das wird von der politischen Dynamik abhängen.“

Quellen: Institute of Employment rights: https://labouraffairs.com/2022/12/02/are-strikes-being-banned/; https://www.ier.org.uk/news/public-support-for-unions-rises-as-500000-take-strike-action/; New York Times, 31.1.23: https://www.nytimes.com/2023/01/31/world/europe/brexit-third-anniversary-uk-eu.html