Politische Berichte Nr.01/2024 (PDF)04
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Meloni, wieder ein italienisches Experiment?

Paola Giaculli, Berlin

Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die sich „Ministerpräsident“ nennen lassen will, hat große Ambitionen. Nach fünfzehn Monaten Regierung bleibt die Zustimmung im Lande für ihre Partei Fratelli d‘Italia (FdI, Brüder Italiens) unverändert bei knappen 30 Prozent (28 bis 29) und für sie persönlich relativ hoch bei 44 Prozent als beliebteste Politikerin. Das liegt eher an der Schwäche der Opposition als an ihren eigenen Führungsfähigkeiten. Ungefähr 40 Prozent der Befragten äußern sich bei Umfragen nicht. So viele waren auch die Nichtwählenden 2022.

Im Wahlkampf hatte „La Meloni“ für ihren Nationalismus geworben, gegen Flüchtende eine Seeblockade versprochen und – an die EU gerichtet – „der Spaß ist vorbei“ angekündigt. Stattdessen wurde das Bürgergeld wie versprochen abgeschafft und dadurch die soziale Lage verschärft. Ein weiteres Vorhaben der Bewegung 5 Sterne, die staatlich finanzierte Energiesanierung der Gebäude, die unmittelbar nach der Pandemie zu einem Wiederaufschwung geführt hatte, ist eingestellt worden. Dieses Projekt hatte zu Arbeitsplätzen und Wiederbelebung der Wirtschaft in den insbesondere für die Baubranche stagnierenden Jahren zwischen 2008 und 2020 (laut dem nationalen Statistikinstitut ISTAT: BNP 2021 + 8,3 und 2022 + 3,7 Prozent) beigetragen. Nach der Suspendierung der Maßnahme stehen nun 350 000 betroffene Familien auf 40 000 offenen Baustellen.

Anders als versprochen wurde das 2012 (Regierung Monti) streng reformierte Rentensystem nicht gelockert, sondern verschärft, so dass die Verrentung insbesondere für Medizinpersonal in Zukunft noch schwerer werden soll. So werden wahrscheinlich viele versuchen, schneller als geplant in die Rente zu gehen – mit katastrophalen Folgen wegen des ohnehin bereits gravierenden Personalmangels, wie die Pandemie gezeigt hatte. Meloni behauptet, mehr für das Gesundheitssystem im Haushaltsgesetz angelegt zu haben, aber der bereits niedrige BIP-Anteil in diesem Bereich wird von 6,7 Prozent auf 6,1 (2026) sinken (Durchschnitt OECD-Länder und EU-Länder 7,1, Deutschland 10,9), und die Erhöhung der Ausgaben (+1,1 Prozent 2024–26) wird nicht einmal ausreichen, die durch die Inflation gestiegenen Kosten zu decken. „Ein Abgrund öffnet sich für das öffentliche Gesundheitssystem“, beklagt Nico Cartabellotta, Vorsitzender der Stiftung GIMBE, die sich unter anderem für die Gleichberechtigung und das verfassungsrechtlich gebotene Recht auf Gesundheit einsetzt.

Steuerentlastungen und eine regressive Fiskalpolitik werden die Staatseinkünfte verringern und laden eher zur Steuerhinterziehung ein, die ein chronisches Problem bleibt. Mehrwertsteuererhöhungen von 5 auf 10 Prozent u.a. für Babyprodukte treffen besonders die Geringverdienenden. Von einer Prämie (9,19 Prozent Lohnerhöhung) für beschäftigte Mütter werden nur Frauen mit unbefristeten Arbeitsverträgen und mindestens zwei minderjährigen Kindern, das heißt nur 6 Prozent der beschäftigten Frauen etwas haben. „Gott, Vaterland, Familie“? Fehlanzeige.

Auch im Süden wird es nicht besser. 1,1 Millionen Menschen haben die Region seit 2002 verlassen. Die Kaufkraft ist dramatisch gesunken, 9,7 % der 5,6 Millionen italienischen Armen leben dort, die Inflation war 2022 mit 2,9 Prozent doppelt so hoch wie im Norden. 2023 sind die italienischen Reallöhne um 10,4 Prozent aufgrund der Inflation gesunken. Kaum eine Strategie ist in Sicht, während der Minister für Transport und Infrastruktur und Lega-Chef Matteo Salvini, 12 Milliarden Euro für den Aufbau der berüchtigten Brücke zwischen Kalabrien und Sizilien plant. Diese soll von den beiden Regionen selbst und ohne Unterstützung aus Rom bezahlt werden, nur mit Mitteln aus dem EU-Kohäsionsfonds, obwohl nach wie vor essenzielle Infrastrukturen immer noch fehlen.

