Aus Politische Berichte Nr. 02/2019, S.18 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

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Warfleth: Ein Konzert für Europa!

Johann Witte, Bremen. Warfleth ist ein Dorf direkt am Weserdeich und gehört zur Gemeinde Berne in der südlichen Wesermarsch zwischen Lemwerder und Elsfleth. Berne hat mit seinen 44 Ortsteilen ca. 6800 Einwohner (80 Einwohner pro Quadratkilometer). Seit elf Jahren wird in der kleinen Warflether Kirche von 1350 unter dem Titel „Berne bringt…“ ein Kultur- und Konzertprogramm mit hochrangigen Künstlern angeboten. Das dritte Warflether Neujahrskonzert am 6.1.2019 mit Jonian Ilias Kadesha (Violine), Vashti Hunter (Violoncello) und Theo Plath (Fagott) stand unter dem Motto „Happy Neujahr, Európe!“. Bei der Eröffnung des Konzerts waren alle 120 Plätze besetzt, als auf die Bedeutung der Europawahlen 2019 und die Bedeutung des europäischen Einigungsprozesses für den Frieden in Europa hingewiesen wurde. Deutlich gemacht wurde dies u.a. mit einer Übersicht im Programmheft, die die aufgeführten Werke und Texte den zwischen 1585 und 2002 stattgefundenen europäischen Kriegen gegenüberstellt. Die Ausführungen zum Konzept des Konzerts werden – leicht gekürzt – mit freundlicher Genehmigung des Verfassers, Reinhard Rakow, dokumentiert.

„Happy Neujahr, Európe!“
– das Konzert, das Konzept

Die Idee eines ,europäischen‘ Konzerts entstand letztlich infolge des Fehlens von Originalliteratur für ein mit Geige, Cello und Fagott besetztes Trio. Sie entzündete sich am Durchspielen der möglichen Solo- und Duett-Varianten. „Ich spiele Bach“, „wir spielen Skalottas“ – damit lag er in der Luft, ein Brite (Purcell) als Dritter im Bunde, und mit ihm der Gedanke, das dritte Warflether Neujahrskonzert Europa zu widmen; ein Italiener (Paganini), ein Österreicher (Mozart), ein Schweizer (Holliger) und ein Ungar (Kodály) waren im Kontext gerne willkommen. Und böte 2019 sich nicht schon wegen des 70. Geburtstags des Europarates dazu an, es als Europajahr musikalisch zu feiern? Oder/trotz Trump und Orbán, Brexit und PiS? Mag auch die (vermeintliche) Verschiedenartigkeit der Zungen – die Lesungen des Abends künden jedoch zugleich von der Verwandtschaft der Rhythmen, Syntaxen und Bilder benachbarter Sprachen – mag sie noch zur Abgrenzung von Sprachräumen taugen und als Wasser auf die Mühlen politischer Chauvinisten: Am schönsten und am deutlichsten widerlegt Musik alle völkischen Fiktionen, sie ist es, die den aus Blut und Boden abgeleiteten Gedanken „Nation“ aufs Überzeugendste und Unmittelbarste als Trugbild entlarvt, Chimäre und Fantasmagorie.

2014 legte die Eisenacher Schau „Blut und Geist“ den Finger auf eine sorgsam verdrängte deutsche Wunde, die der direkten Abstammung unseres aktuellen Bach-Hypes aus dem von Nazis erfundenen und kultivierten Bach-Hype. Die NZZ damals: „Bach-Feste und Konzertübertragungen im Radio, dem Volksempfänger, trieben die Popularisierung des großen Johann Sebastian voran. NS-Abstammungslehren rühmten Bachs hohe Musikalität als ,Ergebnis einer gelungenen Inzucht‘. Musikwissenschaftler steuerten willig ihren Beitrag zu Bachs Arisierung bei. Da wurde Bachs Polyfonie auf die ,Lurenmusik der Germanen‘ zurückgeführt, und man betonte das ,Volksliedhafte‘ in Bachs Chorälen, was ,in einer Zeit wachsender Überfremdung deutscher Musik erneuernde Blutzufuhr von der Wurzel her bedeutet‘ habe. Friedrich Blume (ein Musikprofessor, der noch bis 1958 in Kiel lehren durfte – R.R.) faselte ,dass eben dies rassische Moment, das nordische, es ist, was uns Heutige an Bach so gewaltig ergreift‘.“

