Aus Politische Berichte Nr. 8-9/2018, S.04 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Das Erdogan-Regime steht unter Druck

1 DOK: HDP: Von der Regierung verursachtes Fiasko

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Täglich kommen neue Schlagzeilen über die Wirtschaftskrise der Türkei. Präsident Erdogan versucht die Bevölkerung einzuschwören: „Wir befinden uns in einem Wirtschaftskrieg. – Wir sitzen alle in einem Boot.“

Für die Bevölkerung hat das große Auswirkungen: Die Preise für Olivenöl haben sich verdoppelt, 5 Kilo des Grundnahrungsmittels Tomatenmark kosteten vor 14 Tagen 18 Lira und heute 48 Lira. Der Verfall der türkischen Lira hat die Preise um das Dreifache besonders für Waren hochgetrieben, die im Ausland produziert wurden oder importierte Anteile haben. 12 Millionen von 29 Millionen lohnabhängig Beschäftigten leben heute von einem monatlichen Einkommen zwischen 1.404 bis 2.808 Lira (am 14.8.: 175 bis 351 Euro). (taz-gazete 14.8.2018) Die Liraentwicklung treibt diese Teile der Bevölkerung mit ihren Familien weiter in die Armut. Zudem sind drei Millionen Menschen arbeitslos gemeldet.

Konnte Erdogan und seine AKP bisher mit nationalistischen, religiösen oder militärischen Parolen gegen die sogenannten „inneren und äußeren“ Feinde mobilisieren, wird das in Zukunft schwieriger werden. Kritische Berichte zu dem Kursverfall der Lira und der Wirtschaftskrise werden nicht geduldet. Das Innenministerium leitete mindestens 350 Strafverfahren ein wegen Kommentaren in den sozialen Medien, „die den Kursanstieg in provokanter und aufmerksamkeitserregender Art“ kritisierten.

Seit Jahresbeginn hat die türkische Lira einen Kursverfall von mehr als 45 Prozent, allein am 10 August 21 Prozent an einem Tag. Die Aktien der drei Großbanken geraten immer mehr unter Druck und haben 17 Prozent an Wert verloren. Zeitweilig wurde der Handel mit ihnen an den Börsen ausgesetzt.

Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt: „Erdogans neue Dynastie macht die Türkei für Investoren unbrauchbar“, urteilte der Bloomberg-Kolumnist Marcus Asworth. Erdogans Versprechen niedrigerer Zinsen, niedriger Inflationsraten und einer stärkeren Lira seien „Traumland-Ökonomie“. Noch schlimmer seien seine Ankündigungen, wonach auch Privatbanken „die Bürde zu schultern“ hätten. Unmittelbar danach hätten Anleger massiv türkische Bankaktien abgestoßen, denn damit habe Erdogan Furcht vor Kapitalkontrollen geschürt – „ein furchteinflößendes Konzept für ein Land mit einem so gewaltigen Leistungsbilanzdefizit, das so stark auf Auslandsinvestitionen angewiesen ist“. (24.7.2018)

Der türkische Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre wurde mit Kreditschulden in Fremdwährung finanziert. Die Banken sind mit mehr als 230 Milliarden Dollar verschuldet. Private Unternehmen mit über 200 Milliarden Dollar. Allein im September müssen die Unternehmen sechs Milliarden, im Oktober neun Milliarden Dollar an Auslandsschulden zahlen. (ANF, 6.8.2018) In den nächsten 30 Monaten sind 180 Milliarden fällig. Die schwache Lira macht die Rückzahlung oder Refinanzierung zu einem kostspieligen Unterfangen. (NZZ, 16.8.2018)

Der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman schreibt in der „New York Times“, dass die Türkei zu lange Schulden in Fremdwährungen aufnahm, sie dann nicht zurückzahlen konnte und auch keine neuen Kredite bekam. „Es ist relativ irrelevant, was zum ‚plötzlichen Stopp‘ von Krediten aus dem Ausland geführt hat. Das könnten innere Entwicklungen sein wie die, dass die Wirtschaft dem Schwiegersohn unterstellt wurde, oder auch die Erhöhung der US-Zinsen“, schreibt Krugman. (13.8.2018)

Die US-Sanktionen gegen die Türkei haben auf jeden Fall den Verfall der türkischen Lira angeheizt. Schwerwiegend für die Türkei ist es aber, dass Trump und die USA einen Rüstungsstopp gegenüber der Türkei verhängt haben. Betroffen davon sind Modernisierung von einigen tausend Militärfahrzeugen und Waffensystemen sowie die Auslieferung von 100 neuen Kampfflugzeugen. Gleichzeitig stellt die USA den Nato-Stützpunkt Incirlik auf den Prüfstand. Diese Maßnahmen treffen das Erdogan-Regime hart. Seine Kriege in den kurdischen Gebieten der Türkei, in Syrien und im Irak kosten täglich mehrere Millionen Dollar.

Wie wird es nun weitergehen? Trotz aller Anspannungen im Verhältnis zur Türkei hat die deutsche Bundesregierung kein Interesse an einer großen Schwächung der Türkei. Zu wichtig ist die Türkei beim Flüchtlingsdeal, zu wichtig die mittlerweile fast 7 000 deutschen Firmen in der Türkei und ihr Investitionsvolumen. Sollte sich die Krise mit den USA verschärfen, signalisieren Außenminister Maas und der französische Präsident Macron, werden sie die Türkei stützen. Katar, Russland und China sind auch bereit, die Türkei mit Krediten zu stützen. Nicht zuletzt hat Russland die Türkei, Deutschland und Frankreich zu einem Syriengipfel eingeladen. Der IWF würde zu einem Hilfsprogramm bereitstehen, wenn Erdogan die Unabhängigkeit der Zentralbank wiederherstellen würde.