Besonders hart für den Süden wäre das umstrittene Vorhaben der differenzierten Autonomie, deren Kritiker es als reine Sezession bezeichnen: die Regionen sollen über bis zu 23 Bereichen von Gesundheit bis Bildung selbstständig entscheiden – und damit auch bezahlen. Es wäre der Supergau für ein einheitliches öffentliches Gesundheitssystem. Gleiche Rechte und gleichwertige Dienstleistungen überall in Italien wären nicht zu garantieren. Unternehmensverbände sprechen von einer Balkanisierung, die Staatsbank fragt sich, was aus der vorgeschriebenen Umverteilung wird, und selbst die Europäische Kommission hegt Bedenken. Wenn der Etat in den Händen der Regionen liegt, wer hätte dann die Verschuldung zu verantworten? „Das Ende von nationaler Solidarität und Einheit, eine radikale Infragestellung der Souveränität Italiens“ – ein Paradoxon für eine Möchtegernpatriotin wie Meloni. Das Vorhaben ist ein Teil eines gefährlichen Kuhhandels mit der Lega – Premierato heißt das –, Meloni erhält dafür eine Verfassungsreform, bei der der Regierungschef „vom Volk gewählt“ würde. Die Rolle des Staatspräsidenten als Verfassungsgarant würde nichtig gemacht. Für eine Zweidrittelmehrheit, über die die Regierung nicht verfügt, bräuchte sie die Opposition bzw. ein Bestätigungsreferendum.

Parallel werden identitäre Demonstrationen der faschistischen Nostalgie weitgehend toleriert. Das rechtlich-öffentliche Fernsehen ist de facto „gereinigt“ worden, das soll der neuen „kulturellen Hegemonie“ entsprechen. Es scheint eine Art Rache gegen die aus der Niederlage des Nazifaschismus und der Verfassung entstandene Republik zu sein, die ihre – immer noch verehrten – faschistischen Vorfahren nicht anerkennen konnten und diejenige Partei gegründet hatten (MSI, Ende 1946), deren Symbole die Partei Meloni nach wie vor in ihrem Logo trägt.

Kritische Meinungen werden als „Stimme des Feindes“ systematisch angegriffen, als wäre Meloni Oppositionsanführerin und nicht Regierungschefin. Die Töne erinnern an die Sprache von damals.

Dies passt wiederum zu Melonis Pose auf internationale Bühne: Dank der Freundschaft mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gelingt Meloni ein taktisches Bündnis im Hinblick auf die Europawahl, nach der von der Leyen auf ein neues Mandat mit Unterstützung von Meloni hofft. Die Treue Melonis zur Nato und ihre Einfügung in den EU-Mainstream ermöglicht ihr auch die Rolle der gefühlten Vermittlerin wie neulich im Falle des Freundes Viktor Orban zu übernehmen. Orban kündigte an, sich der ERK-Fraktion, die von Melonis Partei geführt wird, im Europaparlament anzuschließen. Der neue für Italien noch ungünstige Stabilitätspakt wurde ohnehin akzeptiert. Zuversicht strahlte auch Olaf Scholz aus, als er in Berlin Meloni empfing und sich zu ihrem absurden Abkommen für einen Migrantentransfer von Italien nach Albanien positiv äußerte. Ohne vorherige Absprache mit den Beteiligten lud Meloni sämtliche Afrika-Staatsvertreter:innen und EU-Gremien nach Rom für eine große Show ein, um ihren Afrika-Plan vorzustellen.

Fazit: Trotz aller Konflikte innerhalb der Koalition, insbesondere in Hinsicht auf die Europawahl, verkörpert Melonis Regierung die Vereinbarkeit zwischen einer wirtschaftsliberalen, antisozialen Politik und den Charakteristika eines autoritären Regimes.