Politische Berichte Nr.02/2024 (PDF)10
Globale Debatten - UN Initiativen

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Globale Debatten - Krieg im Gazastreifen

Vorbemerkung und Zusammenstellung

Ulli Jäckel, Hamburg

Der Krieg im Gazastreifen zwischen Israel und der Hamas erscheint in der Öffentlichkeit weitgehend als Konfrontation zweier kompromissloser Kontrahenten, die einzig durch die vollständige Vernichtung einer der Parteien beendet werden könnte. Sowohl in der palästinensischen wie auch in der israelischen Gesellschaft melden sich jedoch Kräfte zu Wort, die Wege zum Frieden und zu einer tragfähigen gemeinsamen Lösung für die Zeit nach dem Krieg suchen. Einige davon dokumentieren wir hier, dazu die Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 25. März, in der erstmals rechtswirksam eine Waffenruhe, die Freilassung der Geiseln und die Verstärkung von Schutz und Hilfe für die Zivilbevölkerung gefordert wird. Zu den neuesten Entwicklungen siehe Seite 5.

Dokumentation:

01 dok Resolution 2728 (2024), verabschiedet auf der 9586. Sitzung des Sicherheitsrats am 25. März 2024
02 dok Raja Khalidi, 19. März 2024. Der Autor ist Entwicklungsökonom in Ramallah. Den gesamten Artikel kann man lesen (deutsch) auf der Seite http://www.linkekritik.de/fileadmin/d/20240319-khalidi.pdf – Original: www.foreignaffairs.com/palestinian-territories/case-palestine „Die Palästinensische Autonomiebehörde hat ihren Zweck überlebt – es ist Zeit für den Staat“
03 Linke Opposition in Israel: Standing Together
04 Hiba Husseini: „Wir Palästinenser sind nun einmal hier, wir gehen hier nicht weg“

01

dok Resolution 2728 (2024), verabschiedet auf der 9586. Sitzung des Sicherheitsrats am 25. März 2024

Der Sicherheitsrat,

geleitet von den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen,

unter Hinweis auf alle seine einschlägigen Resolutionen zur Situation im Nahen Osten, einschließlich der palästinensischen Frage,

mit der erneuten Forderung, dass alle Parteien ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechtsnormen, nachkommen, und in dieser Hinsicht unter Missbilligung aller Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte sowie aller Gewalthandlungen und Feindseligkeiten, die sich gegen Zivilpersonen richten, und aller terroristischen Handlungen und daran erinnernd, dass Geiselnahmen nach dem Völkerrecht verboten sind,

mit dem Ausdruck ihrer tiefen Besorgnis über die katastrophale humanitäre Lage im Gazastreifen,

in Anerkennung der laufenden diplomatischen Bemühungen Ägyptens, Katars und der Vereinigten Staaten, die darauf abzielen, eine Einstellung der Feindseligkeiten und die Freilassung der Geiseln zu erwirken und die Bereitstellung und Verteilung humanitärer Hilfe zu erhöhen,

1. verlangt eine sofortige Waffenruhe für den Fastenmonat Ramadan, die von allen Parteien eingehalten wird und zu einer andauernden tragfähigen Waffenruhe führt, und verlangt außerdem die sofortige und bedingungslose Freilassung aller Geiseln sowie die Gewährleistung des humanitären Zugangs, damit ihre medizinischen und sonstigen humanitären Bedürfnisse erfüllt werden können, und verlangt ferner, dass die Parteien ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht im Hinblick auf alle von ihnen inhaftierten Personen nachkommen;

2. unterstreicht die dringende Notwendigkeit, den Fluss der humanitären Hilfe für die Zivilbevölkerung im gesamten Gazastreifen auszuweiten und deren Schutz zu verstärken, und verlangt erneut die Aufhebung aller Hindernisse für die Bereitstellung humanitärer Hilfe in großem Umfang, im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht sowie den Resolutionen 2712 (2023) und 2720 (2023);

3. beschließt, mit der Angelegenheit aktiv befasst zu bleiben.

