Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)32
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Felix Jaitner, Russlands Kapitalismus

Rezension Ulli Jäckel. Felix Jaitner untersucht in seinem Buch (einer erweiterten Neuausgabe von „Die Einführung des Kapitalismus in Russland“ von 2014) die Ursprünge des russischen politischen, ökonomischen und sozialen Systems in der postsowjetischen Transformationskrise der 1990er Jahre. Im Gegensatz zur im Westen verbreiteten Auffassung, nach dem diese Zeit für eine Ära der Liberalisierung und politischen Demokratisierung stehen, zeigt er, dass bereits 1991 mit der von keiner verfassungsmäßigen Instanz legitimierten Auflösung der Sowjetunion durch die Präsidenten von Russland, Belarus und der Ukraine der mit der Perestroika intendierten Demokratisierung eine Absage erteilt wurde. Dabei missachteten die Präsidenten den in einem Referendum geäußerten Volkswillen zum Erhalt der Sowjetunion unter einer neuen Verfassung.

Jaitner beschreibt, wie Jelzin im Zusammenhang mit der Zerschlagung des August-Putsches autoritärer pro-sowjetischer Kräfte 1991 weite Teile der alten Nomenklatura hinter sich brachte, um den Einfluss der erstarkenden Demokratiebewegung auf die wirtschaftliche und politische Umgestaltung zu verhindern:

„Die alte Nomenklatura unterstützte diesen Kurs bedingungslos. Erstens blieb Jelzin als einzige realpolitische Alternative übrig, der ihren Machterhalt garantierte. Zweitens eröffnete die von ihm vorgesehene Entwicklung eine Vielzahl von Bereicherungsmöglichkeiten.“ (S.56)

Die Freigabe der Preise, die Reduzierung der Kapitalverkehrskontrollen und die Abschaffung des staatlichen Außenh

andelsmonopols im Zusammenhang mit der Privatisierung der Staatsbetriebe führten neben der enormen Bereicherung von Wenigen zu katastrophalen sozialen Folgen für die Masse der Bevölkerung.

Im Bereich des Außenhandels führte der Einbruch des innersowjetischen Handels und des Handels mit den RGW-Ländern dazu, dass Russland weitgehend auf die Funktion eines Rohstofflieferanten für die Industrieländer beschränkt wurde. Es bildete sich ein ressourcenextraktivistisches Produktionsmodell heraus, deren Nutznießer (die „Oligarchen“) wenig Interesse an einer fortschreitenden Industrialisierung des Landes haben, die ihre Machtbasis beschränken würde.

Als sich ab 1992 eine Opposition gegen die Schocktherapie und die Ausrichtung des Wirtschaftsmodells durch die Politik Jelzins im Obersten Sowjet zu Worte meldete und einige Gesetzesvorhaben der Jelzin-Administration blockierte, kam es zum offenen Konflikt: Unter dem Beifall des Westens ließ Jelzin die Armee das Parlament beschießen, das sich ergab. Mit der darauffolgenden Durchsetzung einer präsidentiellen Verfassung wurden autoritäre Herrschaftsverhältnisse in Russland installiert, bei denen es vor allem um den Weg zur Durchsetzung der Privatisierung des sozialistischen Eigentums und der endgültigen Einführung des Kapitalismus ging.

Eine – vom IWF und seinen Beratern befeuerte – zweite Privatisierungswelle 1995 bis 1997 führte zur weiteren Konzentration der Besitzverhältnisse und zur Festigung des extraktivistischen Gesellschaftsmodells. Der weitere Abbau sozialer Rechte in diesem Zusammenhang, auf den die Betroffenen z.T. mit großen Streikbewegungen reagierten, führte zu einem rapiden Popularitätsverlust Jelzins, demgegenüber sich die KPRF mit Kritik an dem Verlauf der wirtschaftlichen Transformation profilieren konnte. Nur eine massive finanzielle und publizistische Unterstützung von Jelzins Wahlkampf durch die Profiteure seiner Politik – darunter Michail Chodorkowski – konnte seine Wahlniederlage gegen den KP-Kandidaten Sjuganov verhindern. Besondere Unterstützung erhielt Jelzin auch von der Kohl-Regierung, die ihm im Jahr des Wahlkampfes einen ungebundenen 4-Milliarden Kredit gewährte. Den Wahlsieg Jelzins bejubelte Kohl dann als „Unterstützung für den demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformprozess“.

