Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)24
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

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EU-Vertretung demonstrativ zu Verhandlungen in Kiew – Brasiliens Präsident da Silva für „Friedensklub“ zu Verhandlungen

Christoph Cornides, Mannheim

Auch wenn bekanntlich die Situation für einen möglichen Waffenstillstand oder gar für die Perspektive von Friedensverhandlungen sich meist erst aus dem Kriegsverlauf und dem Zustand der Krieg führenden Parteien, ihrer Ziele und deren Realisierungschancen ergibt (siehe folgenden Artikel von Martin Fochler): Unterstützung für den Aggressor oder den sich verteidigenden Staat und Gespräche und Verhandlungen schließen sich nicht aus, sind keine alternativen „Strategien“, sondern allemal verschiedene Mittel zum Erreichen jeweiliger Ziele. Auch während der laufenden Angriffswellen der Russischen Föderation gegen die Ukraine findet Gefangenenaustausch statt, wurden unter Beteiligung der UNO Vereinbarungen zur Getreideausfuhr getroffen und über die Sicherung des Atomkraftwerks Saporischschja verhandelt.

Am 2./3. Februar 2023 reiste EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen mit 15 Kommissionsmitgliedern nach Kiew und sicherte der Ukraine weitere Unterstützung zu. Unter anderem will die EU ein zehntes Sanktionspaket gegen Russland verhängen, verspricht eine deutliche Ausweitung der Ausbildungsmission und finanzielle Unterstützung im Umfang von weiteren 18 Milliarden Euro allein in diesem Jahr. Insgesamt wird die Unterstützung der EU bisher auf rund 50 Milliarden Euro veranschlagt. Die Haupterwartung der Ukraine aber bestand und besteht in einem schnellen Beitritt zur EU. Zurückhaltung dagegen bei der Vertretung der EU, was die Festlegung auf einen Beitrittstermin betrifft.

Zeitgleich bereiste Bundeskanzler Scholz Lateinamerika und besuchte Chile, Argentinien und Brasilien mit dem Ziel der Sammlung eindeutiger Unterstützung für die Verteidigung der Ukraine. Einen Tag vor Eintreffen der EU-Vertretung in Kiew begannen in Brasilien die Gespräche zwischen Scholz und Brasiliens neu gewähltem Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Neben der politischen Unterstützung da Silvas in der Rettung des Regenwaldes durch die deutsche Bundesregierung war ein konkretes Ziel des Bundeskanzlers, dass Brasilien Munition für Gepard-Panzer zur Unterstützung der Ukraine bereitstellt. Das lehnte Brasilien ab. (Zu diesem nicht verwendeten Munitionsvorrat in Brasilen kam es, weil Brasilien zu Zeiten der Präsidentschaft Bolsonaros 2014 in Deutschland Gepard-Flakpanzer eingekauft hatte, um die Stadien gegen Drohnenangriffe zu schützen. Diese fanden dann aber doch keine Verwendung.) Auch lehnte da Silva – anders als Chile und Argentinien – einen formellen Beitritt zu dem von Scholz propagierten „ökologischen Club“ ab. Man könne zwar einen „ökologischen Club“ gründen, aber wichtiger sei doch ein „Friedensclub“ für Verhandlungen mit Russland und der Ukraine unter Beteiligung Chinas. Neben Brasilien und China könnten Indonesien und Indien einem solchen „Friedensclub“ angehören. Über eine Friedensinitiative habe er schon mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gesprochen und wolle sie noch US-Präsident Joe Biden und dem chinesischen Staatschef Xi Jinping vorstellen. Zwar hätten „die Russen“ einen „klassischen Fehler“ gemacht, als sie in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates eingedrungen seien. Aber es gebe ein brasilianisches Sprichwort: „Wenn einer nicht will, streiten zwei sich nicht“. Er habe die Ursache des Krieges nicht verstanden, wolle aber darauf verweisen, dass auch der Krieg der USA gegen den Irak mit einer „Lüge“ begonnen habe. Es gehe nun darum, mit Putin und Selenskyj zu reden. Da Silva spricht dabei also nicht von einem russischen Aggressor, sondern von den „beiden Krieg führenden Seiten“ („Die Welt“ und „Berliner Zeitung“ vom 4.2.2023, wörtliche Zitate „Die Welt“ v. 4.2.2023). Zwar hat Brasilien die UN-Resolutionen zur Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands gegen die Ukraine unterstützt. Das aber war zu Zeiten Bolsonaros. Wie die Regierung Lula da Silvas sich dazu heute entscheiden würde, ist deshalb nicht unbedingt klar. Die Ukraine wird der Initiative da Silvas angesichts seiner Beurteilungen des Aggressionskrieges Russlands gegen die Ukraine wohl skeptisch gegenüberstehen. Während dementsprechend auch die Initiative da Silvas von Teilen der Presse klein geschrieben wird, weist die „Süddeutsche Zeitung“ darauf hin, dass diese nicht isoliert und an die Person da Silvas gebunden gesehen werden sollte. „Zum Jahrestag der russischen Invasion mehren sich Signale, dass über eine politische Vermittlung zwischen Russland und der Ukraine sowie eine glaubwürdige Person zur Vorbereitung politischer Gespräche nachgedacht wird. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Mitteilung aus Moskau, dass Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping zu einem Besuch in Russland erwartet werde.“ (SZ v. 2.2.2023)

