Aus Politische Berichte Nr. 12/2018, S.22 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

1. November -1905 Finnland

01 Die Rote Proklamation beschleunigte die Einführung des allgemeinen Wahlrecht

02 Aura Kiiskinen: Gleichberechtigung verwirklichen

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Die Rote Proklamation beschleunigte die Einführung des allgemeinen Wahlrecht

Juhani Lohikoski, Helsinki

Der Generalstreik von Oktober bis November 1905 war ein umfassender, revolutionärer Streik im russischen Zarenreich und in dem zu dessen Hoheitsbereich gehörenden finnischen Großfürstentum. In Finnland war dies sowohl ein allgemeiner Volksaufstand der Finnen gegen das russische Zarenreich als auch die erste wirkliche Demonstration der gesellschaftlichen Macht der Arbeiterklasse. Der Generalstreik beendete die erste Phase der Russifizierung und führte zur Umwandlung der Ständegesellschaft in Richtung einer parlamentarischen Zivilgesellschaft.

Das finnische Bildungsbürgertum hatte versucht, der Russifizierung des Zaren mit Petitionen entgegenzutreten, aber diese waren ergebnislos geblieben. Erst als die Arbeiterorganisationen dem Streik beitraten, entstand der nötige Druck. Die Arbeiterklasse begnügte sich nicht mit nationalen Forderungen, sondern forderte eine Verbesserung ihrer Stellung.

Die in der Roten Proklamation von Tampere hervorgehobenen Forderungen der Arbeiterbewegung wurden während des Generalstreiks am 1. November 1905 vom Balkon des Rathauses verlesen. 40 000 Arbeiter waren gekommen, um diese anzuhören. Mit Hurra-Rufen wurde sie vom Volk angenommen.

Die Proklamation enthielt vier Punkte. Zuallererst sollte die Regierung des autonomen Großfürstentums Finnland zurücktreten. Zweitens wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht gefordert. Der dritte Punkt forderte das Ende der russischen Unterdrückung und der vierte die Ausweitung der Vereins-, Versammlungs- und Redefreiheit.

Zwei Tage später wurde die Proklamation in Helsinki angenommen und in einer konstituierenden Versammlung eine Übergangsregierung gewählt, an der Vertreter der Arbeiter beteiligt waren. Am Tag darauf unterzeichnete der Zar ein Manifest der Übergangsregierung, in dem eine Ständeversammlung einberufen und der neue Senat mit der Erneuerung des Parlaments beauftragt wurde.

Zar Nikolai II bestätigte das neue Wahlgesetz und die neue Regierungsordnung des Großfürstentums am 20. Juli 1906. Damit war in Finnland ein modernes Einkammerparlament geschaffen worden.

Die ersten Parlamentswahlen auf der Grundlage eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts in der Geschichte des Landes fanden vom 15. bis 16. März 1907 statt. Im Vergleich zum Ständesystem erhöhte sich im neuen System die Zahl der Stimmberechtigten von vormals 126 000 finnischen Männern auf 1.273 000 finnische Männer und Frauen über 24 Jahre. Die Frauen in Finnland erhielten als erste in Europa das aktive und passive Wahlrecht. In den ersten Wahlen wurden 19 Frauen in das Parlament gewählt.

„Nur gemeinsam können wir unsere Rechte durchsetzen“

Die Arbeiterklasse erlebte das gesellschaftliche Erwachen im Konflikt mit den freiheitlichen Grenzen des frühen industriellen Kapitalismus in Finnland. Im Vergleich zu anderen Staaten in Westeuropa erfolgte die Industrialisierung in Finnland spät und in bescheidenem Umfang, aber vergleichsweise rasch. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verzehnfachte sich die Zahl der Industriearbeiter und wuchs jährlich um 5 Prozent.

Der Erfolg des industriellen Bürgertums

Verantwortlich für die Zunahme der Industrialisierung waren die vom Senat verabschiedeten Wirtschaftsreformen zur Liberalisierung der unternehmerischen Tätigkeit. Die Reformen waren der Erfolg eines langen, zähen Ringens des städtischen Bürgertums mit der adeligen Bourgeoisie, die an den traditionellen Werten des Landes festhielten und statt der Schornsteine der städtischen Fabriken die Reinheit der ländlichen Gebiete verehrten.

Das aufsteigende industrielle Bürgertum suchte neue Wirtschaftskraft bei erfolgreichen und häufig ausländischen Handwerksmeistern und Mechanikern, die in ihren Köpfen Spitzentechnologie von einem Land zum nächsten schmuggelten. Der Begründer der Finlayson-Fabrik in Tampere, James Finlayson, war einer von tausenden Briten, die das technische Können der „Weltwerkstatt“ Großbritannien auf den europäischen Kontinent überführten. Ähnliche Beispiele für aus dem übrigen Europa eingewanderte Fabrikgründer gab es viele.

