Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)23
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Rechte Kräfte in der EU – wachsender Einfluss auf Regierungstätigkeit

Michael Juretzek, Bremen. Wir erleben europaweit eine wachsende Zustimmung zu autoritären, nationalistischen, ausgrenzenden Parteien. In einigen Staaten üben sie Regierungsgewalt aus, in anderen sind Regierungen von ihrer Zustimmung abhängig. In den Institutionen der EU bündeln sie u.a. in den Parlamentsfraktionen Europäische Konservative und Reformer (ECR; „Atlantiker“) und Identität und Demokratie (ID; „Eurasier“) ihre Kräfte. In ihnen sind 29 Parteien aus 20 EU-Staaten vertreten. Gemeinsam stellen sie 18% der EU-Abgeordneten und kooperieren zunehmend in Fragen der Migrations- und Familienpolitik.

Wir wollen versuchen, regelmäßig über die Akteure und ihren Einfluss auf die jeweilige Regierungstätigkeit und deren Auswirkungen zu berichten. Vielleicht ist es hilfreich, um solidarische Positionen gegen ihre spaltende Politik zu entwickeln. Ihr wachsendes Gewicht bis hin in den Rat der Europäischen Union ist eine Gefahr für eine demokratische, inklusive und soziale Entwicklung der EU.

In sieben EU-Ländern, die zusammen 24% der EU-Bürger repräsentieren, finden dieses Jahr Parlamentswahlen statt. Ihr Ausgang wird Hinweise geben, ob demokratische, rechtsstaatliche Politik zunehmend in eine Legitimationskrise gerät oder in der Lage ist, mit überzeugenden Perspektiven und Projekten eine Brandmauer zu den rechten Kräften zu errichten.

01 ITALIEN. Bürgergeld wird abgeschafft.
02 ITALIEN. Regierungsdekret behindert Seenotrettung.
03 SCHWEDEN. Neue Regierung hebt Waffenembargo gegen Türkei auf.
04 SPANIEN. Mitregierende VOX will Schwangerschaftsabbruch erschweren.

01

ITALIEN. Bürgergeld wird abgeschafft. Für alle „Arbeitsfähigen“ – 18- bis 59-Jährige – wurde das Bürgergeld in Höhe von 780 Euro plus 150 Euro Mietzuschuss zum Januar auf maximal 540 Euro gekürzt und die Bezugsdauer auf 7 Monate beschränkt. „Angemessene“ Arbeitsangebote dürfen nur einmal abgelehnt werden. Zum Ende des Jahres wird es für diese Gruppe ganz abgeschafft. Aktuell erhalten 3,4 Mio. Italiener das sogenannte Reditto di Citadinanza.

02

ITALIEN. Regierungsdekret behindert Seenotrettung. „Ein neues Gesetzesdekret, das am 2. Januar 2023 vom italienischen Präsidenten Sergio Mattarella unterzeichnet wurde, wird die Rettungskapazitäten auf See reduzieren und damit das zentrale Mittelmeer, eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, noch gefährlicher machen“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der zivilen Rettungsorganisationen im Mittelmeer. (Quelle: https://resqship.org/italienisches-dekret-gemeinsame-erklaerung-ngo/) Und weiter: „Die Anweisung an zivile Seenotrettungsorganisationen, sofort einen Hafen anzulaufen, während sich andere Menschen in Seenot befinden, widerspricht der im SRÜ [Seerechtsübereinkommen der UN] verankerten Pflicht von Kapitänen, Menschen in Seenot unverzüglich Hilfe zu leisten. Dieser Teil des Dekrets wird durch die jüngste Strategie der italienischen Regierung verschärft, häufig weit entfernte Häfen zuzuweisen, die bis zu vier Tage Fahrt von der jeweiligen aktuellen Position des Schiffes erfordern.“ Die „Ocean Viking“ von SOS Méditerranée etwa musste im Dezember mit 113 Geretteten von Süditalien rund 900 Seemeilen bis nach Ravenna an die nördliche Adria fahren. Darüber hinaus verlangt das Dekret, Identitätsdaten der Geflüchteten auf den Rettungsschiffen zu erfassen und ihre Asylanträge mit Angabe des Ziellandes an Bord auszufüllen.

