Aus Politische Berichte Nr. 01/2019, S.18 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Was bürgerschaftliches Engagement vermag

Ulrike Küstler, Stuttgart

Am 4. Dezember 2018 öffnete in Stuttgart das Hotel Silber als Ort historisch-politischer Bildung zum ersten Mal seine Türen. Seit 2008 kämpfte eine Bürgerinitiative gegen den Abriss der ehemaligen Gestapozentrale und für ein NS-Dokumentationszentrum. Hier gibt es heute eine Dauerausstellung, finden Veranstaltungen statt und Workshops für Schulen.

Was macht diesen Geschichtsort besonders?

Zum Ersten: es ist ein Täter-Ort. Gedenkstätten dienen meist der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Auch in diesem Haus wird die Geschichte vieler Opfer des Nationalsozialismus gezeigt. Aber hier stehen das Wirken der Polizei und die Verbrechen der Gestapo im Zentrum. In der Stuttgarter Bevölkerung ist das Hotel Silber vor allem der Ort des organisierten Nazi-Terrors mitten in der Stadt im Bewusstsein.

Die zweite Besonderheit: Das Gebäude war seit der Weimarer Republik, im Dritten Reich und nach dem Krieg bis 1987 Sitz der Polizei. So können hier die Kontinuitäten und Brüche der Polizeiarbeit gezeigt werden. Fragen, die sich aufdrängen, sind: Warum funktionierte der Übergang von der Weimarer Republik in die NS-Herrschaft scheinbar reibungslos? Welche Rolle spielten Gestapo-Leute im Zweiten Weltkrieg in den besetzten Ländern und welche Verantwortung hatten sie bei den Massenmorden? Welche Opfergruppen wurden auch nach 1945 in diesem Haus von der Polizei verfolgt?

Die dritte Besonderheit ist der rechtliche Rahmen. Dass Bürgerinitiativen erfolgreich für eine Gedenkstätte kämpften, das gab es an verschiedenen Orten. Aber dann hat meist eine städtische oder staatliche Institution allein die Regie übernommen, und die Bürgerinnen und Bürger waren über bald außen vor. Das Hotel Silber dürfte der einzige Fall sein, in dem durch Verträge die weitere Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger im Betrieb des Hauses geregelt ist.

2016 wurden zwischen dem Land Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart ein Finanzierungs- und Organisationsvertrag geschlossen, den auch die Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber unterzeichnet hat. Hier sind die finanziellen Bedingungen geregelt, wobei die Landesstiftung Baden-Württemberg als Eigentümerin des Hauses den Umbau übernommen hat. Stadt und Land tragen die Kosten für die Einrichtung, Ausstattung sowie die laufenden Personalkosten, Betriebs- und Sachkosten je zur Hälfte. Die Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V. ist im Verwaltungsrat und im Programmbeirat vertreten. Außerdem tagt jährlich ein runder Tisch, zu dem auch die Opferverbände (Israelitische Gemeinde, Sinti und Roma, Homosexuelle, DGB), die Landesjugendverbände, Mitglieder des Landtags und Stadtrats und die Landeszentrale für politische Bildung ihren Sitz haben.

2016 wurde auch eine Bürgerbeteiligungs- und Nutzungsvereinbarung zwischen der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber geschlossen. In der Präambel heißt es: „Ziel dieser Einrichtung ist es, diesen Ort des Terrors in einen Ort des Bekenntnisses zu demokratischen Grundrechten und zu gelebter Akzeptanz menschlicher Vielfalt zu wandeln.“ Neben dem gemeinsam erarbeiteten Programm können das Haus der Geschichte (das die Trägerschaft hat) und die Initiative eigenverantwortete Veranstaltungen und Projekte durchführen. Die Initiative kann Räume belegen und bekommt einen eigenen kleinen Arbeitsraum im Haus.

Dieser rechtliche Rahmen ermöglicht die vierte Besonderheit: Das Programm des Hauses konzentriert sich nicht nur auf die Vermittlung historischen Wissens. Das Haus wird gemeinsam bespielt vom Haus der Geschichte und der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V. und öffnet sich so der städtischen Zivilgesellschaft. Das Programm hat einen starken Gegenwartsbezug. Das Veranstaltungsprogramm greift aktuelle politische Diskussionen auf oder stößt solche an.

Wie konnte das erreicht werden?

2007 begann Planung für das heutige Dorotheen-Quartier. Plan der Landesregierung war, das ganze Areal um das bisherige Innenministerium inklusive des ehemaligen Hotels Silber abzureißen und gemeinsam mit der Firma Breuninger (größter Einzelhändler der Region im Familienbesitz) auf 50 000 m² einen riesigen Neubau mit 5-Sterne-Hotel, Luxusgeschäften und Luxuswohnungen sowie Büros für Ministerien errichten. Von dem „Leuchtturmprojekt“ sollte die ganze Stadt profitieren. Da war Widerspruch unerwünscht. Aber sofort nach Bekanntwerden der Pläne gab es den ersten Widerstand von den Stolperstein-Initiativen, die in Stuttgart rund 800 Stolpersteine verlegt haben, und den AnStiftern, die jährlich den Stuttgarter Friedenspreis stiften und politische Kultur organisieren.

