Politische Berichte Nr.2/2023 (PDF)04
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Wahlen in der Türkei: Entscheidung über Demokratie oder Fortsetzung von Diktatur und Faschismus

01 HDP: Aufruf zu Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden
02 Solidarität üben – Hilfe für Erbebenopfer
03 DOK: „Es geht um den Sturz des Ein-Mann-Regimes“

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Am 14. Mai finden in der Türkei die vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Präsident Erdoğan und seine Regierungskoalition haben seit Monaten in den Wahlumfragen keine Mehrheit mehr. Daran hat sich auch nichts nach einer weiteren Verschärfung der Repression gegen die Opposition geändert.

Anfang des Jahres wurden der HDP die öffentlichen Mittel entzogen und der Verbotsprozess vor dem Verfassungsgericht geht in die entscheidende Phase. Am 11. April will das höchste Gericht darüber entscheiden. Die HDP hat mit anderen linken Parteien das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ gebildet. Dieses besteht aus der Demokratische Partei der Völker (HDP), der Partei der Grünen Linken (YSP), der Arbeiterpartei der Türkei (TIP), der Partei der Arbeit (EMEP), der Partei der sozialen Freiheit (TÖP), der Partei der Arbeitsbewegung (EHP) und dem Bund der Sozialistischen Räte (SMF). Aufgrund des drohenden Verbots gegen die HDP fiel die Entscheidung, dass die Kandidat:innen des Bündnisses auf der Liste der Grünen Linken antreten. Nur die TIP will unter eigenem Logo antreten.

Für die Präsidentschaftswahlen hat das Bündnis keinen eigenen Kandidaten aufgestellt. Ein eigener Kandidat würde die Stimmen gegen Erdogan zersplittern. Unterstützt wird der Kandidat der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu. Zuvor hatte Kılıçdaroğlu zugesichert, dass er das Präsidialsystem abschaffen werde.

Die HDP hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht. In vielen Versammlungen haben ihre Mitglieder und ihre Wähler:innen über das Vorgehen diskutiert. Die kurdische Politikerin Bedia Özgökçe Ertan sprach darüber in Karlsruhe beim Landesausschusses der Partei Die Linke Baden-Württemberg. Die frühere Oberbürgermeisterin von Wan (türk. Van) fasste die Motivation und Hoffnung so zusammen: „Die HDP unternimmt alles für den Sturz des Diktators Erdoğan und seiner AKP/MHP-Regierung, um die Türkei zurück auf einen Weg der Demokratie und des Friedens zu führen.“ Das friedliche Zusammenleben aller Ethnien und Religionen in der Türkei, in Rojava, Südkurdistan oder auch im Iran – das sei das Anliegen der HDP.

01

HDP: Aufruf zu Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden

Die HDP hat im September 2021 nach zahlreichen Beratungen in Volksversammlungen eine „Roadmap für Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden“ als Grundsatzprogramm vorgelegt mit zahlreichen recht konkreten Vorschlägen für eine Reformpolitik in der Türkei. Aus Platzgründen können wir neben der Einleitung leider nur die Überschriften dokumentieren.

Eine starke Demokratie: Wir glauben, dass die Türkei vor allem eine starke Demokratie braucht, die auf den Grundsätzen der Partizipation, der Verhandlung und des demokratischen Konsenses beruht und in der die universellen Grundrechte und -freiheiten so weit wie möglich gewährleistet sind.

Eine starke Demokratie erfordert auch ein Verständnis von Subsidiarität und lokaler Verwaltung … den Kommunalverwaltungen sollten Befugnisse und Ressourcen übertragen werden, und die lokalen Beteiligungsmechanismen sollten in einer starken lokalen Demokratie voll funktionieren.

• Eine unparteiische und unabhängige Judikative • Den Willen des Volkes anstelle des Regimes der Treuhänder • Demokratische Lösung der kurdischen Frage • Eine friedliche Außenpolitik • Freiheit und Gleichheit für Frauen Gerechtigkeit in der WirtschaftVerdienst in der öffentlichen Verwaltung • Respekt vor der Natur • Freiheit für Jugendliche • Eine demokratische Verfassung.

https://anfdeutsch.com/hintergrund/hdp-legt-roadmap-fur-gerechtigkeit-demokratie-und-frieden-vor-28538

02

Solidarität üben – Hilfe für Erbebenopfer

Die Bilder der schweren Erdbeben in der Südosttürkei und Nordsyrien erschüttern.

Die Hilfe des türkischen Staates kommt – wenn überhaupt – in den Orten an, die einen hohen Wähleranteil von APK (Erdoganpartei) und MHP (in Deutschland die Faschisten der Grauen Wölfe) haben. Erdogan verhängte den Ausnahmezustand über zehn überwiegend von Kurden bewohnte Provinzen, was in der Türkei dem Kriegsrecht gleichkommt. So wollen er und seine Regierung die Hilfe und Berichterstattung kontrollieren und die schreckliche Situation der Menschen vor den Wahlen in der Türkei für sich ausnutzen, die jahrelange Veruntreuung der Erdbebensteuer und die Korruptionswirtschaft vertuschen.

