Aus Politische Berichte Nr. 02/2019, S.16 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Rechte Provokationen --- Demokratische Antworten

Das RomArchive

– ein dialogisches Projekt mit europäischer Ausrichtung aus der Perspektive der Minderheit

Rosemarie Steffens, Langen. Am 24. Januar 2019 wurde das digitale RomArchive freigeschaltet und feierlich der Öffentlichkeit übergeben. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats deutscher Roma und Sinti, machte bei der Festveranstaltung die Bedeutung dieses Werks klar. Wir dokumentieren seine Rede in Auszügen.

„Das Ziel für das RomArchive ist, das kulturelle Erbe von Sinti und Roma zu dokumentieren und den hohen Wert dieser Kultur, die lange ausgegrenzt und … unsichtbar war, der Öffentlichkeit nahezubringen. Deshalb hat dieses Projekt für unsere gesamte Minderheit eine so große Bedeutung. Es geht darum, Sinti und Roma in ihren Heimatländern in Europa sichtbar werden zu lassen. Das Projekt RomArchive (ist) eine Chance vor allen Dingen, weil hier Sinti und Roma als Kuratoren eine neue, quer zu traditionellen Wahrnehmungsmustern stehende Perspektive entwickeln können. Das Projekt ist ein dialogisches Projekt, bei dem zum einen die Perspektive der Minderheit zum entscheidenden Kriterium für die Präsentation der Bilder und Dokumente, der Film- und Tonbeispiele gemacht, und gleichzeitig die gleichberechtigte Zusammenarbeit von Minderheit und Mehrheit – in beiden Richtungen wohlgemerkt – als Normalität etabliert wurde. … Es ist wichtig, daß die Geschichte der NS-Verfolgung als ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte in Deutschland und in Europa wahrgenommen und begriffen wird. Die Quellen hierzu stammen ausschließlich von Sinti und Roma selbst, sind also „Stimmen der Verfolgten“, die jahrzehntelang ungehört geblieben sind. Das Projekt zeigt, daß Roma in Europa gerade keine homogene Gruppe sind, sondern sich …in den jeweiligen Staaten und Regionen in vielfältiger Weise unterscheiden. Dieser Aspekt erscheint mir gerade deshalb wichtig, weil wir aktuell in einer Zeit zu leben scheinen, in der die Homogenität des Nationalstaates wieder eine ungesunde Dimension anzunehmen droht. Vielfalt wird nicht als Bereicherung unseres Lebens, sondern seit einiger Zeit geradezu als Bedrohung der Nation dargestellt und empfunden. Das RomArchive wird gleichwohl nie fertig sein, sondern es soll und wird sich weiter entwickeln und die Vielfalt der kulturellen Leistungen von Sinti und Roma in Europa dokumentieren und zugänglich machen. Hierfür müssen die europäischen Institutionen wie die Regierungen in den jeweiligen Ländern … die Institution des RomArchive international weiter auszubauen. …“

Wie kam es zu diesem Projekt?

In den letzten Jahren entstanden viele Projekte, bei denen Roma und Sinti ihre Kunst, Kultur und Geschichte selbstbewusst präsentierten. Die Idee für RomArchive basiert auf intensiver Recherche und vielen Interviews der Projektinitiatorinnen Franziska Sauerbrey und Isabel Raabe europaweit mit Kunstschaffenden, Kuratoren, Aktivistinnen und Wissenschaftler_innen dieser Minderheit, in denen Bedarf nach einem international zugänglichen Ort formuliert wurde, der Kulturen und Geschichten der Roma und Sinti sichtbar macht. 2014 wurde die Bundeskulturstiftung, eine der bedeutendsten europäischen Stiftungen, davon überzeugt, das RomArchive finanziell zu unterstützen. Künftiger Träger wird das Europäische Roma-Institut für Kunst und Kultur in Berlin sein. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat für die nächsten fünf Jahre Fördermittel zugesagt.

Den beständigen Fremdbeschreibungen und Stereotypen der Mehrheitsbevölkerungen, mit einer Mischung aus Faszination und Verachtung, die sich auch darin offenbart, dass die vielfältigen Kulturen von Sinti und Roma in europäischen Kulturinstitutionen weitgehend unberücksichtigt bleiben, sollte durch Aufklärung über ihre gesellschaftlichen Realitäten durch selbst erzählte Gegengeschichten begegnet werden.

In allen entscheidenden Positionen des Projektes gestalteten Roma und Sinti das Archiv selbst. Durch die über Europa hinausgehende Vernetzung von ca. 150 Projektbeteiligten aus 15 Ländern kamen verschiedenste Interessen, kulturelle Identitäten und nationale Eigenheiten an einen Tisch und während der fünfjährigen Aufbauphase wurde ein gemeinsames Ziel diskutiert: Wie kann Selbstrepräsentation trotz aller Unterschiede und wie können positive Gegengeschichten gelingen? RomArchive respektiert die Diversität, erzählt unterschiedliche Geschichten und präsentiert ein Panoptikum vielfältiger Kulturen als Teil der europäischen Kulturgeschichte. (aus der Rubrik: Idee, Beirat, Team)

Wie ist dieses Internet-Archiv aufgebaut?

