Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)21
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

„Es gibt eine strukturelle Gefahr für Kurden in Europa“

Interview von Christiane Schneider, Hamburg, mit Cansu Özdemir, Co-Fraktionsvorsitzende der Hamburger Linksfraktion

Am 23.12.22 hat ein gezielter Angriff auf die kurdische Community in Paris drei Menschen getötet und viele verletzt. Wer waren die Opfer, und was bedeutet der Mordanschlag in Paris für die kurdischen Communities in Europa?

Emine Kara war Frauenrechtsaktivistin. Sie war zu diesem Zeitpunkt mit anderen Frauen bei der Vorbereitung einer Veranstaltung. Abdurrahman Kızıl war ein älterer Herr, der schon seit Jahrzehnten in der kurdischen Community aktiv ist. Mîr Perwer war ein junger Musiker, der aus der Türkei geflüchtet ist, Frau und Kind hatte zurücklassen müssen, und der versucht hat, sich hier in Europa ein neues Leben aufzubauen. Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass es in Paris einen Mordanschlag gab mit mehreren Toten. Am 9. Januar 2013, fast genau zehn Jahre zuvor, wurden drei kurdische Politikerinnen in einem Informationszentrum ermordet. Ein Aktivist hat auf einer Demonstration sehr gut zusammengefasst, was die kurdische Community empfindet: Wir haben gegen den Islamischen Staat gekämpft, damit ihr in Ruhe schlafen könnt – aber ihr konntet nicht mal drei Kurden in Europa schützen.

Die Tat hat ein gerade aus der Haft entlassener Franzose begangen, der sich selbst als extrem rassistisch bezeichnet. Die kurdische Community spricht von einem geplanten Terrorakt wie vor drei Jahren.

2013 wurde die Identität des Täters schnell bekanntgegeben. Dann gab es zwar Ermittlungen, aber der Täter ist dann angeblich an einem Hirntumor gestorben, so dass es nie zu einem Verfahren kam. Es gab genug Belege dafür, dass er ein türkischer Agent war und vom Geheimdienst während eines beginnenden Friedensprozesses nach Frankreich geschickt wurde, um die Morde zu begehen. Heute gibt es viele ungeklärte Fragen, und die kurdische Community will Aufklärung. Es war ein wichtiges Zeichen, dass die Justizministerin vor Ort war und viele hochrangige Politikerinnen und Politiker – auch Macron hat sich geäußert – und dass sie die kurdische Community nicht alleingelassen haben. Bitter war für uns, dass Olaf Scholz und Annalena Baerbock sich zwar auf Twitter geäußert haben, aber nicht die Identität der Opfer, ihren kurdischen Hintergrund erwähnt haben. Man ignoriert bewusst, dass es eine strukturelle Gefahr gibt für Kurdinnen und Kurden in Europa.

Nun kommt hinzu, dass Erdoğan mit der Drohung, den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland zu verhindern, Druck ausübt und die schwedische Regierung der Erpressung teilweise nachgibt. Im Dezember wurde Mahmut Tat, der 2015 zu fast sieben Jahren Gefängnis wegen „Zusammenarbeit mit der PKK“ verurteilt wurde, an die Türkei ausgeliefert.

Bisher war es eigentlich so, dass sich die kurdische Community gerade in diesen Ländern sicherer gefühlt hat als hier zum Beispiel. Deshalb ist diese Entwicklung sehr beunruhigend. Menschen, die nach Schweden oder Finnland flüchten, müssen jetzt Angst haben, ausgeliefert zu werden. Schlimm ist auch, dass man nicht sicher sein kann, ob man von Geflüchteten, die wieder in die Hände der türkischen Justiz gelangen, überhaupt noch einmal hört. Es gibt Fälle, in denen Menschen verschwunden sind.

Zudem werden die Verhältnisse in der Türkei immer repressiver. Es gibt Berichte über Folter, die Vorsitzende der Ärztekammer bleibt inhaftiert, weil sie den Verdacht äußerte, dass die Türkei in Rojava Chemiewaffen einsetzt. Das Verbot der HDP ist vorbereitet.

Deshalb brauchen die Kurden sichere Orte. Das ist eigentlich das Mindeste, nachdem die Kurden gegen den IS gekämpft haben. 14 000 Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Sie haben ein großes Opfer gebracht, auch damit Europa sicherer wird.

Welche Rolle spielt der türkische Geheimdienst in Europa?

Der türkische Geheimdienst ist sehr aktiv, gerade in Deutschland. Er stachelt die türkische Community gegen die kurdische auf, vor allem wie jetzt in Wahlkampfzeiten. Erst jüngst hat ein AKP-Abgeordneter in einer Neusser Moschee der Grauen Wölfe den Kurden hier in Europa mit Vernichtung gedroht. Das ist eine konkrete Gefährdung für die Menschen, die aus der Türkei geflüchtet und hier weiterhin politisch aktiv sind. Es gab z.B. hier in Hamburg den Fall, dass ein Geheimdienstler einen konkreten Mordanschlag auf einen kurdischen Politiker geplant und auch eine Liste mit den Namen kurdischer Aktivisten in Norddeutschland mitgeführt hat. Die Sicherheitsbehörden haben nur versucht, alles unter der Decke zu halten. Deshalb können die Kurden auch nicht ernst nehmen, wenn es heißt, dass man sich bei den Sicherheitsbehörden melden solle. Man kann dort nicht auf Schutz hoffen. Im Gegenteil. Immer wenn die Repression in der Türkei stärker wird, wird sie auch hier stärker. Es gibt z.B. Urteile von verschiedenen Verwaltungsgerichten, dass die Fahnen der YPG und YPJ (Volksverteidigungseinheiten in Rojava – Red.) nicht verboten sind, trotzdem versucht die Polizei immer wieder, mit Gewalt durchzusetzen, dass sie nicht gezeigt werden. Menschen werden eingeschüchtert, um sie davon abzuhalten, sich weiter am Protest zu beteiligen.

Du selbst erhältst viele Morddrohungen. Wie gehst du damit um?

Ich bringe vieles zur Anzeige, auch wenn seit über zehn Jahren nichts passiert und alle Verfahren eingestellt werden. Doch ich merke, dass ich mein alltägliches Leben eingeschränkt habe. Ich achte darauf, dass ich bei Spaziergängen mit meinem Kind abgelegene Plätze vermeide, nicht durch einen Wald gehe. Ich achte darauf, dass ich abends nicht viel allein unterwegs bin oder in Büroräumen sitze. Das ist natürlich eine Einschränkung. Aber es gibt viele Menschen, die nicht so viel öffentliche Aufmerksamkeit haben wie ich. Öffentlichkeit ist eine Art Schutz. Die Reichweite, die ich habe, haben viele kurdische Menschen nicht. Das bedeutet für ihr alltägliches Leben eine heftigere Einschränkung als für mich.

Abb.(PDF): Viele Tausend Menschen demonstrierten am 7.1. in Paris für vollständige Aufklärung der Mordanschläge vom 23.12.22 und vom 9.1.2013. Bild: ANF.