Aus Politische Berichte Nr. 02/2019, S.06 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Gelbwesten: Kein Ende der Krise in Sicht

01 Dok: Jacques Lévy. Die Vernachlässigung der Randgebiete ist eine Legende

Matthias Paykowski. Karlsruhe

Die Maßnahmen der französischen Regierung, um die schwere politische Krise zu bewältigen, spülen 2019 rund 11,9 Mrd. Euro in die französischen Haushalte, d.h. drei von vier Haushalten werden im Schnitt 440 Euro aus der Staatskasse erhalten. Das französische Observatorium für Wirtschaftskonjunktur (OFCE) stellt dazu fest, dass es nicht die wirklich Armen der französischen Gesellschaft erreicht: „Die Begünstigten befinden sich weitgehend in der Mitte der Einkommensverteilung, d.h. zwischen den ärmsten 25% und den reichsten 25%. Sie werden insbesondere von der Steuerbefreiung für Überstunden, der Senkung der Wohnsteuer und den Nettoeffekten aus der Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung profitieren. Einige dieser Maßnahmen werden auch den wohlhabendsten 5% zugutekommen, die bereits große Gewinner der Kapitalsteuerreform sind.“ (Le Monde 29.1.2019)

Am 9. Februar fand ACT XIII. der Gelbwesten statt, mit weiter sinkender Beteiligung und kaum vorstellbar heftigen Gewaltausbrüchen. Die Bewegung setzt mit ihren anhaltenden Aktionen langfristig auf Zermürbung der Polizeitruppen und will die Herrschaft über den öffentlichen Raum.

Die von der Regierung initiierten „Grands Débats“ – Diskussionsrunden in den Gebietskörperschaften, die die Bürgermeister organisieren – finden Zuspruch, aber sie erreichen die Gelbwesten nicht.

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Dok: Jacques Lévy. Die Vernachlässigung der Randgebiete ist eine Legende

Die folgenden Auszüge eines Interviews mit Jacques Lévy, französischer Geograph, befassen sich mit Aspekten der Gelbwesten-Krise. Da der Raum (Stichwort: Stadt – Land; Zentrum – Peripherie) in der Berichterstattung über die französische Gesellschaft auch in dieser Zeitschrift Thema war und ist, dazu einige Gesichtspunkte Lévys:

Stadt, Zentrum, Randgebiet, Vorort

Die 25% der Franzosen, die in den Vororten der Stadtgebiete leben, den vom Zentrum am weitesten entfernten Teilen, haben ein Einkommen, das über dem nationalen Durchschnitt liegt. Die meisten von ihnen haben sich dafür entschieden, Eigentümer eines Einfamilienhauses mit eigenem Garten, einem oder mehreren Autos zu werden. Diese Entscheidung kostet sie viel. Aber es ist eine Möglichkeit für sie, Menschen aus dem Weg zu gehen, denen sie nicht begegnen wollen. Das Ziel ist es, Menschen wie sie selbst zu finden. Die vorstädtischen Parzellen sind sehr homogen. Das nennt Eric Charmes „Clubbisation“. Dieses Sozialmodell basiert auf Familien mit einem oder mehreren Kindern; die gegenseitige Unterstützung in der Nachbarschaft gleicht den Mangel an öffentlichen Dienstleistungen aus. (…)

Im Gegensatz zu dem, was Christophe Guilluy sagt (siehe PB 12.2018, M.P.), sind es die Steuerzahler der großen Städte, die für die anderen zahlen. Der niedrigste Median des tatsächlich effektiv verfügbaren Einkommens liegt auf der Ile-de-France. Das bedeutet, was die Arbeitnehmer im Pariser Stadtgebiet produzieren, wird durch die große Maschinerie der Besteuerung, der Renten und der sozialen Sicherung neu verteilt. Trotz der niedrigeren Kosten für Mobilität ist das Leben in der Ile- de-France im Allgemeinen teurer, insbesondere die Wohnung natürlich, und alles andere, was von Grundstückspreisen betroffen ist. Die Armen in den reichen Regionen zahlen für die Reichen in den armen Regionen.

