Aus Politische Berichte Nr. 04/2019, S.02 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Erdogan-Regime verliert bei den Kommunalwahlen die Großstädte und die zwangsverwalteten Regionen in Kurdistan

01 Dok: HDP fordert Respekt vor dem Wählerwillen ein

02 Dok: Wahlbeobachtung: Militär statt Demokratie

03 Dok: Solidarität. Landesausschuss Die Linke Baden-Württemberg unterstützt die Forderungen der Hungerstreikenden in der Türkei und wünscht der HDP bei den Kommunalwahlen viel Erfolg.

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Bei den Kommunalwahlen am letzten Märzwochenende verlor Erdogan und die AKP/MHP-Koalition alle großen Städte entlang der Mittelmeerküste, Ankara und bis auf Sirnak alle unter Zwangsverwaltung gestellten kurdischen Provinzen. In den Großstädten des Westens hatte die HDP auf eigene Kandidaten für die Bürgermeisterposten verzichtet und zur Wahl der CHP aufgefordert. Im kurdischen Osten war sie mit dem Slogan „Holt euch die Städte zurück“ angetreten. Die zwangsverwalteten neun Provinzen und acht Provinzhauptstädte Diyarbakir, Van, Batman, Bitlis, Hakkari, Igdir, Mardin, Siirt und Kars wurden zurückgewonnen. In Sirnak – die Stadt war 2016 fast völlig zerstört worden – lag die AKP knapp vor der HDP, was kein Mensch ohne Annahme von Wahlfälschung verstehen kann, der diese Stadt und ihre Menschen kennt. In Tunceli (Dersim) gewann der Kandidat der türkischen Kommunistischen Partei (TKP) das Mandat.

Unter zuvor bei Wahlen kaum gekannter Repression, Terror und Einschüchterung haben diese stattgefunden – und da haben die Menschen in der Türkei schon zuvor einiges erlebt. Erdogan und die AKP/MHP-Regierung hatten diese Wahlen zu einem Referendum für ihr Regime hochstilisiert und den gesamten Repressionsapparat in bisher nicht gekanntem Ausmaß hochgefahren. Im Zuge des Wahlkampfs wurden mehr als 700 HDP-Mitglieder und -Kandidaten festgenommen, Veranstaltungen angegriffen, Wahlkampfverbote für die Opposition verhängt. Mit der Verlegung von Tausenden Polizei- und Militärkräften in die zwangsverwalteten kurdischen Provinzen wurde nicht nur ein Klima der Einschüchterung, sondern auch eine neue Wählerschaft geschaffen. Die Wahlbeobachter der HDP und CHP, aus Europa und von der OECD berichten über ein bisher nicht gekanntes Maß an Wahlfälschungen. Wurde bei der letzten Wahl der Strom abgedreht, um im Dunkeln Urnen auszutauschen, fanden dies diesmal ganz offen statt. Handyvideoaufnahmen belegen viele Fälle.

Was bleibt nun: Das Erdogan-Regime hat die gesteckten Wahlziele nicht erreicht, und Erdogans alleiniger Machtanspruch ist angeschlagen. Das wird in der AKP Spuren hinterlassen. Durch die geänderten Machtverhältnisse in den wichtigen Kommunen kann die AKP/MHP-Regierung und der Präsidentenpalast nicht mehr uneingeschränkt absolutistisch regieren.

Insgesamt ist die Türkei (siehe Karte) tief gespalten in einen Westen und einen Osten, die gegen die Regierung stimmten, das weite anatolische Hochland ist weiter fest in Händen der AKP/MHP. In den Großstädten Istanbul, Ankara, Antalya, Adana, Izmir, Bursa usw. hat die Wirtschaftskrise die Lebensbedingungen der Menschen bis weit in die Schichten von Beamten, Angestellten oder Lehrern verschlechtert. Die ständige Beschneidung demokratischer Rechte, Repression gegen Unmutsäußerungen über die Lebensbedingungen, Presse- und Internetzensur sowie die Abkehr vom Laizismus haben mit den Wahlsiegen der CHP zu neuen Machtverhältnissen in den Kommunen des Westens geführt.

