Politische Berichte Nr.05/2023 (PDF)30
Kalenderblatt

Kalenderblatt: 10. März 1987 UNO – UN-Menschenrechtskommission: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen

01 dok 1 (Auszug) Die Menschenrechtskommission …
02 Amnesty international 29.2.1988:
03 Vereinigung der Menschenrechtsanwälte 31.12. 1987:
04 Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der BRD
05 Gewissen und Gehorsam

Von Eva Detscher, Martin Fochler, Rosemarie Steffens, Matthias Paykowski

Eva Detscher, Karlsruhe. „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“ – Mit diesem Hitler-Zitat leitete Ludwig Baumann seine Rede zur Einweihung der Installation Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg (Berlin) am 8. Mai 2002 ein. Baumann war am 3. Juni 1942 in Bordeaux aus der deutschen Kriegsmarine desertiert. Er wurde verhaftet, zum Tode verurteilt, nach Monaten in der Todeszelle wurden daraus 12 Jahre Zuchthaus. Er machte den Kampf für die Aufhebung der Unrechtsurteile gegen Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“, Selbstverstümmler und andere Opfer der NS-Militärjustiz zu seiner Lebensaufgabe. Mit dem Beschluss der UN-Menschenrechtskommission 1987 wurde das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch um die Begründung der Gewissenfreiheit u.a. gemäß Artikel 18 des Zivilpakts (s.u.) erweitert. Sowohl das Individuum als auch einzelne Staaten haben dadurch einen global gültigen Bezugspunkt für die Verweigerung des Dienstes an der Waffe. Vorausgegangen waren etliche Befassungen mit Einzelfällen aus Staaten vor verschiedenen Gremien der UN. Insbesondere sei hier auf den Fall Südafrika verwiesen, wo sich das erste Mal ein Staat für die Praxis der Verpflichtung zum Wehrdienst („… jeder männliche Staatsbürger europäischer Abstammung…“) vor der UN rechtfertigte. Viele Staaten, vor allem in Westeuropa, haben die Wehrpflicht abgeschafft. Wehrpflicht-Armeen eignen sich weniger für Interventionskriege – an ihre Stelle kommen Berufsarmeen und Söldnertruppen. Dort gelten andere Befehlsketten, das Recht auf Verweigerung wird daher noch viele Herausforderungen meistern müssen.

Matthias Paykowski, Karlsruhe. Auswahl der Dokumente und Übersetzung mit Hilfe DeepL. DOK 1, Resolution: https://wri-irg.org/en/story/1987/conscientious-objection-military-service-resolution-198746. DOK 2, NGOs: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G88/142/75/pdf/G8814275.pdf?OpenElement

01

dok 1 (Auszug)

Die Menschenrechtskommission

in der Erkenntnis, dass die Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen, einschließlich tiefer Überzeugungen, die auf religiösen, ethischen, moralischen oder ähnlichen Motiven beruhen, erfolgt,

1. appelliert an die Staaten, anzuerkennen, dass die Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen als legitime Ausübung des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit angesehen werden sollte, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte anerkannt ist;

2. fordert die Staaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, die auf die Befreiung vom Militärdienst auf der Grundlage einer echten Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen abzielen;

3. empfiehlt den Staaten mit einem System der Wehrpflicht, sofern dies nicht bereits geschehen ist, die Einführung verschiedener Formen des Ersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen in Erwägung zu ziehen, die mit den Gründen für die Verweigerung aus Gewissensgründen vereinbar sind, wobei die diesbezüglichen Erfahrungen einiger Staaten zu berücksichtigen sind, und davon abzusehen, diese Personen einer Haftstrafe zu unterwerfen;

4. empfiehlt den Mitgliedstaaten, sofern sie dies noch nicht getan haben, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung unparteiische Entscheidungsverfahren einzuführen, um festzustellen, ob eine Verweigerung aus Gewissensgründen in einem bestimmten Fall gültig ist;

5. ersucht den Generalsekretär, der Kommission auf ihrer fünfundvierzigsten Tagung über die Frage der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen Bericht zu erstatten und dabei die von den Regierungen übermittelten Bemerkungen und die bei ihm eingegangenen weiteren Informationen zu berücksichtigen;

6. beschließt, diese Angelegenheit auf seiner fünfundvierzigsten Tagung unter dem Tagesordnungspunkt „Die Rolle der Jugend bei der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte, einschließlich der Frage der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen“ weiter zu prüfen.

DOK 2 Nach dem Beschluss der Menschenrechtskommission von März 1987 sind Staaten, Internationale Organisationen und NGO aufgefordert, Stellung zu nehmen. Hier zwei Auszüge aus: VI. Ansichten von Nichtregierungsorganisationen:

02

Amnesty international 29.2.1988: Die Empfehlung Nr. R (87) 8 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten des Europarates über die Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen vom 9. April 1987 bezieht sich zwar nicht ausdrücklich auf das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, befürwortet aber in ähnlicher Weise die Einführung eines Ersatzdienstes. Er empfiehlt auch, dass ein solcher Dienst „keinen Bestrafungscharakter haben darf. Seine Dauer muss sich im Vergleich zum Militärdienst in vernünftigen Grenzen halten“. Das Europäische Parlament ging in seiner Entschließung vom 7. Februar 1983 noch weiter und vertrat als erstes internationales Gremium die Auffassung, dass der Ersatzdienst nicht länger sein sollte als der normale Militärdienst.

