Aus Politische Berichte Nr. 02/2019, S.04 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Brexit ist auch eine Verfassungskrise

Eva Detscher, Karlsruhe

Nicht nur die Irlandfrage, sondern auch die Frage, wie konnte es nur soweit kommen, dass ein Herausfallen der Briten aus der EU vor der Tür steht, lässt den politischen Beobachter kopfschüttelnd erstaunen. Am 14. Januar die 432-zu 102-Stimmen Ablehnung des Abkommens, das Theresa May mit der EU über den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU ausgehandelt hatte, das Misstrauensvotum, das May übersteht, die Debatte im Unterhaus am 29. Januar mit den skurrilen Abstimmungen über die einzelnen Anträge erzeugten ein eigenartiges Bild: Das Parlament will keinen harten Brexit, Backstop wird abgelehnt, May muss nachverhandeln. Zeit vergeht, nichts Substantielles passiert: Blockadepolitik? Oder Versagen in der Verantwortung? Welche inhaltliche Lähmung hat das britische Parlament erfasst?

Um das zu begreifen, muss man an den Anfang des Desasters: Vor den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament hat der britische Premier Cameron sein Spielchen mit dem Feuer begonnen. Um die stärker werdende Partei UKIP einzufangen, setzte er 2013 mit dem Versprechen auf ein Referendum das Verfassungssystem aufs Spiel und leitet einen Paradigmenwechsel ein. Gerade in Großbritannien, in dem es schon ein Parlament gab, als in anderen Ländern Europas feudale Herrschaftsstrukturen ohne jegliche Repräsentationsmöglichkeit an der Tagesordnung waren, hat der Premier die regelbasierte, auf Ausgleich zielende Institution Parlament ausgehebelt: es wurden im Vorfeld überhaupt keine Festlegungen für die Verwertung des Referendum und Umsetzung des Ergebnisses durch das Parlament getroffen. Diese neue Rolle hat das Parlament lange einfach hingenommen. Die Verblüffung war so groß, dass es erst allmählich die verfassungsmäßige Federführung bei einer solchen landesweit grundlegenden Frage zurückzufordern scheint. Auch fordert das Parlament eine neue Rolle bei Vertragsverhandlungen ein, die bisher so nicht verfassungsmäßig vorgesehen ist. Während in vielen Ländern viele Verträge eine Abstimmung im Parlament erfordern, konnte das britische Parlament bisher nur bei der Umsetzung eines von der Regierung ausgehandelten Vertrags entscheiden oder die Ratifizierung hinauszögern. Stoppen konnte es die Ratifizierung bisher nicht.

Es ist ein „stolzes Recht“, „als Souverän die politischen Geschicke des Landes zu lenken“ – und dieses Recht besteht spätestens seit der Amtszeit von Oliver Cromwell mit Verabschiedung der „Bill of Rights“ 1689, die die Rechte des britischen Parlaments gegenüber dem Königtum regelt und die Souveränität des Parlaments gegenüber einer plebiszitären Souveränität festlegt. „In eklatanter Selbstlähmung entmachtet (sich das britische Parlament) gegenwärtig selbst“, beurteilt Peter Rásonyi in der NZZ vom 1.2.19 die Situation und fährt fort: „Was Cameron nicht bedachte oder was er leichtfertig in Kauf nahm, war der immense Kollateralschaden, den sein eigennütziger Entscheid dem britischen Verfassungssystem zufügen würde. Mit dem EU-Referendum übergab Cameron die Gestaltungsmacht über die Geschicke Großbritanniens einer zweiten Instanz, dem Volk, ohne dass geregelt gewesen wäre, in welchem Verhältnis diese zum bisherigen absoluten Machtzentrum stehen würde, dem Parlament von Westminster. An diesem Konflikt hakt der Brexit-Prozess bis heute.“ Bislang war ein Referendum im Vereinigten Königreich konsultativ und nicht etwas bindend, was nämlich einer Einschränkung der Souveränität des Parlaments gleichkäme. Es herrschte 2013 auch kein Notstand oder eine Krise, in der ein drastisches Mittel hätte gerechtfertigt werden müssen – es war eine Kapitulation vor den populistischen Schreihälsen mit der Hoffnung, deren Wähler zu gewinnen. Cameron hat somit auch die Moral in der Tory-Partei korrumpiert: plötzlich war möglich, Karriere zu machen, wenn man nur laut genug EU-Bashing betreibt – eine direkte Aufforderung an Boris Johnson, den damaligen Bürgermeister von London (das im Referendum 2015 mit deutlicher Mehrheit für den Verbleib gestimmt hat), der auch bis kurz vor der Abstimmung wartete, um seine – doch überraschende – Stimme für den Austritt bekannt gab. Er hatte erfolgreich sich zum Zünglein an der Waage hochstilisiert, allerdings sein persönliches Ziel, Premier zu werden, nicht erreicht. Camerons sofortiger Rücktritt nach dem Referendum gehörte zum Plan: Verantwortung hat „das Volk“ jetzt übernommen – wie das alles gehen soll? Keine Ahnung, das sollen andere durchziehen.

Leider hat sich auch Labour zu einer „Akzeptanz des Referendums“ bekannt – leider kam auch von dieser Seite kein Versuch, den Angriff auf die Verfassung zu thematisieren. Der Verschleiß an Ministern und Unterhändlern, die sich am Brexit versucht haben, ist nur eine der Umbrucherscheinungen, die durch dieses Referendum getriggert wurden. Vielleicht kommt ja eine Debatte über die Vergewisserung der Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung und der Rollenverteilung im Sinne einer good Governance ins Rollen. Wenn dann noch der Brexit abgesagt wird, hätte das Ganze auch was Gutes gehabt.