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Nr.7/2019, S.18b

Habermas zum Neunzigsten

Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

Am 18. Juni 2019 feierte der Philosoph Jürgen Habermas seinen 90. Geburtstag. Die „Arbeitsgemeinschaft Kommunistische Politik von unten“ (KPvu) in der Partei Die Linke-Schleswig-Holstein nahm dies zum Anlass, sich kritisch mit seiner Rolle als „Staatsphilosoph der BRD“ – so hatte ihn die „Junge Welt“ am 18.6.19 tituliert – auseinanderzusetzen. Beim Treffen am 7. Juli im Linken Zentrum in Elmshorn wurde sein Nimbus als eines Verteidigers linker Bewegungen unter die Lupe genommen, ebenso manche seiner reaktionären Aussagen; aber auch eine Einschätzung erarbeitet, ob seine Theorien in Teilen für linke Politik nutzbar gemacht werden können. Die Zeitschrift „Schattenblick“ hat dazu berichtet.*

Habermas’ wichtigste Schriften

1962 Strukturwandel der Öffentlichkeit

1968 Erkenntnis und Interesse

1976 Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus

1981 Theorie des kommunikativen Handelns

1985 Der philosophische Diskurs der Moderne

1992 Faktizität und Geltung

1996 Die Einbeziehung des Anderen – Studien zur politischen Theorie

2005 Zwischen Naturalismus und Religion

2019 Auch eine Geschichte der Philosophie,

Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen

Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen

Seine philosophischen Themen:

Will man Habermas’ philosophische Themen unter ein paar Stichworten versammeln, dann sind es die Begriffe des „Erkenntnisleitenden Interesses“, des „herrschaftsfreien Diskurses“, und des „unvollendeten Projektes der Moderne“.

„Erkenntnisleitendes Interesse“

Der menschlichen Gattung sind drei grundlegende Interessen eigen, die mit unterschiedlichen Methoden und Theorien verknüpft sind:

– das Interesse an technischer Verfügung über objektive Prozesse (empirisch-analytische Wissenschaften),

– das Interesse an lebenspraktischer Verständigung in der Kommunikationsgemeinschaft (Hermeneutik) und

– das Interesse an der Emanzipation von naturwüchsigem Zwang (sozialwissenschaftliche Ideologiekritik und Psychoanalyse).

„Herrschaftsfreier Diskurs“

Der Gedanke des „herrschaftsfreien Diskurses“ erhebt einen normativen Anspruch. Dieser ist mit der Französischen Revolution zum Fundament und zur moralischen Bedingung der Moderne geworden: Es ist der Gedanke, dass alle Menschen als gleich und frei und zum vernünftigen Miteinander fähige Subjekte zu betrachten sind. Der Gebrauch des nüchternen Verstandes und der unerschrockenen Vernunft ist dafür Bedingung.

Das „unvollendete Projekt der Moderne“

Habermas will die Aufklärung in seinem „Projekt der Moderne“ weiterführen:

Zusammengefasst lehrt die klassische deutsche Geschichtsphilosophie:

1. Immanuel Kant: In der Geschichte gibt es einen Fortschritt zu demokratischen Institutionen – und ein entsprechendes Handeln („Die Bestimmung des menschlichen Geschlechts im Ganzen ist unaufhörliches Fortschreiten …“) [vgl. I. Kant, „Recensionen zu J.G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. Theil 1.2. (1785)]

2. G. W. F. Hegel: Wir sind am „Ende der Geschichte“ angelangt, weil es keine besseren normativ-politischen Ideen mehr gibt (als damals Preußen): „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ [Hegel: „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (Hegel-W Bd. 7, S. 24]

3. Karl Marx: Die Geschichte ist geprägt durch soziale Antagonismen. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ [Marx / Engels. „Manifest“, 1848]

Habermas knüpft an alle drei Theorien an:

1. Anknüpfung an Kant: An die Einheit der Vernunft und die absolute moralische Verantwortung des Einzelnen. Der Kategorische Imperativ lautet: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ [KpV, AA 05: 308]

2. Anknüpfung an Hegel: An die Entwicklung der Vernunft und der Sittlichkeit als gesellschaftlichem Prozess. „Der Staat ist die selbstbewußte sittliche Substanz, – die Vereinigung des Prinzips der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft …“ [Hegel: „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ [Hegel-W Bd. 10, S. 330]

3. Anknüpfung an Marx: Der problemerzeugende Charakter der kapitalistischen Ökonomie. „Die Kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen des Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ [Marx MEW 23, S. 530]

Habermas setzt sich damit ab von der klassischen Geschichtsphilosophie:

Es gibt Gesellschaften, die sich entwickeln und lernen können. Zwar kann man keine Aussagen zum weiteren historischen Verlauf machen, aber möglich sind Aussagen über Entwicklungspotentiale, die noch nicht ausgeschöpft sind. Es gibt für Habermas keine notwendige, kontinuierliche und unumkehrbare Entwicklung.

Die „Einbeziehung des Anderen“

Habermas beschäftigt am meisten, wie sich ein politisches Gemeinwesen integriert. Es geht ihm um das Selbstverständnis der Bürger, ihre Identität und ihre Bereitschaft, diese mit anderen zu teilen es geht – so auch der Buchtitel – um die „Einbeziehung des Anderen“.

Und das in verschiedener Hinsicht: Sie betrifft einerseits die Integration ausländischer Mitbürger in unsere Gemeinschaft, sie betrifft auch die Integration von Minderheiten in die Gesamtgesellschaft, und sie betrifft die Integration Deutschlands in den übergreifenden Zusammenhang der europäischen und der Weltgemeinschaft.

