Politische Berichte Nr.02/2024 (PDF)12
Aktionen-Initiativen

dok Aktionen/Initiativen – Thema Bezahlkarte –

Red. Thorsten Jannoff

Vorbemerkung. Getrieben von den hohen Umfragewerten für die AfD, wird insbesondere von konservativer Seite so getan, als würden nach der Einführung von Bezahlkarten weniger Geflüchtete nach Deutschland kommen … oder nach der Einführung von Sachleistungen oder nach der Einführung einer Arbeitspflicht oder nach wer weiß welchen Schikanen sonst noch. Diese Behauptungen stützen sich auf das Push-Pull-Modell der Migration von Everett Lee aus den 1960er Jahren. „Die Theorie geht davon aus, dass Menschen aus einem ursprünglichen Gebiet ‚weggedrückt‘ werden … und/oder von einem anderen Gebiet ‚angezogen‘ werden (wikipedia).“ Bei dem überwiegenden Teil der Migrationsforscher gilt diese Theorie als überholt und nicht ausreichend belegt. Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat schon 2020 festgestellt, dass dieses Konzept „mittlerweile vielfach empirisch widerlegt (sei). Dabei marginalisiere es u.a. die strukturierende Rolle, die Staaten, Netzwerke und Institutionen für den Migrationsprozess spielen, ignoriere nichtökonomische Faktoren weitgehend und sei nicht dazu in der Lage, die wechselhafte Dynamik des Migrationsgeschehens zu verstehen.“ So ist sich auch die Forschung sehr weitgehend einig, dass die Höhe oder Ausstattung der Sozialleistungen keinen signifikaten Einfluss auf die Wahl des Ziellandes hat. Die Umfrage des RWI-Leibniz-Institutes für Wirtschaftsforschung im Senegal untermauert das.

Abb: Plakat: Die Linke lehnt Bezahlkarten ab.

01 Flüchtlingsrat Thüringen zur Bezahlkarte in Greiz: Kein Erfolgsmodell!
02 Bayerischer Flüchtlingsrat – Can I pay this Bratwurst with card?
03 Paritätischer gegen Bezahlkarte für Geflüchtete
04 Recht auf Arbeit statt populistischer Arbeitspflicht-Debatten
05 Irreguläre Migration: RWI-Studie sieht kaum Wirksamkeit der geplanten Bund-Länder-Maßnahmen
06 „Kein ,Pull-Effekt‘ durch Seenotrettung“

01

Flüchtlingsrat Thüringen zur Bezahlkarte in Greiz: Kein Erfolgsmodell!

In zwei Thüringer Landkreisen, Greiz und Eichsfeld, wurden seit Dezember 2023 unterschiedliche Bezahlkarten für die Leistungsauszahlung an Geflüchtete getestet. Dabei zeigt sich, dass diese zu vielen Einschränkungen im Alltag der Betroffenen führen. In beiden Landkreisen sind keine Barauszahlungen oder Überweisungen möglich und die Karten sind nur regional begrenzt einsetzbar. Lediglich ein Teil des Leistungsbetrages wird noch als Bargeld gewährt. Zwar akzeptieren Supermärkte die Karten, aber in vielen anderen Bereichen gibt es Probleme, beispielsweise beim Friseur bzw. kleineren Geschäften, der Zahlung von Rechtsanwaltsgebühren, der Zahlung von Bußgeldern oder dem Erwerb eines Deutschlandtickets, welches ein Konto zur Abbuchung voraussetzt bei Fahrten außerhalb der Region. „Mit den geringen Leistungssätzen müssen Betroffene jetzt mühselig jonglieren, wo sie die Karte einsetzen können und wie sie Zahlungsaufforderungen gerecht werden können, wenn der Barbetrag aufgebraucht ist“, so Ellen Könneker vom Flüchtlingsrat Thüringen e.V. Bei der Einführung eventueller Bezahlkarten müssen folgende Punkte sichergestellt sein

• Bargeldabhebungen müssen uneingeschränkt möglich sein • Die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr muss uneingeschränkt möglich sein • Die Karte darf nicht örtlich beschränkt werden • Kein Ausschluss bestimmter Waren oder Dienstleistungen • Sicherstellung von Datenschutz und informationeller Selbstbestimmung, insbesondere keine Zugriffe auf die einmal gewährten Leistungen.

www.fluechtlingsrat-thr.de/aktuelles/pressemitteilungen/bezahlkarte-greiz-kein-erfolgsmodell

02

Bayerischer Flüchtlingsrat – Can I pay this Bratwurst with card?