Die HDP hat in acht Provinzhauptstädten und 45 Kreisstädten sowie vielen kleineren Gemeinden gewonnen. Hatten die Bürgermeister und Kommunalparlamente vor ihrer Absetzung 2016 geschafft, die Kommunen fast schuldenfrei bei Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung zu bekommen, hinterlassen die AKP-Zwangsverwalter nach zwei bis drei Jahren wieder tief verschuldete Städte. Zudem haben sie fast das komplette kommunale Eigentum an ihre Anhänger verkauft. Bei der Übergabe der Rathäuser sind heftige Konflikte zu erwarten, hat Erdogan doch schon vor der Wahl angekündigt, die neu gewählten Bürgermeister nicht anzuerkennen und ihnen alle denkbaren Steine bis hin zur sofortigen Absetzung in den Weg zu legen. Wie das gleich am Anfang aussieht: In Bismil wurde am Tag nach der Wahl damit begonnen, das Rathaus mit Baggern abzureißen. Die neu gewählte Bürgermeisterin ließ daraufhin ein Zelt aufstellen. Hier werden in naher Zukunft wieder die Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen direkte Demokratie auf der kurdischen Seite und diktatorischer Zwangsverwaltung auf der anderen aufeinanderprallen.

Zudem wird die Stimmung aufgeheizt, da die AKP nicht gewillt ist, die Wahlniederlagen anzuerkennen und endlose Einsprüche auf Neuauszählung gestellt hat. Die bisherigen Neuauszählungen haben ihre Niederlage im Westen als auch im Osten eher stimmenmäßig deutlicher gemacht.

Ein weiteres Thema, was auch die politische Stimmung in der Türkei seit November bestimmt, sind die Hungerstreiks in den Gefängnissen. Derzeit nehmen daran 7000 Gefangene teil, die die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan und die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen fordern. Diese Hungerstreiks sind mit den politischen Entwicklungen in den kurdischen Provinzen, aber auch in den Großstädten des Westens eng verwoben. Wenn nicht bald Ergebnisse erzielt werden, wird das die gesellschaftlichen Spannungen nur erhöhen. Die Verluste Erdogans und der AKP bei den Kommunalwahlen machen die Situation nicht einfacher.

Abb. (PDF): . (PDF): Die Linken_Parteivorsitzenden bei der Mietendemo am 6. April in Berlin.

Abb. (PDF): . (PDF): Sieger der Bürgermeister (Belediye Başkanlıkları) der jeweiligen Parteien. Legende: gelb: AKP, rot: CHP, braun: MHP, Lila: HDP, Rosa: TKP, grau: unabhängig, (Bild Wikipedia, Von Nub Cake – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=77707851)

Abb. (PDF): . (PDF): Uludere: Miltär wird aus der Stadt gebracht.

01

Dok: HDP fordert Respekt vor dem Wählerwillen ein

Vor einer Woche haben in der Türkei Kommunalwahlen stattgefunden, die Stimmauszählung ist aufgrund zahlreicher Widersprüche immer noch nicht abgeschlossen. Die HDP fordert den Hohen Wahlausschuss zur Intervention auf.

Auf einer Pressekonferenz in Istanbul haben sich die HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Sezai Temelli zu den Kommunalwahlen vom vergangenen Sonntag geäußert und die AKP aufgefordert, den Wählerwillen zu respektieren.

„Auch bei den vorangegangenen Wahlen ist es zu Rechtsverletzungen gekommen, aber ein so großes Ausmaß von Hass und Unregelmäßigkeiten haben wir bei diesen Wahlen zum ersten Mal erlebt“, erklärte Pervin Buldan in der Istanbuler Zentrale der Demokratischen Partei der Völker (HDP). „Inzwischen ist eine Woche vergangen, aber an vielen Orten stehen immer noch nicht die Endergebnisse fest, den Wahlsiegern werden ihre Ernennungsurkunden nicht ausgehändigt und die Einsprüche gegen die Wahlergebnisse werden abgelehnt. Zu den bereits stattgefundenen Rechtsverletzungen kommen weitere hinzu“, so die HDP-Vorsitzende.