03

Vereinigung der Menschenrechtsanwälte 31.12. 1987: Human Rights Advocates (HRA) schlägt vor, … dass eine Dienstbefreiung nicht nur für Verweigerer erforderlich ist, die sich weigern, an jeglichem Einsatz von Waffengewalt teilzunehmen, sondern auch für diejenigen, die sich weigern, an einem Einsatz von Waffengewalt teilzunehmen, der entweder aufgrund seines Zwecks oder seiner Mittel gegen die allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts verstößt. (Siehe Empfehlungen des Berichts der Unterkommission, E/CN.4/Sub. 2/1983/30, paras. 155-160) … Der Internationale Militärgerichtshof betonte, dass „das Wesen der [Nürnberger] Charta darin besteht, dass der Einzelne internationale Pflichten hat, die über die nationalen Gehorsamspflichten hinausgehen, die der einzelne Staat auferlegt“. Die Nürnberger Prinzipien 1V und VII besagen, dass alle Personen, die internationale Verbrechen begehen oder an deren Begehung beteiligt sind, für diese Verbrechen verantwortlich sind, auch wenn sie auf der Grundlage höherer Befehle gehandelt haben.

Abb. (PDF): Ludwig Baumann am Denkmal des Unbekannten Deserteurs. Das Mahnmal war am 26. April 1986 von der Bremer Gruppe „Reservisten verweigern sich“ in der Fußgängerzone enthüllt worden, im Oktober wurde es dem Bürgerhaus Bremen Vegesack übergeben.

Foto: de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Baumann_(Wehrmachtsdeserteur). Info: /erinnerungsorte.org/miejsca_niemcy/bremen-deserteur-denkmal/

04

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der BRD

Rosemarie Steffens, Langen. Kriegsdienstverweigerung war bis Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland nur als Desertion möglich, wurde als Landesverrat und Fahnenflucht mit schweren Zuchthausstrafen, im Zweiten Weltkrieg als „Wehrkraftzersetzung“ mit Erschießen geahndet. Das Grundrecht auf Kriegs- bzw. Wehrdienstverweigerung wurde im Parlamentarischen Rat 1948 von der SPD unter dem zeitlich noch nahen Eindruck des verbrecherischen deutschen Angriffskriegs beantragt und trat 1949 nach langer Debatte in Kraft. Abgeleitet aus Art. 1 GG, der Religions- und Gewissensfreiheit, sagt Art. 4 Abs. 3 GG: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Die Bundesrepublik Deutschland war der erste Staat weltweit, der dieses Recht zum Grundrecht erklärte. Viele europäische Länder folgten.

Einer der ersten Kriegsdienstverweigerer der Nachkriegszeit war 1957 der 19-jährige Werner Zrenner aus München. Sein Vater, Leander Zrenner, hatte 1941 aus biblischen Gründen den Wehrdienst verweigert und war hingerichtet worden. Das Bundesverfassungsgericht urteilte 1960, dass auch die Ausbildung zum Kriegsdienst an der Waffe, der Wehrdienst, verweigert werden darf. Diejenigen, die vor 1968 lieber Zivildienst leisten wollten, wurden lange als „Drückeberger“ geächtet, was Politik und Justiz noch zementierten, indem sie die Deserteure der NS-Wehrmacht bis 2009 nicht rehabilitierten.

Das Wehrpflichtgesetz, verabschiedet 1956 im Zuge des Aufbaus der Bundeswehr, schränkte das Recht auf Verweigerung erheblich ein. Nach § 1 WPflG waren grundsätzlich alle deutschen Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an wehrpflichtig, Gewissensprüfung und unattraktive Alternativdienste sollten die Zahl der Verweigerer regulieren. Die Anerkennungsquote sank, Hunderte wurden mit Gefängnis bestraft.

Studentenbewegung und Vietnamkrieg ließ die Zahl der Verweigerer steigen, viele verbrannten ihre Wehrpässe öffentlich und verweigerten Befehle. In der BRD wandten sie sich gegen die Gewissensprüfung, die erst 2003 in Deutschland und anderen Ländern der Europäischen Union abgeschafft wurde. 2011 wurde die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland beschlossen.