Geplante Einführung der Bezahlkarte als diskriminierend und vermutlich rechtswidrig kritisiert. Das Bayerische Innenministerium hat gestern verkündet, dass die Bezahlkarte ab März in vier bayerischen Pilot-Kommunen starten soll. Den Zuschlag hat das Unternehmen PayCenter mit Sitz in Freising und Stuttgart erhalten. Auf seiner Website beschreibt das E-Geld-Institut detailliert, was die Karte alles kann. Während es den Behörden ermöglicht wird, jederzeit den Guthabenstand einzusehen und die Karte zu sperren, könnten Online-Zahlungen nur begrenzt oder gar nicht möglich sein. Zudem plant das Bayerische Staatsministerium, besonders Bargeldabhebungen in Höhe und Anzahl einzuschränken.

„Die Bezahlkarte eröffnet Behörden die Möglichkeit für allerlei Schikanen. Wir sehen in der bayerischen Umsetzung massive verfassungs- und datenschutzrechtliche Defizite. Die Bezahlkarte nach bayerischem Modell schränkt Geflüchtete in ihrer Handlungs- und Bewegungsfreiheit ein. Sie gibt Behörden Informationen über Personendaten und Handlungsspielräume, was zum Missbrauch einlädt“, befürchtet Katharina Grote vom Bayerischen Flüchtlingsrat.

Die Karte kann auf bestimmte Postleitzahlgebiete eingeschränkt werden. Das hätte zur Folge, dass Personen außerhalb dieses Radius, beispielsweise bei einem Ärzt:innen- oder einem Familienbesuch nicht mehr zahlen können. Selbst der Besuch am Supermarkt im nächsten Ort oder an der nächsten Ecke könnte aufgrund einer anderen Postleitzahl nicht möglich sein. Ebenso ist unklar, ob der öffentliche Nahverkehr mit der Karte bezahlt werden darf oder kann. Hinzu kommt, dass auch ein Ausschluss einzelner Händler vorgesehen ist. Im Zweifel fallen Lebensmittelläden mit Produkten aus den Herkunftsländern heraus. Auf jeden Fall sind kleine Geschäfte, die kein Kartenlesegerät nutzen, für Geflüchtete künftig tabu (…) Die Bezahlkarte, so die Rechtfertigung vieler bayerischer, aber auch bundesdeutscher Politiker:innen soll Migrationszahlen senken, einen angeblichen Missbrauch von Sozialleistungen verhindern und Schleuser-Kriminalität bekämpfen. Die Annahme der Existenz von wirtschaftlichen Pull-Faktoren ist wissenschaftlich nicht haltbar. Dass Geflüchtete während ihres Verfahrens nennenswerte Beträge an die Familie ins Ausland überweisen, ist nicht belegt und eher abwegig. Dass Schleuser vor und nicht nach einer Flucht bezahlt werden müssen, sollte allen, die sich mit Migration beschäftigen, klar sein (…)

www.fluechtlingsrat-bayern.de/bezahlkarte-ist-diskriminierend-und-mutmasslich-rechtswidrig/

03

Paritätischer gegen Bezahlkarte für Geflüchtete

Der Paritätische Gesamtverband lehnt die Einführung einer Bezahlkarte für Geflüchtete grundsätzlich ab und begrüßt die Initiative von Abgeordneten der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Vorhaben noch einmal zu überprüfen. Dazu hat der Wohlfahrtsverband heute Briefe an die Fraktionsvorsitzenden der Ampelkoalition geschickt, um seinen Standpunkt zu untermauern und Grundstandards zu formulieren.