Der Wahlbetrug in Mûş und anderen Orten sei offensichtlich, erklärten die beiden Parteivorsitzenden. Alle Einsprüche der AKP seien angenommen worden, die von der HDP würden hingegen abgelehnt. Dieser Doppelstandard verweise auf die Machenschaften, die gegen die HDP angezettelt worden seien.

Während die HDP mit ihrer Wahlstrategie in Istanbul, Ankara, Antalya und Adana maßgeblich zur Niederlage der AKP/MHP-Koalition beigetragen hat, wurde in der nordkurdischen Hochburg Şirnex (Şırnak) erstmalig ein AKP-Bürgermeister gewählt. Pervin Buldan erklärte dazu, dass 12 000 Sicherheitskräfte als Wähler in die Provinzhauptstadt gebracht worden seien, insofern könne nicht die Rede davon sein, dass die AKP Şirnex hinzugewonnen habe: „Ihr habt nicht gewonnen, ihr habt Şirnex geraubt!“

In der Provinzhauptstadt Mûş hat die AKP die Bürgermeisterwahl knapp gewonnen, indem 2500 Stimmzettel für ungültig erklärt wurden. Ähnlich sieht es in der Kreisstadt Kelê (Malazgirt) aus, wo der AKP-Kandidat drei Stimmen Vorsprung hat und 432 Stimmzettel als ungültig gewertet wurden. „Die Zurückweisung unserer Einsprüche ist ein Teil der Strategie, die HDP nicht als Siegerin anzuerkennen“, erklärte Pervin Buldan und machte darauf aufmerksam, dass auch Siegesfeiern nur der AKP gestattet werden. In den kurdischen Orten, in denen die HDP gewonnen hat, sind für zwei Wochen alle öffentlichen Aktivitäten verboten worden.

Die HDP-Vorsitzenden kritisierten außerdem, dass die Stimmauszählung in Istanbul immer noch andauert. Das Vorgehen der AKP verweise auf ihre Machtbesessenheit, erklärten Buldan und Temelli und riefen den Hohen Wahlausschuss zur Intervention auf. (ANF, 6.4.2019)

02

Dok: Wahlbeobachtung: Militär statt Demokratie

Eine Wahlbeobachtungsdelegation aus Deutschland hat die Kommunalwahlen in Nordkurdistan verfolgt. Die kurdische Nachrichtenagentur ANF hat die Aktivistin Sara Sommer zu ihren Eindrücken befragt.

Könnten Sie die Zusammensetzung ihrer Delegation und die Orte, die Sie besucht haben, kurz darlegen?

Die Delegation setzte sich zusammen aus Bezirksabgeordneten der Partei Die Linke und Friedensaktivist*innen. Zaklin Nastic, Sprecherin für Menschenrechtspolitik der Linksfraktion im Bundestag, delegierte die neunköpfige Gruppe, um in ihrem Auftrag und auf Einladung der HDP die Kommunalwahlen zu beobachten. Unsere Gruppe besuchte am Wahltag die Orte Cizîr (Cizre), Şirnex (Şırnak), Idil, Qilaban (Uludere), Basan (Güçlükonak) und Silopî.

Wie waren Ihre Beobachtungen am Wahltag?

Das Militär wurde gezielt zur Wahlmanipulation eingesetzt. Unzählige Soldaten wurden in Bussen aus dem ganzen Land angefahren, um in Uniform oder zivil in den Wahllokalen zu wählen, häufig auch mehrmals an verschiedenen Orten. Zudem glichen die Orte eher Militärkasernen, denn fast überall waren Soldaten und Panzerwagen. Zudem wurden Waffen in den Wahllokalen getragen, obwohl es ein grundsätzliches Verbot des Tragens von Waffen in und vor Wahllokalen gibt. (…)

Wurden Wähler*innen behindert?