In Syrien passiert von Regierung und Staat überhaupt nichts und das türkische Militär bombardiert auch nach dem Erdbeben weiter betroffene Gebiete in Rojava.

Dringend wird Hilfe direkt vor Ort benötigt. Medico international und Heyva Sor a Kurdistanê e.V. (Kurdischer Roter Halbmond) gewährleisten, dass die Hilfe direkt über Projekte und Vereine vor Ort bei den betroffenen Menschen in der Türkei und in Syrien ankommt.

Bitte spendet und mobilisiert in eurer Umgebung dafür!

Heyva Sor a Kurdistanê e.V., Kreissparkasse Köln, IBAN DE49 3705 0299 0004 0104 81, medico international, GLS-Bank, IBAN DE69 4306 0967 1018 8350 02

Abb. (PDF): Mindestens 50 000 Menschen starben allein in der Türkei bei den verheerenden Erdbeben. Ein Grund für den Einsturz vieler Gebäude ist die Legalisierung illegal erstellter oder aufgestockter Bauten. In der Erdogan-AKP-Regierungszeit wurden knapp sechs Millionen Bauten bis 2018 legalisiert. Derzeit liegt von dem kleinsten faschistischen Juniorpartner der AKP/MHP-Regierung die neunte Bauamnestie im Parlament vor.

03

DOK: „Es geht um den Sturz des Ein-Mann-Regimes“

Der stellvertretende Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Tayip Temel, spricht in einem, hier gekürzt wiedergegeben, ANF-Interview über die Strategie zu den Wahlen am 14. Mai in der Türkei und ruft zur Unterstützung der Partei der Grünen Linken (YSP) auf.

Die HDP hat ihren Schwerpunkt im Wahlkampf auf Themen im Zusammenhang mit der Demokratisierung des Landes gesetzt. Nun hat die HDP keine eigene Kandidatin oder einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufgestellt. Wie ist hier der Zusammenhang?

Unsere Partei spielt mit dem, was sie tut oder nicht tut und was sie unterstützt oder nicht unterstützt, eine entscheidende Rolle für die Politik des Landes. Wir sind wahlentscheidend. Alle Augen sind auf uns gerichtet. In diesem Bewusstsein und auf der Grundlage unserer Verantwortung gegenüber unseren Völkern haben wir am 27. September 2021 in einer Erklärung unsere Grundsätze für die Politik des Landes bekannt gegeben. [s.a. vorige Seite, d.Red.] Hinsichtlich der Präsidentschaftswahlen haben wir klargestellt, dass wir über diese Prinzipien und nicht über Namen diskutieren sollten. Bei den Gesprächen, die wir geführt haben, haben wir gesehen, dass wir mit Herrn Kılıçdaroğlu keine Meinungsverschiedenheiten über die Grundprinzipien unserer Erklärung wie starke Demokratie, unparteiische und unabhängige Justiz, Beendigung der kommunalen Zwangsverwaltung und eine demokratische Lösung der kurdischen Frage haben.

Was bedeutet es, in der ersten Phase keine Unterstützungsbekundung für einen Kandidaten abzugeben? Nach Angaben Ihrer Ko-Vorsitzenden wird der Name in den nächsten Tagen bekanntgegeben …

Unser Ziel ist es, dieses Ein-Mann-Regime, das das Land plagt, zu beenden. Wir haben hart daran gearbeitet, die dafür am besten geeigneten Wege und Methoden zu bestimmen. Die Frage der Nominierung von Kandidaten wurden in den autorisierten Gremien unserer Partei intensiv diskutiert. Wir haben die Meinungen unserer Basis und der Völker eingeholt. Zunächst war die Tendenz, einen Kandidaten zu nominieren, stärker ausgeprägt. Die Erdbeben vom 6. Februar veranlassten uns jedoch, unsere Einschätzungen zu revidieren. Infolge der Politik der AKP/MHP-Regierung, die auf Profit und Plünderung basiert, haben wir mehr als 50 000 Menschen verloren. Tausende sind erfroren, weil die starre zentralistische Verwaltung nicht reagiert hat und in den Erdbebengebieten tagelang nicht eingegriffen wurde. Wir haben mit großer Wut miterlebt, wie das Erdoğan-Regime die Menschen nach dem Erdbeben ihrem Schicksal überlassen hat. Die Menschen erheben zu Recht Einwände gegen das sogenannte Präsidialsystem und die AKP/MHP-Regierung. Die Umstände haben sich geändert.