Im Jahr 2022 haben sich die Anträge auf KDV von 209 auf 951 aufgrund des Ukraine-Kriegs fast verfünffacht. Viele Antragsteller sind Ungediente. (BAfZA)

Quellen: Bundeszentrale für Politische Bildung, bpb.de/themen/militaer/deutsche-verteidigungspolitik/216758/kriegsdienstverweigerung-und-zivildienst/, Wikipedia, de.wikipedia.org/wiki/Kriegsdienstverweigerung_in_Deutschland. G. Grünewald/G. Knebel, Geschichte der Kriegsdienstverweigerung. https://ebco-beoc.org/sites/ebco-beoc.org/files/kdvgeschichtegggk2000.pdf, siehe auch: PB 2/2022 Seiten 10 und 17

05

Gewissen und Gehorsam

Martin Fochler, München. Die (Un-)kultur des blinden Gehorsams findet eine Begründung in der Operationsweise der Massenheere der Moderne, in diesen großen Schlachten kommt es nicht mehr nur auf Zusammenhalt der kämpfenden Einheit („Wir lassen keinen im Stich“) an. Wo vom Feldherrnhügel aus entschieden wird, dass die Schwadron A geopfert werden muss, um die feindliche Batterie (B) zu nehmen, weil sonst der Feind die Frontline (C) durchbrechen könnte, wird die persönliche Bereitschaft zum Einsatz des eigenen Lebens in der sogenannten Befehlskette Verfügungsmasse der Vorgesetzten.

Dass und wie ein solches System durch Strafandrohungen zusammengehalten wird, beschreibt das Militärstrafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 18721 in insgesamt 166 Paragrafen. Im 6. Abschnitt, § 89 bis 113, wird ausgeführt, was „strafbare Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung“ sind. Untergebene haben widerspruchslos zu gehorchen. Sie können sich allenfalls nach Ausführung des Befehls beschweren. Immerhin wird die damit gegebene Möglichkeit des „Missbrauchs der Dienstgewalt“ (Abschnitt 7), § 114 bis § 126 ebenfalls unter Strafe gestellt:

§ 114. Wer es unternimmt, durch Missbrauch seiner Dienstgewalt oder seiner dienstlichen Stellung einen Untergebenen zur Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung zu bestimmen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahre bestraft.“

In dieser Rechtslage wird ein Untergebener nicht bestraft, wenn er auf Befehl eine Straftat begeht, wohl aber, falls und weil er diese Straftat nicht begehen wollte. So war der Boden für die verbrecherischen Vernichtungskriege des NS-Regimes bereitet. Die Vorschrift legt das Gewissen des Untergebenen lahm, ihm steht ein Urteil über Handlungen, die er begeht, unter keinen Umständen zu.

Dieses teils rechtlich gefasste, teils eindressierte Organisationsprinzip wurde in der BRD nach der Niederlage des NS-Regimes relativiert. Versuche von NS-Verbrechern, sich durch Berufung auf Befehl von oben aus der Verantwortung herauszustehlen, wurden nicht hingenommen. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wurde verankert, das Leitbild des Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“ erarbeitet, und im Soldatengesetz2 heißt es nun:

§ 11, Gehorsam (1) Der Soldat muss seinen Vorgesetzten gehorchen. Er hat ihre Befehle nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen. Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist; die irrige Annahme, es handele sich um einen solchen Befehl, befreit den Soldaten nur dann von der Verantwortung, wenn er den Irrtum nicht vermeiden konnte und ihm nach den ihm bekannten Umständen nicht zuzumuten war, sich mit Rechtsbehelfen gegen den Befehl zu wehren.

(2) Ein Befehl darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. Befolgt der Untergebene den Befehl trotzdem, so trifft ihn eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird.“

In dieser neuen Konstruktion spielt des politische-moralische Urteil des Einzelnen eine Rolle. Durch die Bestimmung in Satz 2, „nach den ihm bekannten Umständen …“ kommt aber auch das Ganze der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung – eben die Umstände –, zum Tragen. Zwar schreibt das Soldatengesetz vor:

„§ 8 Der Soldat muss die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes anerkennen und durch sein gesamtes Verhalten für ihre Erhaltung eintreten.“

Leider relativiert die Formel für „Eid und feierliches Gelöbnis“ diese Bindung:

§ 9 Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“

Als „Recht des deutschen Volkes“ können mühelos Ansprüche auf die Rechte anderer Staaten und Menschen propagiert werden.

Die Aufgabe der Entmilitarisierung der Außenpolitik ist somit gestellt. Eine präzise Definition dessen, was „Verteidigung“ sein kann, ist zu erarbeiten und bis ins Soldatengesetz und Eidesformel hineinzukonkretisieren.

Das Austüfteln solcher gesetzlichen Rahmungen kann nicht den Soldatinnen und Soldaten aufgebürdet werden, das ist Sache der politischen Öffentlichkeit und des Gesetzgebers und kann unter Rückgriff auf die durch Beschlüsse und Diskussion der UNO entwickelten globalen Normen angegangen werden.

Denn das Gewissen der Einzelnen braucht Haltepunkte, es geht um die im Soldatengesetz angesprochenen „bekannten Umstände“, also um das, was zum gegebenen Zeitpunkt jeder und jede wissen kann.

1 de.wikisource.org/wiki/Milit%C3%A4r-Strafgesetzbuch_f%C3%BCr_das_Deutsche_Reich#%C2%A7._1 2 gesetze-im-internet.de/sg/SG.pdf