Viele Wähler*innen berichteten uns von Drohungen und Beleidigungen seitens der „Sicherheitskräfte“. Polizisten in Zivil versuchten die Meinungen der Wähler*innen zu beeinflussen. Manche wurden gezwungen, ihre ausgefüllten Wahlscheine zu fotografieren, damit Druck auf sie ausgeübt werden kann. Andere Menschen wurden gehindert, ihre Stimme abzugeben, da es ihnen der Bürgermeister verweigerte, er meinte zu wissen, dass sie die HDP wählen. Es gibt unzählige dieser Beispiele. …

Wie beurteilen Sie den Ablauf der Wahlen und das Ergebnis für ihre beobachtete Region und insgesamt?

Insgesamt lässt sich sagen, dass diese Wahlen weder fair noch geheim noch frei waren. Es gab wieder Fälle von Wahlmanipulation, zudem wurde der Wahlkampf im Vorfeld für alle oppositionellen Kräfte beinahe unmöglich gemacht. Dennoch ging die Doppelstrategie der HDP auf, in den kurdischen Gebieten die Zwangsverwalter abzuwählen und in den großen Städten die Macht der AKP durch Stimmen für die CHP zu schwächen. Bemerkenswert ist, dass die HDP zu diesem Schritt aufgerufen hat, obwohl es keine Unterstützung durch die CHP im mehrheitlich kurdisch besiedelten Südosten gab.

Insgesamt wurde Erdoğan zwar geschwächt, konnte aber leider trotzdem eine knappe Mehrheit behalten. Damit sieht es so aus, als werde Erdoğan seine Kriegspolitik weiter intensivieren können. (…) ANF (3.4.2019)

03

Dok: Solidarität

Landesausschuss Die Linke Baden-Württemberg unterstützt die Forderungen der Hungerstreikenden in der Türkei und wünscht der HDP bei den Kommunalwahlen viel Erfolg.

Die Linke Baden-Württemberg unterstützt die Forderungen der sich seit November 2018 im Hungerstreik befindenden HDP-Abgeordneten Leyla Güven und der mehreren Tausend Hungerstreikenden in den Gefängnissen der Türkei nach Beendigung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan. Auch in Straßburg befinden sich kurdische Politiker*innen für diese Forderungen seit mehr als 100 Tagen im Hungerstreik. Wir fordern die Freilassung der politischen Gefangenen in der Türkei. Stellvertretend seien hier die ehemaligen HDP-Abgeordneten Figen Yüksedag, Selahattin Dermitas, die Bürgermeisterin Gültan Kisanak und die Sängerin Hozan Cane genannt.

Die türkische Regierung und Justiz müssen die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention einhalten. Willkürliche Verhaftungen, Folter und Festnahmen Minderjähriger können nicht hingenommen werden. Die jahrelang andauernde Totalisolation von Abdullah Öcalan ist ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte. Anwälte können ihn seit 2011 nicht mehr besuchen, Parlamentarier können seit Abbruch der Friedensverhandlungen durch die Regierung 2015 keinen Kontakt mehr zu ihm aufnehmen. Den Versuch des Erdogan-Regimes, die politische Opposition mittels Verhaftungen, Prozessen, Absetzung von Bürgermeister*innen und Einsetzung von Zwangsverwaltern zum Schweigen zu bringen, verurteilen wir.

Das Schweigen der deutschen Bundesregierung zu diesen Vorgängen in der Türkei sowie die weitere Lieferung von Militärmaterial verurteilen wir. Die Kriminalisierung von Solidaritätsaktionen in Deutschland muss eingestellt und das Verbot der PKK in Deutschland aufgebhoben werden.

Für die bevorstehenden Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März wünschen wir unser Schwesterpartei HDP viel Erfolg: Holt euch in diesen Wahlen die Städte zurück! Ihr seid die Hoffnung für eine demokratische Türkei, in der Menschen in Frieden leben können.

Landesausschuss Die Linke Baden-Württemberg,

Freiburg, 24. März 2019