Es wird immer wieder gesagt, dass diese Wahlen einen Wendepunkt darstellen. Was unterscheidet diese Wahlen konkret von anderen?

Die Wahlen 2023 werden in der Tat schicksalhafte Wahlen für das Land sein. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir stoppen den Faschismus, oder der Faschismus wird stärker werden und die Gesellschaft ersticken. Das ist kein Scherz, es gibt keinen anderen Weg. Aus diesem Grund werden die Wahlen am 14. Mai 2023 die kritischsten Wahlen der Geschichte sein. Wissen Sie, auf den Straßen, zum Beispiel, wenn wir den Bosporus überqueren, sehen wir manchmal ein Schild mit der Aufschrift „Letzte Ausfahrt vor der Brücke“. Die Wahlen am 14. Mai sind genauso. Es ist die letzte Ausfahrt vor der Brücke. Entweder wir nehmen den Weg in den Faschismus oder wir werden uns für die Demokratie und die Freiheiten entscheiden.

Wie würde sich die Präsenz der Grünen Linkspartei im Parlament mit hundert oder mehr Abgeordneten auswirken?

Sowohl im Präsidialsystem als auch im parlamentarischen System spielt das Parlament eine wichtige Rolle im Gesetzgebungsprozess. Wenn die Grüne Linkspartei mit hundert Abgeordneten ins Parlament einzieht, werden die Unterdrückten, die Marginalisierten und diejenigen, deren Rechte und Gesetze in der türkischen Politik nicht geschützt sind, einen entscheidenden Einfluss darauf haben, welche Gesetze wie im Parlament gemacht werden, und vor allem werden sie die neue Regierung mitbestimmen. Die gesetzlichen Regelungen der beiden hegemonialen Blöcke, die Kapital, Profit und Zerstörung in den Vordergrund stellen, werden verhindert werden.

Es gab bei vergangenen Wahlen immer wieder Provokationen und Betrug. Wie sehen Sie diese Gefahr im aktuellen Wahlprozess?

Die AKP/MHP-Regierung wird natürlich alle möglichen Taktiken und Tricks anwenden, um die Wahlen zu gewinnen. Wir haben es mit einer kriminellen Regierung zu tun, die keine moralischen Prinzipien besitzt, die Erfahrung mit Diebstahl hat und die jede Möglichkeit, zu gewinnen, als legitim betrachtet. Das wissen wir, aber wenn wir uns deswegen in eine passive Position begeben, werden wir verlieren. Man sagt, dass Wahlen an der Wahlurne gewonnen werden. Die Sicherheit der Wahlurnen wird bei diesen Wahlen sehr wichtig sein. Wir haben Vorbereitungen getroffen, um sicherzustellen, dass keine einzige Stimme gestohlen wird, aber die Opposition muss zusammenarbeiten und sich beim Schutz der Wahlurnen zusammenschließen. Hätten die Menschen bei den letzten Wahlen in Istanbul die Wahlurnen nicht geschützt, hätte man den Betrug wahrscheinlich vertuscht.

Es sind anderthalb Monate bis zur Wahl. Nun ist es wichtig die Grüne Linkspartei bekannt zu machen. Haben Sie entsprechende Appelle an die Wähler:innen?

Wir treten mit der Partei der Grünen Linken zu den Wahlen an. Das Logo der Grünen Linkspartei und der HDP sind ähnlich. Das ist ein großer Vorteil für uns. Für Analphabeten ist es wichtig, dass das Logo ähnlich ist. Darüber hinaus kommen wir aus einer Tradition, in der jede kleinste Aktivität entscheidend ist. Wir werden jedes Haus besuchen und die Grünen Linkspartei vorstellen und erklären. Das Logo der Grünen Linkspartei sieht aus wie ein Baum und ein Mensch. Es symbolisiert die Vergangenheit durch die Wurzeln, die Gegenwart durch seinen Stamm und die Zukunft mit seinen Ästen. Es ist genau das Logo, das zu unserem Paradigma passt.

Wir werden die Botschaft vermitteln, dass wir unsere Völker nicht alternativlos gegen alle Arten von politischen Verschwörungen zurücklassen werden, dass wir vor einer großen Herausforderung stehen und dass wir die Kraft des Wandels sind. Wir werden den aufregendsten und vielversprechendsten Wahlkampf aller Zeiten führen. Wir sind voller Enthusiasmus und in großer Begeisterung. Trotz der Repression werden wir die Botschaft vermitteln, dass wir hier sind und gemeinsam etwas verändern werden. Und das werden wir definitiv erreichen.

Quelle: ANF 29.3.2023, https://anfdeutsch.com/aktuelles/hdp-vertreter-es-geht-um-den-sturz-des-ein-mann-regimes-36856

Abb. (PDF): Logo der Grünen Linkspartei