Politische Berichte Nr.2/2023 (PDF)06
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Frankreich: Verfassungsrat entscheidet über Rentengesetz

01 OECD: Daten zu den Renten

Matthias Paykowski. Karlsruhe.

Die Erhöhung des Rentenalters und die Verlängerung der Beitragszeiten ist beschlossen. Bis kurz vor der Abstimmung in der Nationalversammlung war eine ausreichende Zustimmung durch die Republikaner (LR) unsicher. Um eine drohende oder vermutete Abstimmungsniederlage zu verhindern, zog die Regierung den Gesetzesparagraf 49.3. Dessen Bekanntheitsgrad hat sich damit auch hierzulande deutlich erhöht. De Gaulle hatte 1958 die Aufnahme dieses Artikels in die Verfassung durchgesetzt, um eine parlamentarische Blockade durch die Opposition zu verhindern.

Die auf 49.3 folgenden Misstrauensanträge der Opposition fanden keine Mehrheit, und auch Macron hält aktuell weiter an der Regierung fest. Sowohl Opposition als auch Regierung haben den Verfassungsrat angerufen, um die Rechtmäßigkeit des Gesetzes prüfen zu lassen. Der Verfassungsrat wird seine Entscheidung am 14. April bekanntgeben. Es scheint unwahrscheinlich, dass er das Gesetz komplett ablehnt.

Zeitgleich mit den Misstrauensanträgen haben 252 Abgeordnete und Senatoren der Opposition im Rahmen von Artikel 11 der französischen Verfassung einen Gesetzentwurf eingebracht. Er soll ein Referendum ermöglichen, mit dem Ziel, „dass das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht über 62 hinaus festgelegt werden darf.“ Ein solches Referendum benötigt die Unterstützung von einem Fünftel der Abgeordneten und einem Zehntel der registrierten, das sind ca. 4,5 Mio. Wähler, sowie auch eine Bestätigung durch den Verfassungsrat.

Die Gewerkschaften haben mit weiteren Streiktagen ihren Protest fortgesetzt, Ende März erstmals mit leicht rückläufiger Beteiligung. Für den 6. April wird zu einem weiteren landesweiten Streiktag mobilisiert. Am 5. April hat Ministerpräsidentin Borne die Gewerkschaften zu einem Treffen eingeladen, danach die in der Nationalversammlung vertretenen Parteien.

Sollte der Verfassungsrat das Gesetz durchwinken und keine wesentlichen Änderungen verlangen, kann Macron das Gesetz unterzeichnen. Es sieht nicht so aus, als wäre er bereit, auf Angebote und Forderungen einzugehen, wie sie Laurent Berger, der Vorsitzende der CFDT, gemacht hat, um die Konfrontation zu entschärfen. Berger schlägt eine „Pause“ für das Gesetz und eine Mediation vor. Macron lehnt das ab.

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Der im Gesetzentwurf von der Regierung aufgenommene sogenannte Seniorenindex sollte die Unternehmen ab einer bestimmten Größe zur Rechenschaft zwingen, wieviel ältere Arbeitsnehmer sie beschäftigen bzw. einstellen. Die Nationalversammlung hat dies mehrheitlich abgelehnt. Die Daten der OECD weisen darauf hin, dass der Anteil von 60- bis 64-Jährigen, die noch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, in Frankreich deutlich gegenüber den anderen Mitgliedsländern abfällt: in Frankreich nur noch ein Drittel dieser Beschäftigtengruppe, im OECD-Durchschnitt ist es die Hälfte. Sie werden aus dem Arbeitsprozess herausgedrängt, nicht mehr eingestellt, verschwinden in die Arbeitslosigkeit oder versuchen mit Ersparnissen die Zeit bis zur Rente zu überbrücken, die dann wegen der fehlenden Trimester nochmal später beginnt und auch mit eventuellen finanziellen Einbußen.

Zudem gibt es Kritik an den Arbeitsbedingungen für ältere Beschäftigte als nicht altersgerecht und unattraktiv. Die Stiftung Eurofound berichtet regelmäßig darüber und stellt für Frankreich strukturelle Defizite in den Bereichen „Tragen schwerer Lasten“ sowie „schmerzhafte Positionen bei der Arbeit“ fest.