Alles Quatsch. Blume und Volksgenossen irrten. Auch wenn Bach sich, anders als der praktizierende Paneuropäer Telemann, ausschließlich in deutschen Ländern redlich nährte und vermehrte, war er keineswegs, wie von den Nazis postuliert, „der deutscheste aller deutschen Komponisten“. Tatsächlich gibt es weder „deutscheste“ noch „deutsche“ Musik. Bach bediente sich in großem Stil bei Vivaldi, Corelli und anderen italienischen Komponisten, er pflegte in seiner Musik den französischen und den italienischen Stil, verkehrte mit Fürsten, die sich in französischem Gehabe zu überbieten trachteten. Verfasste Satzbezeichnungen und Spielanweisungen in Französisch, Lateinisch, Italienisch. (Dass es ausgerechnet Mendelssohn war, einer von jüdischem Blut, dem Bachs Wiederentdeckung zu verdanken ist, macht das Ganze endgültig zu einem Treppenwitz der Musikgeschichte.) Romain Rollands wunderbares Buch „Musikalische Reise ins Land der Vergangenheit“ (zu lesen im Netz unter „Projekt Gutenberg“) entnehmen wir eine plastische Darstellung der europäischen Musikgeschichte, wie sich Melodien und Instrumente, musikalische Idiome, Farben und Neuheiten des Vielvölkerraumes Europa (Menuhin spricht vom europäischen „Kompost“) über die Jahrhunderte durchmischten – nicht zu einem Einheitsbrei ohne unterscheidbare zutaten, wohl aber zu einer Musik, deren Wurzeln in Idee und Substanz multinational genährt waren und auch so funktionierten und funktionieren. Rolland, dem großen Literaten, Musikkritiker und Pazifisten, der als Franzose mitten im Ersten Weltkrieg die Aussöhnung mit den Deutschen propagierte, geht es darum, nationale Scheuklappen gar nicht erst aufzusetzen und Begegnung, Lernen, Respekt und Austausch stets und unbedingt zuzulassen. (Nebenbei: Ich habe mich lange gefragt, wie Bach, ganz ohne schnelles Internet so rasch und so effektiv aus Quellen jenseits der Alpen „klauen“ konnte. Ein Musikologe klärte auf, das sei den ausführenden Musikern zu verdanken gewesen. Auf den Gipfeln ist die Luft dünn, wer da atmen kann, für den ist die Welt ein Dorf. Spitzenmusiker seien schon seit jeher „Global“ orientiert und „global“ unterwegs gewesen und hätten so die Austausche, in jegliche Richtung!, entscheidend befördert.) Rolland schreibt von Telemann in Polen, von Händel und Haydn in England, von Moden, die da entstanden und dort oder dort und schließlich hier oder sonstwo oder überall heimisch wurden – bis sie abgelöst oder überlagert wurden durch oder gekreuzt mit neuen, aus dem eigenen Land oder von ganz weit weg. Gedanken kennen keine Grenzen, das war schon immer so. Sie befruchten einander über die Schlagbäume hinweg, ohne nach Herkunft zu fragen und ohne auf nationale Stempel zu schielen.

Yehudi Menuhin hat das in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Personen wie seinem Lehrer George Enescu, diesem vielsprachigen, in den Philosophien der Welt, in Rumänien, in Amerika und in Frankreich beheimateten Denker, Lehrer, Musiker und Komponisten festgemacht. Mit Persönlichkeiten wie Enescu, Bartók, Telemann, Menuhin selbst natürlich (und s.o. Rolland – nur Beispiele neben vielen anderen) die die Offenheit des Denkens lebten und förderten, mit solchen Menschen in den Zentralen der Macht hätten sich wohl viele Kriege verhindern lassen. Menuhin hatte recht: „Allein Kultur wird uns, indem sie Verschiedenartiges vereint, zu einem wirklichen europäischen Bewußtsein verhelfen, denn es ist die Entfaltung der Unterschiedlichkeiten der Kulturen, die Europa zu seiner vollen Leuchtkraft verhilft“.

Ich wollte; Europa wäre auf diesem Weg weiter. Und ich finde auch, dass ein Friedensnobelpreisträger die Verpflichtung hat, sich nicht abzuschotten als Insel von Mammon und Wohlsein, sondern dass er Menschenrechte auch „Eindringlingen“ zu gewähren hat. Und weiß, dass die gern hergezeigte 70-Jahre-Friedens-Weste nicht blütenrein ist, spätestens seit Jugoslawien. Und doch ist es eine Tatsache, dass die Schaffung der Europäischen Union und der weiteren europäischen Institutionen Millionen und Abermillionen von Menschen davor bewahrt hat, in Kriegen zu sterben, die ohne diese Institutionen mit hoher und höchster Wahrscheinlichkeit längst ausgebrochen wären.. Das lehrt die Geschichte.

Ein Grieche, eine Britin und mittendrin ein Deutscher. Was ließe sich da historisch erzählen. Wie könnte man sich aufregen! Aber keinen kratzt es, warum auch? Drei junge Menschen, große Künstler, zufällig Europäer, feiern mit ihrer Musik Neujahr in einer kleinen Kirche am Weserdeich, mitten in Europa, zusammen mit anderen Menschen, die Musik mögen, und alle freuen sich, und die Gäste strahlen und sagen „Die müssen wiederkommen!“ Fast scheint es, als wäre Geschichte zu etwas nutze gewesen.

„Wahrlich, ich lebe in lichteren Zeiten.“

R.R.

Abb. (PDF): Die Kirche von Warfleet. Bei der Eröffnung des Konzerts waren alle 120 Plätze besetzt.