Die Wandlung der Landbevölkerung zur Arbeiterklasse

Der zweite bedeutende Faktor war die erhöhte Mobilität der abhängigen Klasse. In der Vergangenheit war das einfache Volk vor allem im ländlichen Raum langfristig an seinen Wohnsitz gebunden und per Gesetz dazu gezwungen, um rechtlichen Schutz bei Grundbesitzern, Arbeitgebern oder Pfarrgemeinden zu ersuchen. Dies bedeutete häufig, für einen Jahreslohn zu arbeiten und sich dem Befehl des Landbesitzers unterzuordnen. Auf diese Weise sollte die Landbevölkerung als billige Arbeitskraft gebunden werden. In den Städten herrschte ein freierer Umgang.

In den Hungerjahren 1867 und 1868 starben 150 000 finnische Staatsbürger. Obwohl auch Seuchen eine unbestreitbare Rolle spielten, war Hunger die Hauptursache. Aufgrund schlechter Ernten über mehrere Jahre waren die Getreidevorräte aufgebraucht. Der Konflikt gipfelte dahingehend, dass die Hofbesitzer Nahrung hatten und die Landarbeiter nicht. Brot wurde zu einem Zeichen für Macht. Der Hunger trieb viele dazu, Arbeit zu suchen und um Essen zu betteln.

Die Hungerjahre veranlassten den Senat, die Gesetzgebung zu ändern. Die Gewährung der unternehmerischen Freiheit sollte beschleunigt und die Grenzen für die Mobilität der Arbeitskräfte abgeschafft werden. Nach dem Gesetz von 1872 waren nur Minderjährige, Alte und Kranke unterstützungsberechtigt. Das Leitprinzip lautete nun, dass jeder das Recht habe, sich selbst mit seiner eigenen Arbeit zu ernähren, woraus auch die Verpflichtung erwuchs, dies zu tun.

Ein Arbeitsverhältnis war nach den Änderungen der Rechtsvorschriften nun ein individueller Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, den beide mit einer zweiwöchigen Kündigungsfrist aufheben konnten. Auch wenn dem Gesetz weiterhin ein patriarchalischer Charakter anhaftete, wurde durch die Änderung rechtlich der „freie Lohnarbeiter“ geboren.

Freiheit und Lebensunterhalt

Die Hoffnung auf ein besseres Auskommen und größere Freiheit trieb die Landbevölkerung zur Arbeit in die Fabriken. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wuchsen die Fabrikstädte aufgrund einer Vervierfachung der Zahl der Arbeiter rapide an.

Für die arbeitende Bevölkerung in den Städten bedeutete das kapitalistische Wirtschaftssystem einen Wechsel der Basis für die Bestreitung ihres Lebensunterhalts, den Übergang zum eigenen Tauschhandel. Trotz Knappheit bot die Lohnarbeit für viele die Möglichkeit, ihr Auskommen zu verbessern. Das Volkseinkommen und die durchschnittlichen Reallöhne der arbeitenden Bevölkerung haben sich zwischen den Hungerjahren und dem Ersten Weltkrieg schätzungsweise verdoppelt.

Vergleichsweise am stärksten konnten junge Frauen ihren Lebensstandard erhöhen, die sich von der Magd zur Fabrikarbeiterin wandelten. Die Arbeiter schätzten die Industrialisierung, da diese gegenüber der alten Ständegesellschaft im ländlichen Raum Freiheit und Fortschritt zu bieten schien.

Dagegen erlebten die Landarbeiter außerhalb der Städte wiederum keine vergleichbare Veränderung. Nur die Hunderttausende, die in die Industriezentren Finnlands, Russlands und Amerikas zogen.

Die Politisierung der Arbeiterklasse

Wie entstand aus der arbeitenden Bevölkerung eine politische Klasse? Die Entstehung der Arbeiterklasse scheint einem sehr klassischen Schema zu folgen, wonach die kapitalistische Industrialisierung Lohnarbeiter hervorbringt, die zur Wahrung ihrer Stellung den Machthabern Widerstand leisten und so eine sich dem sozialistischen Ziel bewusste Klasse herausbilden. Dies war jedoch nach Pertti Haapala, Professor für Geschichte, in Finnland nicht der Fall.

Das Bildungsbürgertum hatte über die Aufstände der Arbeiter in Europa gelesen und strebte danach, die arbeitende Bevölkerung in einer gemeinsamen Anstrengung zu zivilisieren. Die Grundidee waren Erziehungsprogramme zum Wesen des Finnischtums mit dem Ziel, den gesellschaftlichen Frieden aufrechtzuerhalten, die eigene Macht durch einen Bund mit dem Volk zu stärken, aber auch das wahrhaft starke Ideal einer demokratischen Gesellschaft.

