Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)05
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Frankreich: Länger arbeiten? C’est NON!

Matthias Paykowski. Karlsruhe.

Im Januar hat die französische Regierung ihren aktuellen Entwurf zur Reform des Rentensystems vorgestellt. Der erste 2019 sah eine Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre vor, war nach heftigen Protesten der Gewerkschaften und mit dem Beginn der Corona-Pandemie zurückgezogen worden. Macron hatte aber bei der Präsidentschaftswahl 2022 angekündigt, dass er an einer Rentenreform festhalten will. Da seine Regierungspartei nach den letzten Wahlen nicht mehr über die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt, haben sich allerdings die Parameter geändert.

2019 war beabsichtigt neben der Erhöhung des Rentenalters auch die 42 verschiedenen Rentenkassen in einer einzigen zusammenzufassen. Damit sollten eine Reihe von Sonderregelungen – die „Regimes speciaux“ – fallen, die insbesondere in staatlichen Institutionen und Betrieben gelten: z.B. bei Polizisten, Beschäftigten der Bahn oder Lehrern. Über hundert Berufsgruppen können schon Jahre vor dem gesetzlichen Rentenalter in Pension gehen.

Für einige Berufsgruppen sollen auch in dem aktuellen Entwurf der Regierung weiterhin Sonderregelungen aufrechterhalten werden, etwa für die Tänzer der Pariser Oper oder für Polizisten. Neben diesen „Regimes speciaux“ beinhaltet das französische Arbeitsrecht einige weitere interessante Regelungen, die auf den Rentenbeginn wirken können – unabhängig von gesetzlichen Regelungen wie z.B. eine Frühverrentung aufgrund von Behinderungen.

Entspricht die Arbeit einem von sechs anerkannten Kriterien – extreme Temperatur, Lärm, Druck, Nachtarbeit bzw. Arbeit in aufeinanderfolgenden Wechselschichten oder monotone Arbeit – können Punkte auf ein berufliches Präventionskonto (C2P) erworben und in Rentenquartale umgewandelt werden. Die Beschäftigten können diese nutzen für einen beruflichen Übergang, für Teilzeitarbeit am Ende der Laufbahn bzw. des Arbeitslebens oder für einen vorzeitigen Renteneintritt (maximal zwei Jahre vor dem gesetzlichen Rentenalter). Die Wirkung dieser Kriterien ist allerdings sehr begrenzt, nur wenige Berechtigte können praktisch davon Gebrauch machen.

Die Kernpunkte der von der Regierung vorgelegten Rentenreform sind eine schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre bis 2030 sowie die Erhöhung der Beitragszeiten. Wer abschlagsfrei in Rente gehen will, muss ab 2027 mindestens 43 Jahre lang Beiträge eingezahlt haben (aktuell 41,5 Jahre). Die Mindestrente soll auf 85 % des Mindestlohns angehoben werden, auf 1200 Euro – bei vollständigen Beitragszeiten. Für alle Änderungen sind Übergangsfristen vorgesehen. Auf einer Erhöhung der Mindestrente hatten die Republikaner (LR) bestanden, die die Regierung für eine Mehrheit in der Nationalversammlung braucht. Auch bei der Elternzeit legt die Regierung auf Druck von LR nach. Für Erziehungszeiten sollen künftig bis zu vier Trimester auf die Rente angerechnet werden. Und wer in früher Jugend zu arbeiten begonnen hat, soll schon vor Erreichen der Altersgrenze in die Rente gehen können: Wer vor dem 20. Lebensjahr zu arbeiten angefangen hat, muss nicht bis 64 Jahre arbeiten. Wer seit seinem 16. Lebensjahr ununterbrochen gearbeitet kann, kann weiterhin mit 60 Jahren in Rente gehen.

Ob die Mehrheit zustande kommt, ist dennoch nicht sicher. Die Regierung könnte auf den Paragrafen 49.3 der Verfassung zurückgreifen. Damit kann sie eine Gesetzesvorlage ohne Abstimmung für angenommen erklären. Das wurde zuletzt im Dezember 2022 bei der Verabschiedung des Haushalts so praktiziert. 49.3 soll eine Blockade der Regierungstätigkeit verhindern und darf für eine begrenzte Anzahl von Gesetzesvorhaben angewendet werden. Außerdem versucht Macron die Parteien unter Druck zu setzen, indem er eine eventuelle Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen ins Spiel bringt.

Die Gewerkschaften mobilisieren – das erste Mal seit vielen Jahren wieder gemeinsam – gegen die Pläne der Regierung Borne und melden beeindruckende Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen. Die Streiks legen weite Teile des öffentlichen Lebens still, insbesondere öffentliche Infrastrukturen wie Bahn und Bus, Schulen, Elektrizitäts- und Gasunternehmen. Sie fordern, dass die Regierung die Rentenpläne zurücknimmt. In einer gemeinsamen Erklärung kritisieren sie: „Diese Maßnahme ist ungerechtfertigt: Der Bericht des Renten-Orientierungsrats (COR*) macht deutlich, dass das Rentensystem nicht in Gefahr ist. Es gibt keinen finanziellen Notstand. Diese Reform wird alle Arbeitnehmer mit voller Wucht treffen, insbesondere diejenigen, die früh mit dem Arbeiten begonnen haben, die prekären Beschäftigten, deren Lebenserwartung niedriger ist als die der übrigen Bevölkerung, und diejenigen, deren Berufe nicht als schwer anerkannt werden. Sie wird die Unsicherheit derjenigen verschärfen, die bereits vor ihrer Pensionierung nicht mehr in Arbeit sind, und die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern verstärken.

Dieses Regierungsprojekt hat nichts mit einer wirtschaftlichen Notwendigkeit zu tun, sondern ist eine Entscheidung für Ungerechtigkeit und sozialen Rückschritt. Die Stärkung unseres Rentensystems erfordert hingegen Maßnahmen, die den Fortschritt und die Verteilung des Wohlstands fördern.“ Wie die Auseinandersetzung ausgeht, ist offen!

* Die Regierung stützt sich bei ihren Rentenplänen auf den Conseil d’Orientation des Retraites (COR), ein 42-köpfiges Gremium, das in Rentenfragen berät. Im COR sind die verschiedenen Rentenkassen, Einrichtungen wie die staatlichen Statistikinstitute bis hin zu den Unternehmerverbänden und Gewerkschaften vertreten, die wichtigsten mit Rentenfragen betrauten Institutionen und Organisationen. COR veröffentlicht jedes Jahr einen Bericht, der auch Prognosen beinhaltet, etwa über die Beschäftigungsquote, die Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben der Rentenkassen etc. Auch die Regierung bezieht sich auf die Angaben des COR.

www.lemonde.fr; www.cor-retraites.fr; www.gouvernement.fr; www.cfdt.fr

Abb.(PDF): Plakat der Gewerkschaft CFDT bei IBM: 64 Jahre – Nein! 65 Jahre – Nein! Dieses Projekt muss gekippt werden!