www.un.org/Depts/german/sr/sr_24/sr2728.pdf

02

dok Raja Khalidi, 19. März 2024. Der Autor ist Entwicklungsökonom in Ramallah. Den gesamten Artikel kann man lesen (deutsch) auf der Seite http://www.linkekritik.de/fileadmin/d/20240319-khalidi.pdf – Original: www.foreignaffairs.com/palestinian-territories/case-palestine

„Die Palästinensische Autonomiebehörde hat ihren Zweck überlebt – es ist Zeit für den Staat“

Seit den ersten Wochen des brutalen Krieges im Gazastreifen hat Washington der Idee, dass die Reform der Palästinensischen Autonomiebehörde ein wesentlicher Bestandteil jeder Nachkriegsregierung in diesem Gebiet ist, übermäßig viel Aufmerksamkeit gewidmet. Die Vereinigten Staaten sowie ihre arabischen und europäischen Verbündeten wollen, dass nach Kriegsende weder Hamas noch Israel für die Verwaltung von Gaza zuständig sind. Der Standardkandidat für diesen Posten ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die von der Palästinensischen Befreiungsorganisation während der Osloer Friedensabkommen, einer Reihe von Vereinbarungen in den 1990er Jahren, die zu einer Zwei-Staaten-Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts führen sollten, als deren Regierungsorgan eingesetzt wurde.

Die Palästinensische Autonomiebehörde regiert weiterhin einen Teil des Westjordanlandes, nachdem sie sich 2006 im Zuge der politischen Spaltung Palästinas weitgehend aus Gaza zurückgezogen hatte. Am 14. März beauftrage PA-Präsident Mahmoud Abbas einen technokratischen Premierminister mit der Bildung einer neuen palästinensischen Regierung mit dem Ziel, die beiden Regionen politisch, administrativ und wirtschaftlich wieder zu vereinen – mit dem letztendlichen Ziel, den angeschlagenen Gazastreifen wieder aufzubauen. Aber die Relevanz der Palästinensischen Autonomiebehörde als Träger solch tiefgreifender Veränderungen ist heute zweifelhaft. (…)

Die PA ist eine Regierung ohne einen souveränen Staat, den sie regieren kann. In ihrem Fall ging mit großer Verantwortung wenig Macht einher. Sie sollte nicht wie geplant ein Übergangsinstrument zur Selbstbestimmung sein, sondern ein Hüter eines nicht nachhaltigen Status quo. Sie wurde nicht zu einem Werkzeug der Befreiung, sondern der Unterwerfung. (…)

Die PA ist zu dysfunktional, als dass sie wiederbelebt, reformiert oder rekonstruiert werden könnte

Technokratische Vereinbarungen für eine gute Regierungsführung im Westjordanland und im Gazastreifen können nur dann erfolgreich sein, wenn ein nationaler politischer Dialog das Kapitel der Spaltung abschließt und ein neues eröffnet, das sich auf den Staatsaufbau konzentriert. Durch einen von PLO-Fraktionen und der Hamas gebildeten Präsidialrat können zusammen mit einer öffentlichen beratenden Versammlung (wie dem ruhenden Nationalrat der PLO) können die Umrisse einer demokratischen Zukunft diskutiert und vereinbart werden, sodass die politische Entscheidung darüber, wer am besten geeignet ist, diese zu leiten, durch das palästinensische Volk an der Wahlurne entschieden werden kann. In dieser Phase sollten führende palästinensische Rechtsexperten aus der ganzen Welt zusammenkommen, um eine Verfassung für den Staat zu entwerfen. (…)

Eine als Teil des neuen Staates Palästina gebildete Regierung scheint gegenüber der heutigen zerstörten palästinensischen Politik nur wenige materielle Vorteile zu bieten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie von den Vereinigten Staaten oder Israel anerkannt wird. Sie würde unter israelischer Besatzung bleiben und keine diplomatischen Vorteile gegenüber dem derzeitigen System bringen. Aber eine neue Regierung würde den Palästinensern die Chance bieten, neue, bessere Strukturen aufzubauen und das Vertrauen in ihre Führung und den Respekt der Welt wiederherzustellen. Der Staat würde alle palästinensischen Fraktionen einbeziehen und als Forum dienen, in dem sie Gemeinsamkeiten finden und Differenzen lösen können. Es ist an der Zeit, dass der Staat Palästina mehr als nur Tinte auf Papier wird. Die Gründung einer Regierung unter ihrem Namen ist der nächste Schritt auf dem langen Weg der nationalen Befreiung.

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Linke Opposition in Israel: Standing Together

Im Februar kamen über 1000 jüdische und palästinensische Bürger Israels der Graswurzel-Organisation „Standing Together“ zu ihrem vierten Nationalkonvent seit ihrer Gründung im Jahr 2016 zusammen.

Die Antworten von Standing Together auf den Krieg:

Solidaritätsversammlungen

- In den ersten Kriegsmonaten hielten wir im ganzen Land Kongresse ab und brachten Hunderte jüdischer und palästinensischer Bürger zusammen, um über unsere gemeinsame Trauer, die Auswirkungen des Krieges auf unsere Gesellschaft und wie wir in dieser dunklen Zeit Hoffnung und Solidarität schaffen können zu diskutieren.

- Diese Konferenzen ließen die Netzwerke von jüdischen und palästinensischen Bürgern rasch wachsen, die sich für Solidarität und Frieden einsetzten und die Menschen mit dringend benötigter Hoffnung und einem sicheren Raum versorgten, um gemeinsam zu trauern und sich eine andere Zukunft vorzustellen.

- Deeskalation, Solidarität und Unterstützung für Opfer politischer Gewalt und Verfolgung innerhalb Israels. (…)

Studentenunterstützung

- Standing Together hat 12 Studentengruppen an verschiedenen israelischen Universitäten und Hochschulen, die sich dafür einsetzen, vom Krieg betroffene Studierende zusätzlich zu unterstützen. Viele palästinensische Studierende leiden unter Rassismus und Diskriminierung sowie unter Ausweisung als Folge zunehmender politischer Verfolgung. (…)

Kundgebungen für einen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen

- Im Dezember veranstalteten wir zwei Kundgebungen, bei denen wir Frieden und ein Waffenstillstandsabkommen forderten, die erste in Haifa mit über 300 Menschen und die zweite in Tel Aviv mit über 1000 Teilnehmern. Im Januar veranstalteten wir in Tel Aviv einen Marsch und eine Kundgebung mit über zweitausend Teilnehmern – die größte Kundgebung für einen Waffenstillstand seit Kriegsausbruch.

Standing Together im Jahr 2024

- Wir drängen weiterhin auf einen dringend notwendigen Waffenstillstand und eine Vereinbarung zur Freilassung von Geiseln, um das Leben unschuldiger Menschen in Gaza zu retten und die israelischen Geiseln lebend zurückzubringen. Unsere Vision für das kommende Jahr besteht darin, das Gespräch in der israelischen Gesellschaft über israelisch-palästinensischen Frieden wiederzubeleben und Juden und Palästinenser für eine neuen politischen Perspektive zu mobilisieren – eine, die Freiheit, Gleichheit und Sicherheit für alle in Israel/Palästina garantieren kann.

Die Organisation führte im März zwei Hilfskonvois mit Nahrungsmitteln für die hungernden Menschen in Gaza durch:

„Hunderte jüdische und palästinensische Bürger Israels spendeten Lebensmittel und fuhren zur Grenze, um von der israelischen Regierung die Einreise von Nahrungsmitteln und humanitärer Hilfe zu fordern. Die israelische Armee und Polizei stoppten unseren Konvoi in der Nähe der Grenze und erlaubten gleichzeitig Rechtsextremisten, die Grenze zu erreichen und die Durchfahrt von Lastwagen mit humanitärer Hilfe zu blockieren. Die Politik der israelischen Regierung lässt die Menschen in Gaza und die in Gefangenschaft gehaltenen israelischen Geiseln aushungern und drängt uns weiter von einem Ende des Blutvergießens und letztendlich vom israelisch-palästinensischen Frieden ab.“

Am 29. März haben in Shefa-‘Amr Palästinenser und Juden gemeinsam mit „Women Wage Peace“ eine Demonstration durchgeführt, um ein Waffenstillstandsabkommen, die Befreiung der Geiseln und eine politische Einigung zu fordern.

www.standing-together.org

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Hiba Husseini: „Wir Palästinenser sind nun einmal hier, wir gehen hier nicht weg“

In einem Interview mit dem „Standard“ vom 18. März plädiert die ehemalige palästinensische Unterhändlerin für ihre gemeinsam mit dem ehemaligen israelischen Justizminister Yossi Beilin entworfene Vision von einer „Konföderation für das Heilige Land“:

STANDARD: Lange Zeit hat in der Welt kaum jemand über die Palästinenser gesprochen. Seit Beginn des Gazakriegs sind sie plötzlich wieder Thema. Ist das für die konstruktiven Kräfte in Palästina eine gute Nachricht?

Husseini: Ja, es wurde weltweit zu einem Thema. Und da sprechen wir nicht nur von Regierungen, sondern auch von der Zivilgesellschaft, mit den vielen Demonstrationen in großen Städten weltweit, die eine Waffenpause in Gaza und eine Freilassung der Geiseln fordern. Wir hören da auch immer öfter die Forderung, diesen Konflikt endlich zu einer Lösung zu bringen, zu einer Zweistaatenlösung – im Gegensatz zum Trend eines bloßen Konfliktmanagements der vergangenen zwanzig Jahre.

STANDARD: Sind wir einer solchen Lösung heute näher – oder sind wir sogar weiter davonentfernt denn je?

Husseini: (…) Sind wir einer Lösung heute näher? Dem Gespräch über eine ernsthafte Konfliktlösung sind wir ein Stück näher. Wie und wann – das ist eine andere Frage. Wird die Hamas geschwächt daraus hervorgehen? Ich glaube, ja: Sie wird nicht in der Lage sein, Gaza weiter zu kontrollieren. (…)

STANDARD: Sie haben mit dem früheren israelischen Minister und Friedensverhandler Yossi Beilin ein Modell entwickelt, das sogar über die Zweistaatenlösung hinausgeht: ein Bündnis der Staaten Israel und Palästina, die „Konföderation des Heiligen Landes“. Ist das realistisch oder reine Utopie?

Husseini: Wir haben eine simple Annahme: Weder die Israelis noch die Palästinenser wollen gemeinsam in einem Staat leben. Israel ist ein Staat, wir sind es nicht. Damit Israel seine Unabhängigkeit wirklich voll ausschöpfen kann, braucht es einen Nachbarn, der ebenfalls unabhängig ist und ähnliche Rechte genießt. (…)

STANDARD: Was soll mit den vielen israelischen Siedlungen im Westjordanland geschehen?

Husseini: Wir werden Land tauschen: Manche Siedlungen werden an Israel an nektiert, dafür werden bestimmte israelische Gebiete an Palästina abgetreten. Es wird aber immer noch Siedlungen geben, die nicht Teil dieses Tausches sind, sie gehören dann zu Palästina. Und die Siedler, die nicht von dort wegziehen wollen, haben dann das Recht, zu bleiben, wo sie sind. Eine gleiche Zahl von Palästinensern bekommt Bleiberecht in Israel. Wir schätzen, dass es sich dabei um rund 150 000 Personen handeln wird.“

Das gesamte Interview: www.derstandard.de/story/3000000212145/hiba-husseini-wir-palaestinenser-sind-nuneinmal-hier-wir-gehen-hier-nicht-weg, zu dem gemeinsamen Friedensplan siehe auch: taz.de/75-Jahre-Israel/!5927391/ (gemeinsamer Artikel von Hiba Husseini und Yossi Beilin) www.jpost.com/opinion/article-696830 (Interview mit Yossi Beilin in der Jerusalem Post) www.monmouth.edu/news/documents/the-holy-land-confederation-as-a-facilitator-for-the-two-state-solution-english.pdf/ (Ausführliche Darstellung des Konföderations-Vorschlags)