Die Rente genießt ein besonderes Augenmerk in der französischen Gesellschaft, und vor allem auch in den Gewerkschaften. Sie ist erstrebenswertes Ziel, um endlich Hierarchien und Organisation der Arbeit zu entkommen, Freiheit und Unabhängigkeit zu genießen – ein Mythos, der sich aus den Erfahrungen des Arbeitslebens und in Abgrenzung dazu speist. Die französische Fabrik und das Arbeitsleben sind stärker noch von den Hierarchien, vom Patron geprägt, und die gewerkschaftliche Gegenwehr ist oftmals nur schwach.

Ein anderer Teil des Protests kommt aus den Berufsgruppen, deren Spezialregimes abgeschafft werden sollen. Der französische Soziologe Jean Viard: „In Frankreich geht man zwischen 53 und 57 Jahren in Rente, wenn man bei der Staatsbahn SNCF, den Pariser Verkehrsbetrieben RATP oder beim Stromkonzern EDF arbeitet. Vor 100 Jahren hatte das noch seinen Grund, denn die Männer in den Zügen schaufelten Kohle und arbeiteten in großer Hitze. Doch heute ergeben diese Privilegien keinen Sinn mehr.“

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OECD: Daten zu den Renten

Alle zwei Jahre untersucht die OECD die Rentensysteme ihrer 38 Mitgliedsstaaten. Die Länder sind sehr unterschiedlich, die Systeme unterschiedlich und komplex, der Raum für politische Interpretation entsprechend. Kriterien sind aber z.B. unter dem Begriff soziale oder die finanzielle Nachhaltigkeit gefasst. So sind Daten zur Altersarmut ein Indikator sozialer Nachhaltigkeit, je weniger Altersarmut desto nachhaltiger das Rentensystem.

Bruttoinlandsprodukt: Nur Italien und Griechenland geben einen noch höheren Anteil des BIP für die Alterssicherung aus, Frankreich etwa 14 % und 40 % des Sozialhaushaltes. Da die französische Diskussion sich vor allem darum dreht, wie in Zukunft ein finanzielles Defizit der Rentenkassen vermieden werden soll, hatte Macron sich 2022 auf die Stellschrauben Renteneintrittsalter und Beitragsdauer festgelegt. Die 2017 ursprünglich geplante systemische Änderung, die nicht nur die Abschaffung der Spezialkassen vorsah, sondern auch die Zusammenführung der Vielzahl von privaten und öffentlichen Kassen in einem System, hatte er fallengelassen, wohl auch wegen der erwartbaren Komplikationen bei der Umsetzung.

Eine Senkung der Renten nach dem knappen Gewinn der Präsidentschaft 2022 kam nicht in Frage wegen der Wählerschaft. Rentner und Pensionäre sind wichtige Unterstützer der Regierungspartei.

Eine Erhöhung der Beitragssätze hätte auch die Wirtschaft über die Lohnnebenkosten der Unternehmen getroffen – eventuell mit Folgen für das wirtschaftliche Wachstum. Die Beitragsätze zur Rentenkasse mit 28 % gehören zu den hohen in der OECD (Deutschland 18,6 % – ohne den Bundeszuschuss zur RV).

Verbleibende Lebenserwartung: laut OECD beträgt die durchschnittlich verbleibende Lebenserwartung nach Renteneintritt 23,5 Jahre bei Männern und 27,1 Jahre bei Frauen. Zum Vergleich Deutschland: 20,1 Jahre Männer, 23,1 Jahre Frauen. Nur griechische Frauen erreichen im Durchschnitt der OECD noch eine höhere Erwartung mit 28,4 Jahren.

Beschäftigungsquote: Die Beschäftigung im Alter, zwischen 55 bis 59 Jahre hat laut OECD deutlich zugenommen, aber bei den 60- bis 64-Jährigen liegt Frankreich deutlich zurück mit 33,1 %. Zum Vergleich: der OECD-Durchschnitt liegt bei 50,7 %, Griechenland 34,6 %, Italien 41,1 %, Deutschland 61,8 %.

Quelle: OECD Bibliothek, https://www.oecd-ilibrary.org/finance-and-investment/pensions-at-a-glance-2021_ca401ebd-en