PB
PDF

PB
ARCHIV

Nr.7/2019, S.02b

Noch nicht im Amt, aber die Minister springen vom rasenden Brexit-Zug

Eva Detscher, Karlsruhe

Entgegen der üblichen Gepflogenheiten wollen ungefähr ein Dutzend Kabinettmitgliede r zurücktreten (darunter Finanzminister Hammond und Justizminister Gauke), wenn Boris Johnson von den 160 000 zur Wahl aufgerufenen Mitgliedern der Konservativen Partei zum neuen Parteivorsitzenden und damit ins Amt des Premierministers gewählt wird. Von anfangs zwölf Bewerbern sind noch Johnson und Jeremy Hunt, der jetzige Außenminister, übriggeblieben. Johnson, der es wohl werden wird, will durch seine Drohung, einen Brexit auch ohne vertragliche Vereinbarungen mit der EU durchzuziehen, die EU vor sich hertreiben, um freie Hand für ein Umkrempeln der britischen Gesellschaft zu bekommen. Eine Lösung für eine innerirische Grenze, der entscheidende Punkt, warum es bisher nicht zu einem Austrittsvertrag zwischen EU und Großbritannien gekommen ist, hat er auch nicht, aber einen markigen Spruch: es müsse doch möglich sein, wenn die Menschen sogar auf den Mond fliegen. Für Nicht-Briten ist es schwer, nachzuvollziehen, was dieser Argumentationsstil (höflich ausgedrückt) in dem Land auslöst und welche Traditionen er zerstört: es galt bislang das ungeschriebene Gesetz, dass es beim Streit um die besseren Argumente geht, seit der Brexit-Kampagne, so beklagen viele, wird nicht mehr zugehört, sondern es geht nur noch um die wirkungsmächtigere Parole, egal ob der Inhalt trägt oder nicht. „Take back control“ (Holt Euch die Kontrolle zurück) – das war die Leitparole der Kampagne – und auch schon alles, was bisher dazu gesagt worden ist, wenn es denn Wirklichkeit wird mit einem Großbritannien außerhalb der Gemeinschaft der europäischen Staaten.

Theresa May in ihrer Abschiedsrede am 16. Juli: „Ein Unvermögen, Prinzipien mit Pragmatismus zu kombinieren und Kompromisse zu schließen, wenn das nötig wird, scheint unseren gesamten politischen Diskurs auf den falschen Pfad nach unten gebracht zu haben.“ „Praktisch hat das zu einer Form von Absolutismus geführt: einer der glaubt, dass wenn er einfach seine Sicht der Dinge nur laut genug und lange genug als gültige hinstellt, der wird sich durchsetzen.“ Natürlich bleibt diese Rede nicht unwidersprochen: gerade aus dem Labour-Lager wird an Mays ungute Rolle als Innenministerin und – so der „Guardian“ – als Steigbügelhalterin für Nigel Farage erinnert.

Apropos Labour: gegen Corbyn formiert sich eine linke (!) Opposition. Unter der Bezeichnung „Labour first“ finden sich Mitte-Links Politiker und Aktivisten zusammen und greifen Corbyn wegen seiner „Bunkermentalität“ an. Auch werden Vorwürfe, dass er und sein „innerer Zirkel“ rassistische und antisemitische Emotionen bediene, konkretisiert. Die uneindeutige Haltung zur EU und zum Brexit liegt auf dieser Partei wie ein Felsklotz – so kann Labour auch nicht profitieren von den lebendigen Anti-Brexit-Kampagnen in ganz Großbritannien. So zogen letzten Samstag eine von „People’s vote“ veranstaltete Demonstration mit mehr als einer halben Million Teilnehmern durch London, unterstützt von vielen Initiativen wie #EUCitizensChampion, #DeniedMyVote, #StopBrexitSaveDemocracy, #StopBrexitSaveBritain, @eucitizenschamp, #eucitizenschampion, @the3million, @BritishInEurope (siehe Politische Berichte April 2019).

Ein heftiger Verfassungsdiskurs ist ausgebrochen, weil Boris Johnson das Parlament austricksen will: eigentlich steht eine Mehrheit in dem Parlament, dass ein No-Deal auf jeden Fall nicht stattfinden wird, aber: das Parlament habe versäumt, aus dieser Mehrheit ein Gesetz zu machen, das den No-Deal ausschließt, die Abstimmung im Januar gelte nur als Stimmungsbild. Wenn Johnson also das Parlament umgehen will, so spekuliert er auf die sogenannte Prorogation: „Das britische Parlament tagt üblicherweise in einjährigen Sitzungsperioden, die jeweils durch eine Eröffnungszeremonie eingeleitet werden. Dabei verliest Königin Elizabeth II. das Regierungsprogramm. Endet eine Sitzungsperiode, wird das Parlament für eine bis mehrere Wochen geschlossen (Prorogation). In dieser Zeit ruhen alle parlamentarischen Aktivitäten … Boris Johnson könnte diese Parlamentspause um den geplanten EU-Austritt Ende Oktober legen, um eine Intervention der Abgeordneten zu unterbinden.“ (zitiert nach FAZ vom 18.7.19).

Außenpolitische Krise

Die Festsetzung des Frachtschiffes Stena Impero (30 000 Tonnen) durch die iranischen Revolutionswächter der Straße von Hormuz am 19. Juli mit Festnahme der Besatzung war eine erwartbare Reaktion darauf, dass die Behörden des britischen Territoriums Gibraltar am 4. Juli das iranische Schiff „Grace 1“ unter dem Verdacht festgesetzt hatten, eine Erdöllieferung für Syrien getankt zu haben, und diese Festsetzung am 19 Juli um 30 Tage verlängert haben. Die Situation ist hochgefährlich, weil eine weitere Verschärfung des britisch-iranischen Konflikts möglich ist. Die NZZ argumentiert: „Erstens erlaubt die fortgesetzte Festhaltung der „Grace 1“ in Gibraltar den USA, Ansprüche auf den iranischen Öltanker zu erheben. Ein amerikanisches Gericht müsste lediglich dessen Einzug als zivile Vermögensbeschlagnahmung anordnen – die Folge wäre zumindest ein langes gerichtliches Verfahren. Zweitens wird London durch die Affäre zunehmend gedrängt, sich für ein Vorgehen zu entscheiden – entweder dem harten amerikanischen Kurs gegenüber Iran zu folgen oder weiterhin demjenigen der EU, die das Atomabkommen mit Teheran retten will. Theresa May hat das amerikanische Angebot, einer Operation zum Schutz der internationalen Seefahrtwege im Persischen Golf beizutreten, aus Rücksicht auf die EU bisher abgelehnt. Nun werden gemeinsam mit den USA durchgeführte militärische Eskorten offenbar ernsthaft in Erwägung gezogen. Laut Verteidigungsministerin Penny Mordaunt handelt es sich bei der Beschlagnahmung des Supertankers um einen „feindlichen Akt“. Pro Tag durchfahren 15 bis 30 Erdöltanker unter britischer Flagge die Meeresstraße von Hormuz.“ Während Theresa May noch gezögert hatte, steht Boris Johnson in den Startlöchern für den Schulterschluss mit den USA. – Ein bitterer Vorgeschmack auf die Zeit, wenn Großbritannien nicht mehr Teil der EU sein wird.