Keine schnelle Lösung

Eine schnelle Lösung wird es nicht geben. Aber beim verliehenem Geld hört der Spaß auf. So wird das Regime Erdogan weiter in die Krise schlittern. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und anderen Zeitungen wird über Revolten spekuliert. Vor den Wahlen im Juni wurde schon über den Niedergang der Wirtschaft gesprochen, aber so richtig kommt die Krise meist länger zeitversetzt bei den Menschen an. Nur mit nationalistisch-religiöser Propaganda und dem Kitt des Krieges gegen die Kurden und verschärfter Unterdrückung wird das für Erdogan und AKP nicht zu lösen sein.

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DOK: HDP: Von der Regierung verursachtes Fiasko

Saruhan Oluç, Sprecher der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hat sich zu den steigenden Devisenkursen in der Türkei geäußert.

Erdoğans Aufruf, in einem „nationalen Kampf“ die „Devisen unter dem Kissen“ hervorzuholen, um im „Wirtschaftskrieg“ zu siegen, sei lediglich der Versuch, die Krise zu vertuschen, erklärte Oluç. „Es gibt keinen Wirtschaftskrieg. Es gibt eine Krise und ein Fiasko, die durch das politische und ökonomische Vorgehen der Regierung entstanden sind.“

Weiter erklärte HDP-Sprecher Saruhan Oluç: „Die Behauptung, es gebe keine Krise, ist eine Lüge. Gelogen wird vor allem von der Regierungskoalition, ihren Medien und nahestehenden akademischen Kreisen. Dass der Kurs stündlich ansteigt und der Unterschied beim Devisenankauf und -verkauf zunehmend größer wird, ist ein wichtiger Hinweis dafür, dass das Vertrauen in eine ausgeglichene und funktionierende Wirtschaft zusammengebrochen ist. Die Verfestigung des Ausnahmezustands und das Misstrauen gegenüber einem korrupten und verschwenderischen System haben die Krise weiter angekurbelt.

Seit den Wahlen am 24. Juni hat die türkische Lira 33 Prozent an Wert verloren. Die Inflationsrate ist um 25 Prozent angestiegen, die Arbeitslosigkeit hat sich verdoppelt. Die Inflation wird täglich größer, die Lebenshaltungskosten und die Verschuldung steigen. Die Bevölkerung ist heute ärmer als gestern und wird morgen leider noch ärmer sein. Das bedeutet es, wenn die türkische Lira an Wert verliert. Auf der anderen Seite gibt es regierungsnahe Kreise, die aus diesen Turbulenzen Profit schlagen und Gewinne machen werden, während das Land unter der bestehenden Regierung auf den Abgrund zutreibt.

Die Regierung als Anstifterin sowohl der politischen als auch der wirtschaftlichen Krise will ihren Weg fortsetzen, indem sie über das von ihr errichtete autoritäre Regime die Bevölkerung für ihre eigenen Fehler zahlen lässt. Sie gedenkt, die aktuelle Krise mit Schritten im Finanzsektor, mit ihrer Geldpolitik, mit Lügenmärchen von vierhundert Projekten in hundert Tagen zu stoppen. Dabei irrt sie sich. Mit Heldenmut lassen sich weder die Wirtschaft noch das Land führen. Mit Aufschriften wie ‚Sie haben Dollar, wir haben Allah‘, die hinten ans Auto geklebt werden, oder Sprüchen über einen ‚Wirtschaftskrieg gegen ausländische Mächte‘ lässt sich die Situation nicht meistern. Der Versuch, darüber die Entwicklungen zu steuern, wird morgen als noch schwerere ökonomische Konsequenz auf den Schultern der Werktätigen, der Armen, der Bauern, der Gewerbetreibenden und der Produzierenden lasten.

Wir wissen, dass sich eine Lösung nicht auf den ökonomischen Bereich beschränkt. Für eine Lösung sind politische Schritte erforderlich. Gebraucht werden keine Ein-Personen-Führung und kein monolithisches Verständnis, sondern eine pluralistische Demokratie und eine unabhängige Justiz. Anstelle von Kriegspolitik brauchen wir Friedenspolitik. Die Isolation auf Imrali muss beendet werden. Notwendig ist eine Politik, die sich auf eine demokratische Lösung der kurdischen Frage konzentriert. Solange der Institutionalisierung des Faschismus nicht die Besonderheiten einer demokratischen Republik entgegengesetzt werden, ist es mittel- und langfristig nicht möglich, die Krise zu überwinden.

Wir betonen ein weiteres Mal, dass die Rechnung dieser Krise nicht der Bevölkerung vorgelegt werden darf. Wir rufen alle zum gemeinsamen Kampf auf, die die Wirtschaftspolitik und die politische Vision dieser Regierung nicht akzeptieren und dagegen Einspruch einlegen. Was jetzt getan werden muss, ist solidarisch und gemeinsam gegen den aktuellen Verlauf und für Demokratie und Frieden zu kämpfen.“

Quelle: ANF, 11.8.2017