Das Ideal der Zusammenarbeit begann zu bröckeln, als in den Arbeitervereinen die Arbeitermitglieder mit den Bildungsbürgern über das Wahlrecht in Streit gerieten. Den Arbeitern war eine Kostprobe der Freiheit gewährt worden, aber sie verfügten über kein staatliches Wahlrecht. Auch auf kommunaler Ebene bestand nur teilweise ein Wahlrecht und dieses häufig einkommensabhängig. Die Botschaft von Gleichberechtigung und Gerechtigkeit war angekommen, aber als Ideal und Wirklichkeit aufeinandertrafen, sah die arbeitende Bevölkerung als einzigen Weg zur Verbesserung ihrer Situation die unabhängige Organisation. Die arbeitende Bevölkerung organisierte sich in Berufsverbänden und in der 1899 gegründeten Arbeiterpartei Finnlands. Die Politisierung der Arbeiterklasse gipfelte 1905 im Generalstreik, aus dem sie als eine bedeutende gesellschaftliche Kraft hervorging.

Es scheint auch, dass die im 19. Jahrhundert durch den Kapitalismus hervorgebrachte Lohnarbeiterschaft den Kapitalismus nicht als Bedrohung für ihre Existenz erlebte. Die Arbeiterschaft begann, sich zu organisieren, jedoch vielmehr, um an der bürgerlichen Gesellschaft teilzuhaben, und nicht, um diese zu stürzen. Durch die Teilnahme an der sich formenden Zivilgesellschaft versuchte die Arbeiterschaft, die Ungleichheiten der Ständegesellschaft zu beseitigen. Nach Haapala kann man davon ausgehen, dass die finnische Arbeiterbewegung die Art und Weise zum Ausdruck brachte, wie die Arbeiter sich den Gedanken der Nationalität zu eigen machten und dies in einer Situation, in der die Klassengrenzen der alten Gesellschaft noch sehr lebendig waren und sich sowohl der Nationalstaat als auch die bürgerliche Gesellschaft im finnischen Winkel des russischen Reiches in der Entstehung befanden. Die Gesamtheit dieser Faktoren erklärt die Stärke der finnischen Arbeiterbewegung, nicht der Wandel, den die Industrialisierung mit sich brachte.

Übersetzung: Nordica Translations

Abb. (PDF): Faksimie Rote Proklamation

Abb. (PDF): Oben: Generalstreik 1905. Foto von Theodor Sommers. Archiv der Museen von Tampere.

Abb. (PDF): Unten: Belegschaft der Finlayson-Textilfabriken 1896. Archiv des Vapriikki Museums in Tampere.

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Aura Kiiskinen: Gleichberechtigung verwirklichen

Juhani Lohikoski, Helsinki

Im April 1907 wurde der finnische Gewerkschaftsverband gegründet. Ausschlaggebend hierfür war auch der Generalstreik von 1905, der die Arbeiterschaft sichtbar in den gesellschaftlichen Mittelpunkt rückte, die Ständegesellschaft abschaffte und das allgemeine und gleiche Wahlrecht erwirkte. Aus den Wahlen im Jahr 1907 gingen die Sozialdemokraten dann als größte Partei mit 37 % der Stimmen hervor.

Die gewerkschaftliche Organisation war in den vorangegangenen Jahren rasch vorangeschritten und es bestand Bedarf nach festen Organisationstrukturen. In den Anfangsjahren war die vorrangige Aufgabe die Streikorganisation. An der Gründungsversammlung nahmen fast 400 Vertreter teil, die Arbeitervereine sowie Ad-hoc-Ausschüsse vertraten. Die Versammlung verabschiedete den Grundsatz der Ebenbürtigkeit der politischen und der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. Die Mitgliederzahl des finnischen Gewerkschaftsverbandes stieg gleich im ersten Jahr auf 25 000 an.

Aura Kiiskinen war eine der Agitatorinnen des finnischen Gewerkschaftsverbandes. Sie bereiste das Land und sprach unter anderem von der Wichtigkeit der gewerkschaftlichen Organisation von Frauen. Kiiskinen besuchte die Grundschule in Wyborg und war seit dem 16. Lebensjahr als Dienstmädchen in zahlreichen Haushalten tätig. Sie gehörte der Dienstmädchengewerkschaft an, aus der die Dienstbotengewerkschaft hervorging. Diese Gewerkschaft setzte sich aktiv für den Acht-Stunden-Tag für Dienstpersonal ein.

Aura Kiiskinen war bis zum Bürgerkrieg im Jahr 1918 über mehrere Perioden als Abgeordnete tätig. Sie war auch Mitglied im staatlichen Komitee für Arbeitslosigkeit. Kiiskinen vertrat die Rolle der Frau auch bei ihrer Teilnahme am Frauenkongress im Jahr 1910 in Kopenhagen, bei dem der internationale Frauentag seinen Anfang nahm.

Abb. (PDF): Aura Kiiskinen