„Es ist die Pflicht von Staaten, Asylgesuche zu registrieren und entsprechende Verfahren einzuleiten, ein privates Schiff ist dafür nicht der geeignete Ort. Wie das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) kürzlich klarstellte, sollten Asylanträge nur an Land bearbeitet werden, nachdem die Geflüchteten an einem sicheren Ort an Land gehen konnten und ihre unmittelbaren Bedürfnisse erfüllt wurden,“ schreiben die Hilfsorganisationen dazu. Nach Einschätzung der Regensburger NGO Sea-Eye ist das Dekret rechtswidrig – „insoweit es das Verhalten deutsch beflaggter Schiffe in internationalen Gewässern regeln und bei Einfahrt in das italienische Küstenmeer sanktionieren will“. Auch Ärzte ohne Grenzen übte Kritik. „Wir werden gezwungen, die Rettungszone im Mittelmeer ungeschützt zu lassen, was dazu führen wird, dass die Zahl der Toten steigt“, sagte Marco Bertotto, der Italien-Verantwortliche der NGO, der Zeitung „La Stampa“. Zuwiderhandlungen will die italienische Regierung mit Geldstrafen bis zu 50 000 Euro belegen.

03

SCHWEDEN. Neue Regierung hebt Waffenembargo gegen Türkei auf. 2019 hatte die damalige schwedische Regierung ein Waffenembargo gegen die Türkei verhängt und alle EU-Staaten aufgefordert, dem zu folgen. Der Grund: türkisches Militär hatte die syrische Grenze überschritten, um die 2014 von kurdischen, sunnitischen, jesidischen und christlichen Kräften gegründete Demokratische Föderation Nordsyrien (kurdisch: Rojava) zu zerstören. Ende September 2022, drei Wochen nach der schwedischen Parlamentswahl, hat die von den Schwedendemokraten tolerierte konservative Regierung das Waffenembargo aufgehoben. 2 Monate später greift die Türkei mit Bombern, Artillerie und Bodentruppen (Operation „Klauenschwert“) erneut die Konföderation, die von der türkischen Regierung als Terrorstaat bezeichnet wird, an: „Mit Allahs Hilfe werden wir sie alle so schnell wie möglich mit unseren Panzern und Soldaten ausrotten“, so Erdogan am 22. November. Einen Tag vorher hatte die Bundesregierung ihn aufgefordert, das Völkerrecht einzuhalten.

Parallel zur Aufhebung des Waffenembargos hat die neue Regierung Hilfsprojekte in Nordsyrien eingestellt. „Schweden hat humanitäre Projekte in Nordsyrien eingestellt. Dazu zählen etwa Wasseraufbereitungsanlagen“, berichtete der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, der „Frankfurter Rundschau“ am 1.12.22.

04

SPANIEN. Mitregierende VOX will Schwangerschaftsabbruch erschweren. Die in der Region Kastilien und Leon mitregierende VOX hat ein Protokoll angekündigt, laut dem alle Ärzte in der Region Frauen vor einer Abtreibung empfehlen müssen, sich die Herzschläge des Fötus anzuhören, ein 4D-Ultraschallbild des ungeborenen Kindes anzuschauen und psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen. „Ein Frontalangriff gegen das Abtreibungsrecht in Spanien und laut Gesundheitsministerin Carolina Darias ein ‚Anschlag auf die Frauenrechte‘“, schreibt das spanische Portal „Costa Nachrichten“ am 21. Januar. Vizepräsident Garcia-Gallardo (VOX) nannte als Ziel, den Eltern eine emotionale Bindung zu ihrem Baby zu ermöglichen. Bei den Wahlen zum Landesparlament Kastilien und Leon im Februar 2022 wurde die rechtsextreme Partei VOX mit 17,6 % (+ 12 %) drittstärkste Kraft. Seit April bildet sie zusammen mit der konservativen Partida Popular (PP) die Regionalregierung. Kastilien und Leon ist die größte der 17 Autonomen Gemeinschaften und stellt mit 2,4 Mio. Einwohner 5 % der spanischen Bevölkerung. Erst im Dezember 2022 änderte das spanische Parlament die Abtreibungsgesetze. Sie sehen unter anderem das Recht vor, eine Abtreibung im kostenlosen öffentlichen Gesundheitssystem des Landes vorzunehmen, sowie die Abschaffung der von der früheren konservativen Regierung (PP) im Jahr 2015 eingeführten Pflicht zur Einholung der elterlichen Zustimmung bei über 16-Jährigen.

Nachdem der Regionalpräsident Manueco (PP) erklärte, „Ärzt:innen werden zu nichts gezwungen, schwangere Frauen werden zu nichts gezwungen“, kam es zu einer Regierungskrise.