Klar und ansprechend, mit der Möglichkeit aus den drei Sprachen Englisch, Romanes und Deutsch auszuwählen, präsentiert die Titelseite lebendige Fotos von spielerisch oder sportlich Aktiven und von Menschen im „normalen Leben“. Beim Öffnen der Seite schieben sich nacheinander drei Tafeln in das Sichtfeld: „Es ist unsere Kultur“, „Identitäten dekonstruieren“ und „Wissen entkolonisieren“. Damit sind die Akteure und die Ziele definiert. Folgende zentrale Rubriken, die zum Stöbern und Forschen einladen, stehen im Fokus:

Bilderpolitik

Als Roma und Sinti spätestens Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt unter staatliche Repression gerieten, entstanden Fotografien, die sie als „gefährliche Elemente“ darstellen. Nach 1945 wurde die Verfolgungsgeschichte kaum thematisiert, populäre Fotobände aber auch Illustrationen in der Presse hielten, als ob zwischen 1933 und 1945 nichts geschehen sei, weiter an der romantisierenden und diskriminierenden Darstellung der Roma und Sinti fest. Erst in den 1970er und 80er Jahren wurde, zumindest in der BRD, diese Sichtweise einer ersten Revision unterzogen. Politische und soziale Bürgerrechtsbewegungen begannen den Dialog zwischen Mehrheitsgesellschaft und Sinti und Roma. Die öffentliche Darstellung diversifizierte sich. Auch in der Fotografie schlug sich dieser emanzipatorische Schritt nieder. „Wir brauchen Fotografien, die uns menschenwürdig darstellen, Bilder über Sinti und Roma, die an das verlorene Wissen über die gemeinsam erlebte Geschichte in Europa anknüpfen …“ (Aus: Bilderpolitik, André Raatzsch)

Die Künste und Kulturen

„Der Reichtum einer jahrhundertealten und bis in die Gegenwart überaus lebendigen und vielseitigen künstlerischen und kulturellen Produktion wird hier erstmals in diesem Umfang öffentlich sichtbar“ (Katalin Bársony). Auch durch Hörbeispiele und Videos werden die Werke in den Rubriken Film, Musik, Flamenco, Tanz, Theater und Drama sowie Literatur, vorgestellt und gewürdigt als Beiträge zur europäischen Kulturgeschichte. 35 Filme wurden z.B. daraufhin ausgewählt, wie genau ihnen die Darstellung von Roma-Gemeinschaften und -Charakteren gelingt und ob sie ihre Kultur, Sprache, Traditionen, Mythen und ihre alltäglichen Lebensbedingungen verständlich machen können.

Antiziganismus

Die Geschichte der Roma und Sinti und anderer Gruppen, die ebenfalls die Sprache Romanes sprechen, wie die Kalderasch, Lalleri, Lowara, Manusch, wird ausgehend von der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma dargestellt. Speziellere Themen wie „Transnationale Roma-Bewegungen mit dem Ziel der Durchsetzung von Bürgerrechten nach dem Holocaust“, oder „Politik der historischen Gerechtigkeit und der Kampf gegen den Antiziganismus“ findet man in Untergliederungen. Das Anliegen, den Holocaust an den Roma und Sinti offiziell einzugestehen, und Aufarbeitungs- und Entschädigungsforderungen an Deutschland waren für die Ausformung der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland, aber auch für den Kreis von Intellektuellen, der in den 1950er Jahren den Weg für die internationale Roma-Bewegung ebnete, von zentraler Bedeutung. Beispiele aus verschiedenen Ländern zeigen, welche Fortschritte die letzten beiden Generationen von Roma-Aktivist_innen erzielen konnten. (Jan Selling)

Voices of the victims (Stimmen der Opfer)

Hunderttausende waren von 1933 bis -45 im Deutschen Reich und in den von ihm besetzten oder mit ihm kollaborierenden Ländern der rassistischen Stigmatisierung, Gewalt und Tötungsverbrechen ausgesetzt. Viele erschütternde Berichte von Betroffenen sind in dieser Rubrik zu lesen und zu hören.

Im Mai 2019 wird RomArchive Bestandteil des Roma-Pavillons der Biennale von Venedig sein.

Das RomArchive ist unter:

www.romarchive.eu zugänglich.

Der Besuch dieses großartigen Archivs erschließt neue Horizonte!

Abb. (PDF): Die erste internationale Gedenkkundgebung am 27. Oktober 1979 auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen erinnerte an die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma. Romani Rose mit Simone Veil – Copyright: Friedrich Stark. Lizensiert unter CC-BY-NC-ND 4.0 International. Zur Verfügung gestellt vom Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (Heidelberg)