Während Scholz in Brasilien sein Ziel für die direkte Unterstützung der Ukraine nicht erreichte, hielten sich die führenden Vertreterinnen und Vertreter der EU — Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und der Außenbeauftragte Josep Borrell sowie mehr als ein Dutzend Kommissare und Kommissarinnen – zu einem demonstrativen Besuch der Unterstützung in der Ukraine auf. Dort fanden zunächst Gespräche der EU-Kommission mit der ukrainischen Regierung statt, gefolgt von einem EU-/Ukraine-Gipfeltreffen. Neben der Zusicherung von Unterstützungsleistungen ging es dabei auch darum, wie die Ukraine den sogenannten „Acquis“ übernehmen kann. („Acquis communautaire“, der gemeinsame „Besitzstand“ von Vorschriften und Gesetzen, die in der EU gelten.) Das ist die Voraussetzung für eine Aufnahme in die Union.

Kurz zuvor hatte der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal in einem Interview mit dem Magazin „Politico“ (englischsprachige Wochenzeitung, erscheint in Brüssel) einen gewünschten Zeitrahmen von zwei Jahren bis zur Vollmitgliedschaft in der Union genannt. Die Ukraine ist zwar ein offizieller EU-Kandidat, hat bisher aber weder die Aufnahmebedingungen erfüllt, noch haben überhaupt die formellen Beitrittsverhandlungen begonnen. Auch wenn die EU eine Aufnahme der Ukraine beschleunigt, kann sich deren Aufnahme nicht völlig außerhalb der Verfahren mit anderen, etwa den Balkanstaaten, bewegen. Präsident Macron z.B. sprach von zehn Jahren und mehr für einen solchen Beitrittsprozess bis zur Vollmitgliedschaft.

Ein EU-Beitritt der Ukraine kann aber auch einen sicherheitspolitischen Aspekt beinhalten. Als EU-Mitgliedstaat könnte sich die Ukraine im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihr Hoheitsgebiet auf Art. 42 Abs. 7 der EU-Verträge berufen. Dem Wortlaut dieser sog. Beistandsklausel nach „schulden“ die anderen Mitgliedstaaten der Union einem Mitgliedstaat, der sich einem „bewaffneten Angriff“ ausgesetzt sieht, „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ (https://voelkerrechtsblog.org/de/was-wird-aus-der-beistandsklausel-der-eu/). Das bedeutet aber keinesfalls zwingend militärische Hilfe, was allein schon wegen der EU-Mitgliedschaft von Staaten, die sich zur Neutralität verpflichtet haben, nicht möglich wäre. Deshalb, und da die Ukraine kein Mitglied der EU ist, wird auch schon an einer zwischenstaatlichen Lösung außerhalb der EU gearbeitet: „Der frühere Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat gemeinsam mit Selenskis Stabschef Andrli Jermak den ‚Kyiv Security Compact‘ ersonnen ein Arrangement, das Sicherheitsgarantien westlicher Staaten inklusive Deutschlands für die Ukraine vorsieht, um die Zeit bis zu ihrem Beitritt zur EU und eventuell auch zur Nato zu überbrücken. Am Donnerstag (2.2.2023 d. Verf.) stimmte das EU-Parlament für eine Resolution, die den „Kyiv Security Compact erwähnt.“ (Handelsblatt v. 3.2.2023)

Abb.(PDF): EU-Parlamentarier während der Ukraine-Debatte am 3. Februar. In der vom Europaparlament mit Mehrheit verabschiedeten Resolution mit 9 Erwägungen und 32 Punkten mit fast 30000 Zeichen heißt es in Punkt 8: Das Europäische Parlament „fordert den Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, den zehn Punkte umfassenden Friedensplan des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, zu unterstützen und auf die Bildung eines internationalen Bündnisses für die Umsetzung dieses Plans hinzuarbeiten und in Bezug auf künftige Sicherheitsgarantien, wie sie im Kiewer Sicherheitsvertrag vorgeschlagen wurden, mit der Ukraine zusammenzuarbeiten“. https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0029_DE.html. Bild: © European Union 2023 – EP.