Aus Politische Berichte Nr. 05/2019, S.18 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Rezension:* Gerd Irrlitz: Widerstand, nicht Resignation

Dr. Harald Pätzolt, Berlin

Das Buch erinnert an die kurze Geschichte einer Leipziger antifaschistischen Widerstandsgruppe. Die Gruppe bestand aus 40 überwiegend jungen Mitgliedern der 1931 gegründeten SAP (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschland). Im Sommer 1933 in die Illegalität gegangen wurden sie schon ein Jahr später durch Verrat der Gestapo ausgeliefert, ihnen wurde der Prozess gemacht. Gerd Irrlitz verfolgt das Schicksal der Gruppe und ihrer Mitglieder anhand von Prozessakten, ausführlich werden Biographien und Geschehnisse dargestellt und mit zahlreichen Fotokopien belegt.

Und dennoch ist dieses Buch nicht das, was es vorgibt zu sein: Eine Dokumentation. Es ist vielmehr ein großer Essay zu dem Thema, das der Autor listig im Titel versteckt hat. Es geht ihm um die Erhellung der Möglichkeiten und Grenzen kollektiven Widerstandes gegen autoritäre bis offen diktatorische Machtanmaßungen. Der Blick auf den gemeinschaftlich praktizierten Widerstand, keineswegs das Individuum beiseite lassend, macht den Unterschied dieses Buchs zu der „Tugendlehre der Freiheit“, wie sie Ralf Dahrendorf mit seinen „Versuchungen der Unfreiheit“ 2006 vorgetragen hat. Irrlitz gibt der Leserschaft, um in der Begrifflichkeit zu bleiben, eine Kultursoziologie der Freiheit.

Auf den ersten gut 100 Seiten beschreibt Irrlitz, immer aufs konkrete Ereignis, auf Leipzig und die kurze Geschichte der Widerstandsgruppe Anfang der der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückkommend, die Transformation der deutschen Gesellschaft durch die nationalsozialistische Herrschaft. Was geschah mit den Sozialistischen Parteien, was mit der deutschen Arbeiterbewegung? Wie organisierte sich der Widerstand? Immer wieder sind kleine Exkurse, wie Notizzettel nach gründlichem Studium die Sache auf den Punkt bringend, in den Text eingestreut: „Die Sprache als Merkzeichen einer politischen Bewegung“ (S.30ff.), natürlich mit Verweis auf Victor Klemperer. Oder „Die sogenannte Radbruchsche Formel“ (S. 66f.); der Autor bettet in seine Darstellung der Prozesse gegen die jungen Mitglieder der Leipziger Widerstandsgruppe der SAP rechtphilosophische Reflexionen ein, er hat sich seit Jahrzehnten mit der Materie befasst, seine große Monographie „Rechtsordnung und Ethik der Solidarität“ (2009), legte davon bereits Zeugnis ab.

Von außerordentlichem Wert scheint dem Rezensenten der rund 40 Seiten lange „Exkurs: Politischer Widerstand und die ideellen Voraussetzungen der Arbeiterkultur“ (S. 118–145). Es sind Sätze wie dieser, die ankündigen und zugleich zusammenfassen: „Große Entscheidungen brauchen mehr als ihren Anlass. Der politische Entschluss zum antifaschistischen Widerstand besaß sein Fundament auch in ideellen Lebensorientierungen, durchaus entfernt von solchem Wagnis. Dann aber öffneten sie sich für das, was vorhanden sein muss, dass Einer Derselbe bleibe in Gefahr, der er ohne sie gewesen war.“ (S. 118). Irrlitz hat einen umfassenden Begriff von Arbeiterkultur, beschränkt sich aber auf die literarischen und musikalischen Leistungen der Arbeiterbewegung, herrührend aus der Volkskultur einerseits und der sozialkritischen und republikanischen Tradition des frühen 19. Jahrhunderts. Der Autor beschreibt den sozialpsychologischen Charakter des Arbeiterliedes, die kulturell-künstlerische Praxis der Arbeiter bis in die Weimarer Republik und die darauf folgenden Jahre der Naziherrschaft. „Man soll das alles sehen, um die Herausforderung ermessen zu können, dass einer sich für den Widerstand und gegen den offen stehenden Weg in die Resignation entscheidet.“ (S. 145).

Im dritten Teil seines Buchs gibt Irrlitz einen kurzen Abriss der Geschichte der SAP. Ein biographischer Anhang ist seinen Eltern, Elisabeth und Hans Irrlitz und einem Freund und Mitstreiter der beiden, Herbert Hedlich, gewidmet.

Das Buch hat auch seine Tücken, überall schlägt der Autor große historische Bögen bis in die unmittelbare Gegenwart, mit all ihren autoritären Gefährdungen, er braucht dafür meist nur wenige Zeilen, einige knappe Absätze reichen ihm. Das zwingt beim Lesen zum Innehalten, es liest sich nicht einfach so weg. Prof. Dr. Gerd Irrlitz ist emeritierter Philosoph, er war für Generationen philosophischer Lehrer in Berlin (DDR). Der Rezensent empfiehlt das politische Vermächtnis seines Lehrers hiermit aufs Wärmste.

Abb (PDF): Cover. * Die Rezension erschien am 2. Mai im Neuen Deutschland. Nachdruck hier mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten.