Politische Berichte Nr.02/2024 (PDF)24
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

G20: „Doppelmoral der Staatsanwaltschaft bei der Strafverfolgung“

01 Ein Interview mit Kim König von der Hamburger Ortsgruppe der Roten Hilfe, welche den Prozess aktiv und solidarisch begleitet. Die Fragen stellte Gaston Kirsche.

Gaston Kirsche, Hamburg. Mittlerweile acht Verhandlungstage lang läuft jetzt Mitte März der Prozess gegen Demonstrierende, die bei den Protesten gegen den G20-Gipfel am 7. Juli 2017 in Hamburg in der Straße Rondenbarg verhaftet wurden. Insgesamt gab es bis zur Eröffnung des jetzigen Verfahrens mit Stand 12. Januar 2024 in Hamburg bereits 964 Verfahren gegen 1286 bekannte beschuldigte Protestteilnehmer*innen im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017, wie der Hamburger Senat auf Anfrage der Fraktion der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft erklärte.

Und jetzt der dritte Rondenbarg-Prozess. Etwa 200 Aktive waren als „schwarzer Finger“ auf dem Weg vom Protestcamp im Volkspark Richtung Schanzenviertel. Sie wollten sich an den öffentlich angekündigten Straßenblockaden beteiligen, mit denen die Delegationen unter anderem Saudi-Arabiens, Russlands, Chinas, der USA oder Deutschlands daran gehindert werden sollten, auf das Tagungsgelände zu gelangen. Mit Mitteln des zivilen Ungehorsams.

Auf den „schwarzen Finger“ der angekündigten G20-Blockaden warteten am Rondenbarg zwei Polizeihundertschaften, eine davon die BFHU Blumberg, eine Einheit spezialisierter Polizeikräfte der Bundespolizei für die Terrorismusbekämpfung. Die Demonstration stieß zuerst auf eine Hundertschaft aus der Polizeikaserne Eutin, dann, als sie vor der Konfrontation in den Rondenbarg auswich, auf die berüchtigte BFHU Blumberg der Bundespolizei. Diese stürmte binnen weniger Sekunden auf die vorderen Reihen des Zuges, zeitgleich rückten von hinten zwei Wasserwerfer und die Eutiner Hundertschaft an – die Falle schnappte zu. Die Feuerwehr musste mit Dutzenden Krankenwagen anrücken, 14 Schwerverletzte kamen in Krankenhäuser, mit offenen Brüchen, mit gestauchten Halswirbeln. Die Polizei erhob von allen Personalien und verhaftete 71 weitere Teilnehmende.

Nach einem eingestellten und einem unterbrochenen Prozess gegen jugendliche Teilnehmer*innen begann am 18. Januar ein Prozess gegen eine Gruppe erwachsener Demonstrierender.

25 Prozesstermine sind angesetzt, bis in den August.

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Ein Interview mit Kim König von der Hamburger Ortsgruppe der Roten Hilfe, welche den Prozess aktiv und solidarisch begleitet. Die Fragen stellte Gaston Kirsche.

Wäre 2017 ein G20-Gipfel in Hamburg ohne Repression möglich gewesen?

Kim König: Der G20-Gipfel ist nicht alleine zu kritisieren, weil er ein Treffen der Vertreter*innen der Staaten darstellte, die wesentlich von weltweiter Ausbeutung profitieren, diktatorische Regime stützen und massive Umweltzerstörung verursachen. Auch die Veranstaltung selbst war als Machtdemonstration angelegt, wieder weg von abgelegenen Gegenden, mitten in die Großstadt, verteidigt durch massive Gewalt der Polizei und deren paramilitärische Aufmärsche. Der Gipfel wurde zu einem Testfeld der Repression, von frühzeitigen Denunziationskampagnen über die benannte Gewalt bis hin zu Öffentlichkeitsfahndungen und zahlreichen Prozessen. Die aktuellen Prozesse, mehr als sechs Jahre nach dem Gipfel, dienen als nachgereichte Legitimation der repressiven Maßnahmen. Sie sollen zugleich im Sinne der Einschüchterung aufzeigen, wie lang der Arm der Justiz reicht. Nicht zuletzt ist auch der politische Wille der Staatsanwaltschaft deutlich zu erkennen, über das Verfahren perspektivisch das Versammlungsrecht einzuschränken.

Und dafür konstruiert die Hamburger Staatsanwaltschaft eine Mitschuld aller Teilnehmenden einer Demonstration an allen von Einzelnen begangenen Straftaten?

Kim König: Die Hamburger Staatsanwaltschaft beruft sich dabei auf die so genannte Hooligan-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, obwohl der BGH selbst klargestellt hat, dass die dazu entwickelten Maßstäbe auf das Versammlungsrecht nicht anwendbar sind. Nach der Hooligan-Rechtsprechung kann das so genannte ostentative Mitmarschieren eine Form der psychischen Beihilfe darstellen. Kurz gesagt: Wer an einer Demonstration teilnimmt, kann dafür verantwortlich gemacht werden, wenn Einzelne aus der Versammlung heraus vermeintliche Straftaten begehen. Abgesehen von der Bedeutung des Verfahrens für die konkreten Betroffenen, stellt die Anklage daher einen schwerwiegenden Angriff auf die Versammlungsfreiheit dar. Sollte sich die Auffassung der Staatsanwaltschaft durchsetzen, wären Demonstrant*innen in Zukunft einem erheblichen Kriminalisierungsrisiko ausgesetzt und der Spaltung zwischen verschiedenen Aktionsformen würde erheblich Vorschub geleistet.