In der Folge der Wahlen erhöhte sich die Verflechtung von staatlichen Organen und den finanziellen Profiteuren erneut, oder, wie es der beteiligte Banker Potanin ausdrückte: „Die einst allmächtige Regierung gibt es nicht mehr. Gesetz und Ordnung sind privatisiert.“ Jaitner beschreibt, wie die Oligarchen durch die Privatisierung der staatlichen Unternehmen, die nur 17,2% der geplanten Einnahmen erbrachte und die Spekulation mit Staatsanleihen den Staat ausplünderten, wobei sie einen großen Anteil der Profite ins Ausland transferierten.

Diese Entwicklung führte 1998 im Zuge der Asienkrise und des damit einhergehenden Verfalls der Rohstoffpreise zur massiven Abwertung des Rubels und schließlich zum Staatsbankrott. Angesichts der drohenden Destabilisierung des gesamten Systems war „die Existenz aller Hüter des ressourcenextraktivistischen Produktionsmodells“ bedroht. (S.145) Unter Putin wurde daher ein neuer Kompromiss zwischen Regierung und Oligarchen erzielt. Der Staat übernahm

„eine aktivere Rolle in der Organisation und Regulierung der Wirtschaft, ohne freilich seine Rolle als Lobbyist für nationale Unternehmen aufzugeben oder gar von einer neoliberalen Wirtschaftspolitik abzurücken.“

Dieser Kompromiss wurde gegen den Widerstand eines Teils der Oligarchen, darunter Chodorkowski, durchgesetzt.

Durch die staatliche Kontrolle über die Gas- und Ölförderung (Gazprom und Rosneft) erhöhte der Staat seine Einnahmen, wurde aber zugleich zu einem wesentlichen Exponenten des extraktivistischen Produktionsmodells. Die Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf sollten das Wirtschaftswachstum und den Konsum befördern und die Abhängigkeit von IWF-Krediten beenden. Gelang so zunächst eine Stabilisierung, so geriet das System im Gefolge der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 erneut in eine Rezession, deren soziale Folgen 2011-13 zu einer erneuten Protestwelle führten. Auf diese regierte der Staat mit einer weiteren Verstärkung des autoritären Sicherheitsstaates. Bereits im Zuge der Kampfhandlungen im Nordkaukasus (Tschetschenien) war es zu einer Militarisierung der Innenpolitik gekommen, der Krieg gegen die Ukraine führt zu einer weiteren Verschärfung des Ausnahmezustands, mit dem jede oppositionelle Tätigkeit unterdrückt wird.

„Russlands autoritäre Entwicklung ist kein zufälliger Prozess oder einzig ein Produkt der Präsidentschaft Wladimir Putins, sondern das Resultat gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in den 1990er-Jahren. (…) Mit dem Übergang zu Putin beginnt eine Phase der Konsolidierung des herrschenden Blocks.“ (S.168) „Dennoch gelang es der Putin-Administration nicht, die strukturellen Widersprüche des russischen Kapitalismus effektiv zu bearbeiten.“ (S.170).

Diese Ansicht wird von Lutz Brangsch (rls) bestätigt:

„Russland befindet sich seit mehr als 20 Jahren in einem Prozess der Suche nach einem Weg zu einem eigenen tragfähigen Entwicklungsmodell. Erst vor wenigen Wochen hat Putin auf dem Weltwirtschaftsforum in Sankt Petersburg die Umrisse dieses Ziels umschrieben – eine moderne Volkswirtschaft in einer multilateralen Weltwirtschaftsordnung, dominiert von den Interessen einer innovationsorientierten Unternehmer*innenschaft, gestaltet von einem paternalistisch-konservativen Staat. Im Kern ist es ein neoliberales Projekt einer angebotsorientierten Ökonomie, frei von Gewerkschaften und sozialer Opposition.“

(Lutz Brangsch, Nach dem Wagner Aufstand, ND 28.6.23)

„Was (…) geblieben ist, sind die Hemmnisse für eine Belebung der nichtextraktiven Sektoren der Wirtschaft. Diese liegen innerhalb des Landes in der politisch-institutionell befestigten Macht des Finanzsektors und der Rohstoffwirtshaft begründet, außerhalb Russlands im Konkurrenzdruck der technologisch überlegenen Unternehmen, die die Entwicklung der innovativen Sektoren in Russland einschränkt.“

Lutz Brangsch, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wer-hat-die-macht-in-russland).

Felix Jaitner, Russlands Kapitalismus – Die Zukunft des „System Putin“, Hamburg (VSA) 2023. Demnächst erscheint vom Autor „Öl & Gas: Russlands Entwicklungsmodell“, Hamburg (VSA) 2023

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