Die „gelben Westen“ gehören zu dem Anteil der Bevölkerung, der am stärksten von Autos abhängig ist, und sie sind der Ansicht, dass die Straße ihnen gehört. Es war der Tropfen Benzin, der das Pulver in Brand setzte. Mit der Einführung der 80 km/h-Geschwindigkeit hat die Zerstörung von Radarfallen enorm zugenommen. Einige Autofahrer träumen von einer Welt, in der sich der Staat nicht in ihre Angelegenheiten einmischt. Sie weigern sich, öffentliche Güter, insbesondere ökologische, zu berücksichtigen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Sie sind Liberalisten und eine radikalisierte Erweiterung der populistischen Wählerschaft, die vor Europa und der Globalisierung zurückschreckt und urteilt, dass „es vorher besser war“. Sie bilden keine soziologische Gruppe, sondern eine politische, deren Projekt die radikale direkte Demokratie ist. Die Möglichkeit, gewählte Vertreter über das „Referendum der Bürgerinitiative“ (RIC) zu entlassen, ist eine Kriegswaffe gegen die repräsentative Demokratie, und dieser Ansatz hat eine stark verbindende Kraft.

(…) Es gibt noch ein anderes räumliches Segment, wo sie besonders gut vertreten sind: den Vorort (4% der Bevölkerung). Es gibt dort proportional viel mehr arme Menschen als in den Randgebieten, eine ältere Bevölkerung oder Arbeitslose, die den Arbeitsmarkt aufgegeben haben und mit geringen finanziellen Mitteln ums Überleben kämpfen. Diese Menschen sind sozial sehr isoliert und haben mit sozialen Netzwerken und der Gelbwestenbewegung soziale Gesellung gefunden. Die Gelben Westen umfassen einen erheblichen Anteil an Handwerkern, Kleinunternehmern oder Verkäufern. Wenn wir die Klassifizierung von Pierre Bourdieu betrachten, haben sie mehr wirtschaftliches als kulturelles Kapital. Unter ihnen herrscht mehr oder weniger das Gefühl, dass das kulturelle Kapital, das zu einem erneut gewachsenen Interesse an den Städten führt, den Sieg davongetragen hat und sie Opfer dieser Transformation sind.

Aus der Stadt in die Vorstadt

Aus den kulturell erhaltenen Verbindungen der Arbeiterklasse in den Städten mit dem bäuerlichen Leben nutzten diese Bewohner die Verbesserung ihrer Kaufkraft, um ein Haus mit Garten zu kaufen. Sie haben damit ihren Traum verwirklicht. So gab es eher einen Übergangseffekt als eine Logik der Räumung und Vertreibung. Es sei daran erinnert, dass es in den 1950er Jahren möglich war, eine Wohnung im Marais, im Herzen von Paris, zu einem bescheidenen Preis zu kaufen, weil das Viertel verfallen war.

Aber der Plan des Kulturministers André Malraux in den 1960er Jahren bedeutete einen Richtungswechsel. Es zeigte sich, dass Erbe bewahrt werden kann, wenn es gleichzeitig modernisiert wird. Der Tod von Präsident Pompidou 1974 rettete Paris, denn sein Plan war, mehrere Autobahnen innerhalb und durch die Hauptstadt zu bauen und auch die Zerstörung des Saint-Martin-Kanals von der Bastille bis zur Porte de Pantin. Aber die dynamischen Marketing- und Werbekampagnen von RATP haben dazu beigetragen, den Trend wieder umzukehren. Die Metro, die als Transportmittel für die Armen galt, ist „trendy“ geworden. Heute sagen die „gelben Westen“ im Grunde genommen: „Ihr Wichtigtuer, ihr habt die U- Bahn, wir müssen unser Auto nehmen!“ …