Es wurde gedroht: Im Juli 2008 behauptete der Vertreter des Landes im Technischen Ausschuss des Stadtrats, der Entwurf für so ein neues Viertel „macht nur Sinn, wenn das Hotel Silber weg ist“. Dem OB Schuster gelang es, die bürgerlich dominierte Mehrheit im Stadtrat für das „Leuchtturmprojekt“ zu gewinnen. Es sei die einmalige Chance, die Innenstadt zu erneuern. Nur um die enorme Baumasse des Projekts wurde ausgiebig gestritten.

Es wurde getrickst: Der OB und die Kulturbürgermeisterin behaupteten, das heutige Hotel Silber sei nicht „authentisch“, es sei ein Nachkriegsneubau. Nicht das Haus müsse man retten, sondern das Gedenken an diesen Ort, zum Beispiel durch eine Erinnerungstafel oder ein Kunstwerk.

Dem widersprachen die Initativen. Aber die Bauunterlagen für das Hotel Silber waren beim Baurechtsamt oder im Archiv nicht zu finden. Der OB und die Kulturbürgermeisterin ließen sich von einem Denkmalschutz-Mitarbeiter bestätigen, es seien auch im Keller keine Spuren der Gestapo-Zeit finden. Daraus destillierten die Grünen und die SPD ihre Rechtfertigungsformel: Erforderlich sei ein „angemessenes Gedenken“. Dieses entwickelte sich im Lauf der Jahre ein bisschen weiter zu einer Gedenkstätte im Keller des Neubaus mit Zugang aus dem Neubau.

2010 legte der Architekt Prof. Ostertag seine „Recherchen zur Geschichte des Hotel Silber ab 1945“ vor. Er wies nach, dass das Hotel Silber kein Neubau war, sondern schon 1945 wieder von der Polizei genutzt und 1947 bis 1949 wieder aufgebaut und saniert wurde.

Der Vorschlag einer Gedenkstätte im Keller entpuppte sich später auch als Täuschungsversuch von Land und OB. Bei Beginn der Planung der Gedenkstätte wurde klar, dass gerade der Keller am stärksten durch das Innenministerium umgestaltet wurde. Von den Verwahrzellen war oberflächlich nichts mehr zu sehen.

Die Initiative stellte sich breit auf

2008 entstand aus den Stolpersteinen und den Anstiftern die Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber. Sie war von Anfang an breit aufgestellt als Bündnis von erst zwölf, später 23 eigenständigen Initiativen und Vereinen sowie Einzelmitgliedern. Mit dieser Konstruktion war schon eine Politik der Vernetzung angelegt. In den ganzen zehn Jahren arbeitete die Initiative nicht allein. Sie beteiligte sich an Demonstrationen und Veranstaltungen anderer, baute Kontakte auf und lud Referenten anderer Gedenkstätten ein, bot ihren Mitgliedern und Interessierten Besichtigungsreisen an zum gegenseitigen Lernen.

Seit 2009 organisierte die Initiative jedes Jahr eine Veranstaltungsreihe. Hier wurden auch immer aktuelle Themen aufgegriffen. Nach anfänglicher Skepsis berichtete die örtliche Presse über alle Aktionen in der Stadt. Auch regional und überregional wurde berichtet. „Die Zeit“ zum Beispiel kritisierte den geplanten Abriss: „Stuttgart erblindet“. Hunderte Leute beteiligten sich an den Aktionen.

Die Forderung Erhaltung des Hotels Silber wurde ins Rathaus getragen

Im Mai 2009 im Mai stellte die Linke-Einzelstadträtin Ulrike Küstler den Antrag: „Das ,Hotel Silber‘ erhalten und ausbauen als NS-Dokumentationszentrum.“ Im Stadtrat erntete sie damit höchstens mitleidiges Lächeln. 2009, nach der Kommunalwahl, bildete sich die Fraktionsgemeinschaft SÖS und Linke, die jetzt auch in den Ausschüssen mitarbeiten konnte. 2010 veranstaltete SÖS-Linke ein Hearing im Rathaus. Prof. Ostertag stellte die Baugeschichte des Hotels Silber dar. Prof. Jung vom ELDE-Haus in Köln nannte den geplanten Abriss eine „Kulturschande“. Briefe von noch lebenden Zeitzeugen wurden vorgelesen, die vom OB und vom Land die Erhaltung des Hotels Silber forderten. Zwei Nachfahren von Naziopfern forderten dasselbe. Die Initiative stellte ihre Konzeption vor.

Als der OB dann im Sommer auch ein Hearing im Rathaus machte, wurde die Authentizität des Hauses bestätigt, und die hochkarätigen Referenten sprachen sich teils direkt für die Erhaltung des Gebäudes aus.