„Wir begrüßen außerordentlich, dass Teile der Grünen die Diskussion um die Bezahlkarte noch einmal aufmachen, da wir die Bedenken in hohem Maße teilen.“ erklärte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Er bezieht sich auf die Äußerungen des Grünen-Abgeordneten Audretsch, der findet, dass eine Bezahlkarte die Menschen vor ganz praktische Probleme vor Ort stellen kann und dazu ein Integrationshemmnis darstellen könnte. Ulrich Schneider kritisiert die Motivation hinter der Einführung des Kartenmodells: „Es ist offenkundig und abzulehnen, dass hier in erster Linie ein Abschreckungsinstrument, basierend auf Vorurteilen gegenüber geflüchteten Menschen geschaffen, werden soll.“ Es gäbe keine Belege, dass Sozialleistungen von Flüchtlingen in nennenswerter Größe in die Herkunftsregionen überwiesen werde.

Die Folgen der zahlreichen Restriktionen, die durch eine Bezahlkarte ermöglicht werden, seien noch nicht absehbar. Mit Einschränkungen unter anderem bei der Verfügbarkeit von Bargeld, Überweisungen oder der räumlichen Nutzung der Karte drohen nach Befürchtung des Verbandes vertiefte Armut, Teilhabehindernisse, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und in der Summe umfassende Integrationshemmnisse. Sollte eine Karte dennoch eingeführt werden, müsse seitens der Bundesregierung sichergestellt werden, dass eine Karte in allen Geschäften, für alle Dienstleistungen und ohne eine räumliche Beschränkung genutzt werden könne, schreibt der Verband. Auch Lastschriftverfahren und Überweisungen müssen ebenso wie die unbegrenzte Bargeldabhebung möglich sein. Darüber hinaus müsse der Bund bundesweite Standards gewährleisten, um einen Bezahlflickenteppich zu vermeiden. Die beste Lösung für alle Beteiligten sei überdies die Überweisung der Leistungen auf ein Bankkonto.

www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/paritaetischer-gegen-bezahlkarte-fuer-gefluechtete/

04

Recht auf Arbeit statt populistischer Arbeitspflicht-Debatten

PRO ASYL und alle Landesflüchtlingsräte lehnen die Arbeitspflicht für Geflüchtete ab und fordern stattdessen die Aufhebung aller Arbeitsverbote für geflüchtete Menschen. „Es ist rassistisch und menschenverachtend zu suggerieren, dass Geflüchtete arbeitsunwillig seien, die man jetzt zur Arbeit unter ausbeuterischen Verhältnissen zu 80 Cent pro Stunde verpflichten müsse – während viele von ihnen schlichtweg nicht arbeiten dürfen,“ sagt Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL. „Statt politischer Stimmungsmache gegen Geflüchtete, sollten endlich alle Arbeitsverbote für Geflüchtete und die Duldung-Light-Regelung aufgehoben werden – ein bisher nicht erfülltes Versprechen des Koalitionsvertrags der Ampel-Regierung“, so Alaows weiter (…)

Es braucht echte Lösungen: Statt auf diese Scheindebatte aufzuspringen, fordern PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte von den Länderchef*innen lösungsorientierte Vorschläge. So würden beispielsweise schon die ausgebaute Förderung von Deutschkursen und einige gesetzliche Änderungen dazu beitragen, viel mehr Geflüchteten die Aufnahme einer Arbeit zu ermöglichen. Dies zeigen nicht zuletzt die Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Darin wird bestätigt, dass mit dem Erlernen der deutschen Sprache und mit der Streichung des Beschäftigungsverbots die Zahl der erwerbstätigen Geflüchteten signifikant steigen würde. Weiterhin würden mit der Streichung aller Arbeitsverbote die Ausländerbehörden massiv entlastet und Geflüchtete könnten sich direkt auf Arbeitsstellen bewerben, ohne durch die monatelangen Erlaubnisverfahren bei den Behörden von der Arbeitsaufnahme abgehalten zu werden.

www.proasyl.de/pressemitteilung/recht-auf-arbeit-anstatt-populistische-arbeitspflicht-debatten/

05

Irreguläre Migration: RWI-Studie sieht kaum Wirksamkeit der geplanten Bund-Länder-Maßnahmen

Der Bund-Länder-Beschluss vom Herbst 2023 zur Verschärfung der deutschen Asylpolitik hat wenig Auswirkungen auf die Migrationsabsichten von potenziellen Migranten in Senegal. Dies zeigt eine aktuelle Studie des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen. Befragt wurden knapp 1 000 Männer zwischen 18 und 40 Jahren in vier senegalesischen Städten. Alle Ergebnisse beruhen auf Aussagen zu Migrationsabsichten bezüglich hypothetischer Asylpolitikmaßnahmen; reales Migrationsverhalten wird in der Studie nicht beobachtet.

