Aus Politische Berichte Nr. 12/2018, S.03 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

EGMR: Selahattin Demirtaş muss freigelassen werden

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) fordert von der Türkei in seinem Urteil vom 20. November 2018 die Freilassung des früheren Abgeordneten und Ko-Vorsitzenden der HDP. Demirtaş wurde im November 2016 in Diyarbakir verhaftet und sitzt seither im Hochsicherheitsgefängnis Edirne in Untersuchungshaft. Das EGMR urteilte nun, dass das einen unrechtmäßigen Eingriff in die Meinungsfreiheit darstelle, da Demirtaş nicht seiner Arbeit als Abgeordneter im türkischen Parlament nachkommen konnte. Das Gericht weiter: Seine Inhaftierung habe besonders in der Zeit der Präsidentschaftswahlen im vergangenen Juni und dem gleichzeitig stattfindenden Referendum über den Übergang vom parlamentarischen zum Präsidialsystem habe das Ziel gehabt, Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte einzugrenzen. Die Türkei wurde weiter zu einer Zahlung von 10 000 Euro Schadensersatz und 15 000 Euro Prozesskosten verurteilt.

„Das Urteil des Straßburger Menschenrechtsgerichtshof im Fall Selahattin ist ausgesprochen wichtig und begrüßenswert“, erklärte Andrej Hunko als europapolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke und Mitglied des Europarates. „Der Präsidentschaftskandidat der links-kurdischen HDP sitzt seit zwei Jahren offenbar rechtswidrig in Untersuchungshaft, ein Umstand, der auch die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni verzerrte. Die Linke hat seit der Inhaftierung immer wieder gegen diese Willkür protestiert. Ich erwarte von der Türkei nun die Freilassung von Selahattin Demirtaş in den nächsten Tagen. Das Urteil unterstreicht auch die Bedeutung des Rechtssystems der Europäischen Menschenrechtskonvention mit dem EGMR, dass es zu verteidigen und auszubauen gilt.“ (ANF, 20.11.2018)

Präsident Erdogan erklärte noch am gleichen Tag, dass das Urteil für die Türkei nicht bindend sei und die Türkei zu einer „Gegenoffensive übergehen“ werde.

Dem widersprach sofort der Pressesprecher des Generalsekretärs des Europarats Daniel Holtgen: „Nach Artikel 46 des Menschenrechtsabkommens sind alle EGMR-Urteile für die Mitgliedsstaaten bindend.“

Die Anwaltskammer der Türkei stellte dazu fest, dass die Republik Türkei seit 1949 Gründungsmitglied des Europarats ist und die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat. „Gemäß Artikel 2 unserer Verfassung ist die Türkei ein Rechtsstaat. Die einfachste Definition eines Rechtsstaates lautet, dass es sich um einen Staat handelt, der das Recht als bindend erachtet. Insofern kann die Republik Türkei zwar Urteile des EGMR kritisieren, aber es ist nicht richtig, davon zu sprechen, dass diese nicht umgesetzt werden.“ (ANF, 26.11.2018)

Der Antrag auf Haftentlassung Demirtaş, den seine Anwälte umgehend stellten, wurde von dem Strafgericht Ankara am 1. Dezember abgewiesen.

Wie die angekündigte Gegenoffensive Erdogans aussieht: Vier Monate vor den Kommunalwahlen überzieht er erneut die HDP mit einer Verhaftungswelle. Seit November 2016 wurden über 10 000 HDP-Funktionäre festgenommen, mehr als 5 000 sitzen seither in Haft. Im Parlament wurde die Aufhebung der Immunität von 21 Abgeordneten der Opposition beantragt, davon 12 gegen HDP-Abgeordnete und 9 gegen Abgeordnete der CHP. Betroffen sind u.a. Pervin Buldan (Ko-Vorsitzender der HDP) und die ehemalige EP-Abgeordnete der Linken Feleknas Uca.