Die Zusammenarbeit der Initiative mit SÖS-Linke war und ist nicht exklusiv

Bis heute geht die Initiative auf die verantwortlichen Politiker aller Fraktionen im Stadtrat und Landtag zu und sucht das Gespräch auch mit denen, die andere Auffassungen haben. Es gelang, dass Grüne, SPD und SÖS-Linke neben gegensätzlichen Forderungen auch gemeinsame in den Stadthaushalt brachten, die dann mehrfach auch von den bürgerlichen Parteien unterstützt wurden. So förderte die Stadt ein Projekt des Stadtjugendrings und der Stolpersteine, die Filmserie „Frage-Zeichen – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus“. Der Stadt übernimmt die Personalkosten einer Stelle für politisch-historische Jugendarbeit, um demokratiefeindlichen, menschenrechtsfeindlichen und rassistischen Entwicklungen entgegenzutreten. Der Stadtrat unterstützte die Forderung der Initiative, dass der Eintritt in die Dauerausstellung kostenlos ist, fürs Erste bis 2020. – Im Wahlkampf für die Landtagswahl im Frühjahr 2013 gab es vorsichtige Annäherung der SPD, die unter bestimmten Bedingungen doch das Haus erhalten wollte. Die Jusos sprachen sich sowieso dafür aus, ebenso die grüne Jugend. Im Rathaus gab es ein informelles Frauenbündnis mit Stadträtinnen von Linke, SPD und Grünen. Eine grüne Kreismitgliederversammlung beschloss gegen den Vorstand und die Fraktion, dass das Hotel Silber nicht abgerissen werden darf.

Als nach der Landtagswahl 2013 eine grün-rote Landesregierung zustande kam, stieg die Hoffnung auf die Erhaltung der ehemaligen Gestapo-Zentrale. Es sickerte bald durch, dass der neue Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) das Hotel Silber in den Koalitionsvertrag aufnehmen wolle. Daraus wurde zwar eine Protokollnotiz, aber sie wurde umgesetzt.

Das Land und die Firma Breuninger wollten den Neubau im Jahr 2013 fertig stellen. Stattdessen wurde am 18. Juli 2013 vom Gemeinderat erst der Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan verabschiedet. Dieser enthielt das Baurecht für das Land und die Firma Breuninger. Das Hotel Silber war in diesem Projekt ausgespart – es soll erhalten bleiben. Jetzt ging es darum, was in dem Gebäude passieren soll.

Die Initiative wollte ein Experiment ohne Vorbild

Im Hotel Silber sollte nicht nur ein staatliches Museum mit Veranstaltungsräumen entstehen. Die Initiative wollte ein Haus, das sich für die Zivilgesellschaft öffnet. Deshalb wollte sie in der neuen Einrichtung gleichberechtigt mitarbeiten. Auch die Stadt Stuttgart sollte mit ins Boot geholt werden. Über diesen Ansatz wurde öffentlich und in Gremien zwei Jahre hart gestritten. Dabei prallten zwei Systeme aufeinander: hier die Ministerialbeamten und der Leiter des Hauses der Geschichte, die ursprünglich den Abriss guthießen, und da die Initiative, die sich nicht darauf einlassen wollte, wie „es schon immer war“. Diese Phase endete 2016 mit den Verträgen, und es begann die Umbauzeit und die Gestaltung des Hauses.

Die Initiative arbeitete nun mit an der Konzeption der Dauerausstellung und der Veranstaltungsplanung. Sie arbeitete im Programmbeirat des Hotels Silber. Sie führte ihre eigenen Veranstaltungen weiter, in Zukunft im Hotel Silber.

Aufregende inhaltliche Kontroversen um die Darstellung vor allem der Weimarer Zeit und der Nachkriegszeit wurden ausgefochten.

Gelungene Eröffnung

Zur Eröffnung im Dezember 2018 gab es drei Veranstaltungen: Die Stadt Stuttgart hat eine Gruppe von Überlebenden eingeladen, nach Stuttgart zu kommen. Für sie und für Kinder und Enkel von Überlebenden sowie die Leihgeber gab es eine Danke-Veranstaltung. Ehrenamtliche, die aktiv für die Erhaltung des Hotel Silber gearbeitet haben, bekamen eine Preview der Ausstellung. Bei der offiziellen Eröffnung sprachen der Leiter des Hauses der Geschichte, die Vertreter der Ministerien und der OB Fritz Kuhn. Der Vorsitzende der Initiative Harald Stingele hielt ebenfalls eine Rede.

In der ersten Woche kamen ca. 4000 Besucherinnen. In den Wochen seither kamen jeweils bis zu tausend. Für Januar sind auch drei Seminare für Schülerinnen und Schüler gebucht. Ein guter Anfang für das Experiment.

Abb.(PDF): Es ist besiegelt: Das Hotel Silber wird zum Lern- und Gedenkort – strahlende Gesichter vor der Vertragsunterzeichnung • Nils Schmid, damals Finanzminister, Jürgen Walter, Wissenschaftsministerium, sowie Harald Stingele und Elke Banabak für die Initiative unterschreiben • Die Ausstellung zeigt die einzige erhaltene Tür aus den Verhörzellen der Gestapo.