Die Befragung zeigt, dass nur ein Teil der Befragten über Details des europäischen Asylverfahrens informiert ist und Asylleistungen nur selten für die Wahl eines Einwanderungslands ausschlaggebend sind. Auf die Frage nach ihrem bevorzugten Migrationsziel in Europa und nach den Gründen für ihre Wahl gaben nur elf Prozent an, dass staatliche Leistungen eine Rolle spielen. Weit wichtigere Gründe sind Arbeitsmöglichkeiten und die Anzahl der Senegalesen oder anderer Migranten, die sich bereits in einem bestimmten Zielland befinden. Auch die Einführung einer Bezahlkarte für Asylbewerberleistungen hat keinen Einfluss auf die gemessenen Migrationsabsichten.

Nur die Verlagerung des Asylverfahrens in ein außereuropäisches Land wie Ruanda oder Tunesien reduziert die Absicht zur irregulären Migration deutlich – von 3,8 auf 2,7 auf einer Skala von 0 (nicht interessiert) bis 10 (sehr interessiert).

www.rwi-essen.de

06

„Kein ,Pull-Effekt‘ durch Seenotrettung“

Die Seenotrettung von Migrant*innen im zentralen Mittelmeer hat offenbar bislang keinen Einfluss auf die Anzahl der Überquerungsversuche. Das zeigt eine neue Studie internationaler Forschender um Dr. Alejandra Rodríguez Sánchez (Universität Potsdam), die im Rahmen des Projekts „Seenotrettung im Mittelmeer“ am DeZIM entstanden ist und heute im renommierten Journal „Scientific Reports“ veröffentlicht wurde. Die Ergebnisse widersprechen anhaltenden Behauptungen, wonach Such- und Rettungsaktionen einen sogenannten Pull-Effekt auf Migration haben, also einen Anreiz für Überquerungsversuche setzen und damit womöglich indirekt zu mehr Todesopfern führen. Als wirksame Einflussfaktoren auf Migration macht die Studie vielmehr Konflikte sowie wirtschaftliche und ökologische Bedingungen in den Herkunfts- und Aufenthaltsländern der Menschen aus.

Der Abschnitt des Mittelmeers zwischen Nordafrika und Italien ist eine der am häufigsten genutzten irregulären Routen auf dem Seeweg nach Europa. Eine neue Studie betrachtet die Veränderungen bei der Anzahl der versuchten Überfahrten und bekannten Todesfälle zwischen 2011 und 2020 auf dieser Route mit innovativen Analyseverfahren. Die Autor*innen stellten fest, dass die Zahl der Grenzübertritte auf dem Seeweg offenbar nicht von staatlich oder privat durchgeführten Such- und Rettungsaktionen beeinflusst wurde. Die Zahl der Grenzübertritte scheint vielmehr durch Veränderungen der Konfliktintensität, der Rohstoffpreise und Naturkatastrophen sowie durch Wetterbedingungen, Währungsumtausch und Luftverkehr zwischen den Ländern Nordafrikas, des Nahen Ostens und der EU gelenkt worden zu sein. Die Daten zeigen auch, dass die umstrittene Praxis der Pushbacks durch die libysche Küstenwache die Zahl der Überquerungsversuche reduziert hat. Diese Reduktion hat einen hohen Preis: Das Abfangen und Zurückbringen von Booten nach Libyen ist mit schweren Menschenrechtsverletzungen verbunden und auch die Menschenrechtssituation in Libyen selbst ist als untragbar dokumentiert. Aus diesem Grund sind beispielsweise beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) mittlerweile mehrere Verfahren anhängig.

www.dezim-institut.de/presse/presse-detail/kein-pull-effekt-durch-seenotrettung

Abb: Logo DEZI