Das Modell der großen amerikanischen Residenzen der 1960er Jahre, wie Chesnay-Rocquencourt (Yvelines), mit Parly 2 und seinem Einkaufszentrum, ist ebenfalls verschwunden, eine Matrix, die den Bau neuer Autobahnen erfordert hatte. Der Mai 1968 brachte die „Creative Class“ in Werbung und Kino gestern, und in digitalem Format heute an die Spitze. Diese „bürgerliche Boheme“, die ihrer Tätigkeit im Herzen der Städte nachgeht, ist keine klassische Bourgeoisie. In Paris leben sie lieber in Stadtvierteln, in denen die Bevölkerung gemischt ist, statt im 16. Arrondissement, wo die Bewohner vor einigen Jahren zusammenkamen, um ein Zentrum für prekäre Menschen zu verhindern.

Gentrifizierung in Paris

Von zwei Millionen Einwohnern gibt es auch 300 000 arme Menschen. Damit liegt Paris im Durchschnitt der französischen Großstädte. Außerdem gibt es in Paris genauso viele arme Menschen wie im gesamten Vorort. Die vor allem aus Ausländern und Migranten bestehende Armut ist noch intensiver als anderswo. Das bedeutet nicht, dass die Viertel nicht unter einem Problem Gentrifizierung leiden … Wie das V. Arrondissement-Syndrom, in dem die Kategorie Arbeiterklasse fast vollständig verschwunden ist und „Paubos“ („die arme Boheme“) wegziehen und damit dazu beitragen, die zentrale Zone zu erweitern, zuerst auf das Perizentrum von Paris, dann auf den ersten Ring von Vorstadtkommunen. (…)

Der soziale Wohnungsbau ist zu einem Unternehmen geworden. Es wäre sinnvoll, ein System einzurichten, bei dem die standortbedingten Mietzuschläge kein Hindernis für den Zugang zu Wohnungen in teuren Stadtteilen darstellen. Keine Operation sollte mit öffentlichen Mitteln unterstützt werden, wenn sie nicht zum sozialen Mix beiträgt.(…) Die Bürgermeister haben sich aus wahltaktischen Gründen auf die Armen konzentriert, andere auf die Reichen. Kommunen sollten daran gehindert werden, ihre „Menschen“ auszuwählen. Auf der Ebene der städtischen Gebiete sollten Maßnahmen zum sozialen Mix umgesetzt werden. In diesem Zusammenhang könnten wir die Schaffung von Wohnungen für die Armen verhindern, wo es bereits viele von ihnen gibt. Dabei sollen die Gemeinden nicht verschwinden, sondern, wie in Paris oder Lyon, zu Bezirksrathäusern mit vielleicht noch etwas mehr Macht und partizipativen Budgets für das Zusammenleben werden.

Quellen: Interview in La Gazette des Communes, 1.2.2019; auszugsweise und mit Kommentaren versehen, eigene Übersetzung; https://www.lagazettedescommunes.com/603895/jacques-levy-labandon-des-territoires-periurbains-est-une-legende/

Lesenswerte Ergänzungen:

Interview in der NZZ, 1.2.2019: Alain Finkielkraut über die Gelbwesten und Macrons große Debatte: https://www.nzz.ch/feuilleton/alain-finkielkraut-ueber-die-gelbwesten-und-macrons-grosse-debatte-ld.1455336?mktcid=nled&mktcval=107&kid=_2019-2-1

Stadt – Land- Gegensatz – Die Wut der „Abgehängten“ – Claus Leggewie, FAZ 16.1.2019.

Abb. (PDF): Die Begrenzung der Geschwindigkeit auf 80 km/h rettet Leben – Man will uns am Sterben hindern, damit wir weiter Steuern zahlen müssen – Man lebt in einer Diktatur.

Abb. (PDF): Sansculottes als Gilet jaunes?