Ist die Hamburger Staatsanwaltschaft mit diesem Konstrukt schon mal in einem Prozess durchgekommen?

Kim König: Es ist nicht das erste Mal, dass die Staatsanwaltschaft diese Konstruktion anwendet, aber bisher ohne Erfolg. Auch in den beiden vorangegangenen Rondenbarg-Verfahren und in den Verfahren um die Ereignisse in der Elbchaussee hat sich die Staatsanwaltschaft auf die Hooligan-Rechtsprechung berufen, ist damit aber bisher vor Gericht gescheitert. Auch im aktuellen Verfahren hat das Gericht bereits durchblicken lassen, dass es die Hooligan-Rechtsprechung für nicht anwendbar hält. Ganz offensichtlich verfolgt die Staatsanwaltschaft hier aber eine politische Mission.

Aber warum gerade in den Rondenbarg-Prozessen?

Kim König: Wir alle haben die Bilder gesehen, wie die Polizei die Demonstration am Rondenbarg brutal angegriffen hat – innerhalb weniger Sekunden waren alle Demonstrant*innen gewaltsam abgeräumt, ein Teil von ihnen schwer verletzt. Die Vorwürfe gegen die Angeklagten sind auch der Versuch, die Verantwortung für diese erhebliche Polizeigewalt den Demonstrant*innen in die Schuhe zu schieben. Dazu dient auch das Narrativ eines gewalttätigen Mobs, das mit der Anklage juristisch abgesegnet werden soll.

Gibt es überhaupt konkrete Tatvorwürfe in den Anklageschriften?

Kim König: Die derzeitigen Angeklagten stehen allein deshalb vor Gericht, weil sie an der Versammlung teilgenommen haben sollen. Keinen von ihnen wird die Begehung einer eigenhändigen Straftat vorgeworfen. Ganz im Sinne der Hooligan-Rechtsprechung soll aber ihre bloße Anwesenheit nach Willen der Staatsanwaltschaft ausreichen, um sie wegen schweren Landfriedensbruchs zu verurteilen.

Die Demonstration am Rondenbarg war doch vor allem von Polizeigewalt gekennzeichnet?

Kim König: Der Umgang mit der Polizeigewalt am Rondenbarg zeigt, welche Doppelmoral die Staatsanwaltschaft bei der Strafverfolgung an den Tag legt. Keiner der Polizisten am Rondenbarg ist für die Polizeigewalt vor Gericht gestellt, geschweige denn verurteilt worden. Die massive Polizeigewalt ist ohne jede Konsequenz geblieben. Dass nun die Betroffenen dieses polizeilichen Gewaltexzesses vor Gericht stehen, hat nichts mit Recht oder Gerechtigkeit zu tun, sondern ist eine rein politisch motivierte Verfolgung.

Spielen die bisherigen Prozesse zum Rondenbarg eine Rolle?

Kim König: Im bisherigen Prozessverlauf haben die bisherigen Verfahren nur eine untergeordnete Rolle gespielt, natürlich geht es aber letztendlich um die gleichen Fragestellungen. Viele der Auseinandersetzungen der bisherigen Verfahren werden auch dieses Mal geführt werden.

Wie läuft die Solidarität mit den jetzt Angeklagten?

Kim König: Der Prozess und die Angeklagten werden von einer breiten Solidaritätswelle getragen. Neben der Roten Hilfe sind viele Gruppen und Einzelpersonen in der Solidaritätsbewegung aktiv, allen voran das Bündnis Gemeinschaftlicher Widerstand. Zum Glück haben viele verstanden, dass die Anklage weit über die konkreten Betroffenen hinausreichende Konsequenzen haben kann. Deshalb gibt es eine breite Solidarität, auch über Strömungsgrenzen hinweg und in eher bürgerlichen Kreisen. Die Demonstration in Hamburg mit 1.500 Menschen war ein großartiges Zeichen, jetzt gilt es, diese Solidaritätsarbeit auch über die Dauer des Prozesses aufrechtzuerhalten.

Wie können Interessierte sich solidarisch zeigen?

Kim König: Solidarität ist unsere stärkste Waffe und hat viele Gesichter. An jedem Prozesstag findet eine Kundgebung vor Gericht statt. Die Prozesse sind öffentlich und Prozessbeobachtung ist ausdrücklich erwünscht. Wir brauchen eine kritische Öffentlichkeit, die die Deutungshoheit über die Proteste gegen den G20-Gipfel nicht der Staatsanwaltschaft überlässt. Natürlich braucht es auch finanzielle Unterstützung zur Finanzierung der Prozesskosten und Solidaritätskampagne. Im Ergebnis geht es vor allem darum: Auch wenn wenige vor Gericht stehen, ist das Verfahren ein Angriff auf die gesamte Bewegung – den wir kollektiv abwehren müssen.

Danke für das Interview!

Abb: Demo-Foto: Autor

Abb: Quelle: rondenbarg-prozess.rote-hilfe.de, gemeinschaftlich.noblogs.org/prozessberichte (Grafik)