Aus Politische Berichte Nr. 03/2019, S.18 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

2019. Politische Zeitenwende in Deutschland?

Kommentar zu aktuellen Entwicklungen des Parteiensystems.

Dr. Harald Pätzolt; berlin, 13.2.2019

1. Zum Ende des Jahres 2017, nach der Bundestagswahl, habe ich in einem Vortrag in Elgersburg auf den Befund der Parteienforschung hingewiesen, dass die Parteien in Deutschland wohl programmatische Unterschiede aufwiesen, aber dem Parteiensystem (den rechten Rand ausgenommen) die Polarität fehlte. Daher die Schwierigkeit der Wahl für viele Bürgerinnen und Bürger. Im Wahlkampf selbst gab es Versuche, diesen Mangel an Polarität symbolisch oder personell zu kompensieren, was, man erinnert sich an Martin Schulz, nur mäßig erfolgreich war.

Mit der aktuellen Kurskorrektur der CDU in Sachen Migration und der SPD für ihr Sozialstaatsverständnis deutet sich ein eine Polarisierung des Parteiensystems über die sogen. Volksparteien an. Diese Polarisierung verläuft interessanterweise auf der altbekannten Achse Markt–Staat. Oder, mit den Worten des CDU-Fraktionschefs Ralph Brinkhaus: Die CDU kümmert sich um die Wirtschaft, die SPD um die Nachsorge.

Nicht unwahrscheinlich ist, dass sich daraus eine Win-Win-Situation für beide Parteien entwickelt. Es sind die weit verbreiteten und von Vielen erinnerten Images dieser Parteien, die wieder bedient werden. Polarität bringt Orientierung und damit Zuspruch. Das muss sich nicht sofort in Umfragen Abb. (PDF): ilden, aber beide ziehen Aufmerksamkeit und Interesse auf sich.

Für Die Linke, die vor einer Europawahl, vier Landtagswahlen und diversen Kommunalwahlen steht, wird eine solche Entwicklung überall dort zur Gefahr, wo der Kontakt der Bürgerinnen und Bürger mit der Politik im Alltag und damit die Resonanz nur schwach sind. Je weniger greifbar, desto mehr klischeebehaftet die Parteien. Das dürfte in ländlichen Regionen der Fall sein.

2. Die SPD hat die ersten Teile eines Konzeptes für den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts vorgelegt. Es geht darin um eine Neuordnung der modernen Arbeitswelt und um eine Aufwertung der Lohnarbeit, wie die Redaktion des „Sozialismus“ in einem Kommentar richtig feststellt. (12. Februar 2019 Redaktion Sozialismus, Vor einer Linkswende der SPD ? ) Es geht um die Solidargemeinschaft, um Flexibilität der Sozialsysteme, Weiterbildung, einen neuen Betriebsbegriff, um Arbeitsrechte in der Plattformwirtschaft und um eine Grundabsicherung nach unten – im Zeitalter der digitalen Revolution.

3. Die Motivation dieses bemerkenswerten programmatischen Schritts scheint mir in der Annahme der SPD-Führung zu liegen, dass es in diesem Jahr mit Sicherheit zum Abschied Angela Merkels aus dem Kanzleramt kommen wird.

Gleich, ob eine solche Situation mit einem Wechsel der Koalitionspartner, mit Neuwahlen oder nur mit Neuverhandlung des bestehenden Koalitionsvertrages verbunden sein wird, für die SPD ist heute bereits existenziell, sich deutlich zu profilieren.

Das versucht die SPD nicht nur im Programmatisch-Großen, sondern auch im Koalitionsalltags-Kleinklein. Es hat schon Methode, wenn einige SPD-Regierungsmitglieder den Koalitionsvertrag so frei wie in dieser Legislaturperiode noch nie auslegen und damit jedes Mal in der Sache und medial ein kleines politisches Momentum auf ihrer Seite haben: Grundrente – aber ohne Bedürftigkeitsprüfung, Maklergesetz – so nicht im Koalitionsvertrag, Klimaschutz – die Ressorts Wirtschaft, Energie und Verkehr sollen es dann umsetzen.

Hierbei schafft die SPD in Regierung noch keine Sollbruchstellen. Aber sie baut bewusst Spannung auf, setzt die Union unter Druck. Wir wissen, dass die skeptische SPD-Wählerschaft von heute und einst sich in gehörigem Abstand, in Wartestellung zu den Parteien links von der Union befindet. Das Schauspiel muss schon noch eine Weile laufen, die Dramaturgie stimmen und die Besetzung gut spielen, ehe wieder Beifall geklatscht werden wird. Das weiß die Führung der SPD so gut die die der Union.

4. Die damit aufscheinende Frage nach den Machtoptionen der SPD wird von deren Parteiführung heute nicht vordergründig koalitionsstrategisch diskutiert. Im Mittelpunkt steht für die Parteiführung aktuell die gesellschaftspolitische Bündnisfrage. Mit ihrem neuen Sozialstaatskonzept geht sie entschieden auf die Gewerkschaften, ihren wichtigsten potentiellen Verbündeten in der Zivilgesellschaft, zu und wird versuchen, die mit dem bisherigen Mangel an Polarität verbundenen Haltung der Äquidistanz aufzulösen.

Die GroKo ist weiter eine Option. Das Konzept der SPD ist in wesentlichen Punkten, Stichworte wären Aufhebung der Hartz IV-Sanktionen oder Grundrente, mit der CDU verhandelbar. Auch das Konzept ist nicht die Sollbruchstelle. Gleichwohl ist in ihm die Möglichkeit einer Eskalation parteipolitischen Konflikts mit der Union absichtsvoll angelegt.

5. Die CDU stärkt ihren Markenkern der Wirtschaftspartei und holt sich ihr altes Image der Law-and-Order-Partei, Stichwort Migration, zurück.

6. Sicher ist es, aus meiner Sicht, für die Linke eine Herausforderung, dass sich die SPD, nach W. Brandts Ostpolitik, dann der Lafontaine-Schröderschen „Innovation und Gerechtigkeit“ endlich wieder „der Zukunft zugewandt“ gibt. Die Reaktionen aus der Führung der Linken waren selbstbewusst-trotzig, die SPD bringe nichts Neues, habe bei der Linken abgeschrieben, meine es nicht ernst, gehe nicht weit genug usw. usf. Dabei hatte doch der Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch, schon vorher für einen neuen Sozialstaatsdialog mit SPD und Grünen plädiert. Das wäre das Gegenteil von SPD-Bashing.

Fazit: Die Antwort der Linken auf die Offensive der SPD kann nur heißen: Wir nehmen die Herausforderung an! Wettbewerb, kompetitives Verhalten scheint angesagt. Ob sich daraus eine Perspektive der Kooperation ergibt, wird man sehen.

Abb. (PDF): Wahltermine 2019 in Deutschland