Politische Berichte Nr.05/2023 (PDF)18
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

Tarifautonomie – Tarifbindung – Tariftreuegesetz

Bruno Rocker, Berlin

Am 8. September dieses Jahres traf Minister Hubertus Heil im Bundestag im Rahmen der Debatte zum Etat des Ministeriums für Arbeit und Soziales die folgende Aussage:

„Heute sind nur noch knapp die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland unter dem Dach eines Tarifvertrages. Deshalb werde ich noch in diesem Jahr ein Tarifstärkungs- und Tariftreuegesetz vorlegen. Wir werden dafür sorgen, dass öffentliche Aufträge des Bundes nur noch an die Unternehmen gehen, die nach Tarifvertrag zahlen. Und wir ergreifen rechtliche Maßnahmen gegen Tarifflucht.“

Eine neue Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) kritisiert die Vorhaben und beklagt dabei zuallererst das Vorhaben der staatlichen Anordnung der Tarifbindung. Der Minister schere sich dabei nicht um Tarifparteien und Tarifautonomie, lautet der Vorwurf. Sodann kritisiert die Studie, dass die eigentliche Tarifbindung nur unzureichend statistisch erfasst wird. Zwar werden die Beschäftigten der Betriebe mit Tarifbindung (Anteil = 25 Prozent) erfasst. Tatsächlich jedoch haben Beschäftigte einen festen Anspruch auf tarifvertragliche Leistungen nur dann, wenn sie der Gewerkschaft angehören. Dies entspricht in der Tat den Bestimmungen des Tarifvertragsgesetzes. Die Aussage ist korrekt. In der Mitgliederwerbung z.B. der IG Metall heißt es deshalb auch, Nichtmitglieder sind von der Gnade des Arbeitgebers abhängig, nur Mitglieder haben einen tatsächlich einklagbaren Rechtsanspruch auf tarifvertragliche Leistungen. Dem arbeitgebernahen Institut IW geht es in seiner Studie natürlich nicht um mehr Gewerkschaftsmitglieder. Sie argumentieren vielmehr damit, dass die Messung des tatsächlichen Anteils nur der originär tarifgebundenen Beschäftigten nicht höher sein kann als der reale Organisationsgrad der Gewerkschaften in den Betrieben. Die FAZ titelte am 19. September dieses Jahres deshalb sogleich ihren Bericht über die Studie des IW-Instituts mit der Schlagzeile: „Nur noch 15 Prozent Tarifbindung.“

Die Gefahren, die der Gewerkschaftsbewegung aus der negativen Entwicklung der Mitgliederzahlen entstehen, lassen sich durch Forderungen nach einem Tariftreuegesetz oder nach mehr Festschreibung „allgemeinverbindlicher Tarifverträge“ kaum aufhalten. Auch die Forderungen aus manchen Gewerkschaften, Steuervorteile für beitragszahlende Beschäftigte zu gewähren oder bestimmte Tarifbestandteile nur Mitgliedern zukommen zu lassen, um die Mitgliederwerbung zu erleichtern, sind zwiespältige Anliegen. Der Erhalt und der Gebrauch der Tarifautonomie als grundgesetzlich geschütztes Recht bedeutet auch Erhalt von Demokratie. Anstrengungen und Projekte zur Mitgliederwerbung, zur Betriebsratsgründung und für Tarifverträge bleiben elementar und unverzichtbar.

Auch 2023 Reallohnverluste

Der aktuellen Halbjahresbilanz des WSI-Instituts der Hans –Böckler-Stiftung zufolge sinken die Reallöhne auch 2023 um ca. 1,7 Prozent. Die bisherigen nominalen Tariferhöhungen blieben hinter den teilweise erheblichen Preissteigerungen zurück. Allerdings konnten in die Berechnungen die gezahlten Inflationsausgleichsprämien dabei nicht in vollem Umfang berücksichtigt worden, weil die Wirkung je nach individuellem Steuersatz unterschiedlich ist. Lediglich für einzelne Tarifbranchen zeigen Modellrechnungen des WSI den teilweise doch deutlichen Effekt der gezahlten Inflationsausgleichsprämien. Da es sich jedoch um Einmalzahlungen handelt, wirken sie sich nach Wegfall in den Folgejahren wiederum dämpfend auf die Lohnentwicklung aus. Für den weiteren Jahresverlauf in 2023 rechnet das Institut allerdings auch insgesamt mit einer positiveren realen Lohnentwicklung, weil die Inflationsrate aktuell sinkt und weiter absinken dürfte.

Verhandelt wird noch für den Einzelhandel sowie den Groß- und Außenhandel. Ferner beginnt im zweiten Halbjahr u.a. auch noch die Tarifbewegung für den öffentlichen Dienst in den Ländern.

Werkverträge in Paketbranche verbieten!

Ein neues Gutachten des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung wendet sich gegen Werkverträge in der Paketbranche:

Die Paketbranche wächst. Die Anzahl der jährlich versendeten Pakete hat sich in den letzten 10 Jahren auf 4,5 Milliarden mehr als verdoppelt. Trotz Rekordumsätze haben sich die prekären Arbeitsbedingungen in der Paketzustellung vom Depot zum Empfänger (letzte Meile) weiter verfestigt. Ein Teil der Paketdienstleister lagert die Zustellung über Werkverträge auf immer mehr Subunternehmen aus. Subunternehmen werden regelmäßig auffällig durch Verstoß gegen die Pflicht zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns, Umgehung des Kündigungsschutzes sowie Nichteinhaltung des Arbeitszeitgesetzes. Die Unternehmensstrukturen sind undurchsichtig. Eingesetzt werden häufig Drittstaatsangehörige mit unsicherem Aufenthaltsstatus und geringen Deutschkenntnissen.

Das kann so nicht bleiben! In Anlehnung an die Fleischwirtschaft, wo aufgrund vergleichbarer Missstände der Gesetzgeber den Einsatz von Fremdpersonal im Kernbereich der Branche untersagt hat, zeigt das HSI-Gutachten: Ein Verbot von Werkverträgen in der Paketbranche ist möglich und ein „Direktanstellungsgebot“ wäre sowohl mit Verfassungs- als auch mit EU-Recht vereinbar. Abb. (PDF):

Christiane Schneider Hamburg. Knapp 1 000 Rentnerinnen und Rentner...

... folgten am 2. September einem Aufruf der Sozialverbände AWO und SoVD, der Verdi-Senior:nnen und der Seniorenbeiräte aus drei Bezirken und demonstrierten für 3 000 Euro Inflationsausgleich durch die Hamburger Innenstadt. Über 31 000 Menschen müssen in dieser reichen Stadt Grundsicherung beantragen, die Altersarmut nimmt angesichts der Inflation dramatische Züge an. Verdi bereitet eine Petition an den Bundestag vor mit der Forderung nach Inflationsausgleich, für die 50 000 Unterschriften zusammenkommen müssen. (Foto im PDF)