Habermas geht aus von der Theorie einer legitimen, rechtsstaatlich organisierten Politik. Das heißt: Er geht aus von der Frage, anhand welches normativen Kriteriums ein Gemeinwesen als moralisch gerechtfertigt beurteilt werden kann.

Sein Anliegen hat Habermas einmal so charakterisiert: „Ich habe ein Gedankenmotiv und eine grundlegende Intuition. Diese geht (…) auf religiöse Traditionen etwa der protestantischen oder jüdischen Mystiker zurück (…). Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne: die Vorstellung also, dass man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne (…) möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten: dass man aufrecht gehen kann in einer Gemeinsamkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwärtsgewandter substantieller Gemeinschaftlichkeit an sich hat.“ (NZZ 15. 6. 19)

„Nachmetaphysisches Denken“ / „kommunikative Vernunft“

Wie, fragt Habermas, lässt sich Moral – und damit die Legitimität von Herrschaft – unter Bedingungen des „nachmetaphysischen Denkens“ überhaupt noch begründen?

Im ersten Teil von „Einbeziehung des Anderen“ umreißt er knapp die Antwort:

In einer pluralistischen Welt, die ihre Moral nicht mehr aus einem allseits selbstverständlichen Ethos schöpfen kann, muss sie ihren Halt in der kommunikativen Vernunft der Menschen haben. Vereinfachend gesagt: Wenn uns nichts anderes bleibt, als uns über moralische Fragen gesprächsweise zu verständigen, dann ist die Einhaltung beziehungsweise Sicherung der Bedingungen verständigungsorientierter Diskurse die höchste Norm. Dazu gehören solche „Basics“ wie die Bereitschaft, die Meinung des anderen zu hören, Meinungsverschiedenheiten gewaltfrei zu lösen, die Würde der Menschen unabhängig von ihrer Meinung zu respektieren.

Diese „Basics“ bilden das normative Gerüst eines auf keine andere Moral mehr einzuschwörenden Gemeinwesens. Sie nehmen Gestalt an in der des demokratischen Rechtsstaates.

Demokratisch muss der Rechtsstaat sein, weil allein die Beteiligung der Bürger an den politischen Auseinandersetzungen die normativ erforderliche gemeinsame Aussprache über das je zu Tuende gewährleistet.

Die Idee des Rechtsstaates bildet, „den eigentlichen Ort der sozialen Integration“. Das Recht erhält seine integrative Wirkung dadurch, „dass sich die einzelnen Adressaten der Rechtsnormen zugleich in ihrer Gesamtheit als vernünftige Urheber dieser Normen verstehen dürfen“. Kurz: In einer säkularen und pluralen Welt ist der demokratische Rechtsstaat die einzig legitime politische Ordnung.

Das Staatsverständnis „Deliberativer Demokratie“

Deliberative Demokratie bedeutet: öffentliche Diskurse, öffentliche Beratung, die Teilhabe der Bürger an öffentlicher Kommunikation. Der Staat ist nach Habermas keine substanziell eigenständige Größe, sondern der fortwährende Prozess der Willensartikulation und Willensdurchsetzung seiner Staatsbürger. Für diese wiederum bedeutet dies, dass sie nicht qua Teilhabe an einem überindividuellen Staatssubjekt Staatsbürger sind, sondern qua Mitwirken am gemeinschaftlichen, politischen Prozess. Dies ist die Antwort auf die Frage nach der moralisch akzeptablen Identität von Bürgerinnen und Bürgern. Man gehört zu einem Gemeinwesen durch das gemeinsam geteilte, ständig im Prozess befindliche Mitwirken an Politik und Rechtsordnung. Staatsbürgerliche Identität beruht weder in der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Volksgemeinschaft noch zu einer besonderen Kultur oder Religion.

Die Praxis des europäischen Staatsbürgers

Daraus erklärt sich Habermas’ scharfe Ablehnung der Nation als eines gültigen Identitätsfaktors. Die Zeit ist vorangeschritten, und eine gereifte politische Kultur kann und muss die Nation heute hinter sich lassen.

Selbst wenn die Nation irgendeine legitimierende Kraft hätte, bliebe sie unter den Bedingungen der Globalisierung von Technik, Verkehr und Wirtschaft hoffnungslos veraltet. Europa muss sich, da ist Habermas ganz deutlich, eine gemeinsame rechtsstaatliche Ordnung geben, damit es auf den akuten Problembestand adäquat reagieren kann.

Wenn eine normativ gerechtfertigte staatsbürgerliche Identität nur noch in der geteilten Mitwirkung am politischen Prozess besteht, bedarf es für ein geeintes Europa nicht einer europäischen Volksgemeinschaft, sondern einer geteilten politischen Praxis der europäischen Staatsbürger.

Aus demselben Grund plädiert Habermas für eine offensive Einwanderungspolitik. Wenn für die politische Identität die kulturelle oder religiöse Herkunft der Bürger keine tragende Rolle spielen, spricht nichts dagegen, den in Deutschland lebenden Ausländern die gleichen politischen Teilnahmerechte einzuräumen wie den angestammten Deutschen. Um Partner im politischen Prozess zu sein, bedarf es keiner Volksgenossenschaft.Ein klares Ja zur Integration von Ausländern, ein klares Ja zu Europa, ein deutliches Nein zu jedem Nationalismus.

Abb. (PDF): Habermas. • 1929 geboren

• 1954 Promotion über Schelling

• 1956 Assistent von Adorno

• 1962 Habilitation bei Abendroth

• 1964 Professor Frankfurt a. M.

• 1971 Direktor in Starnberg

• 1983 Rückkehr nach Frankfurt

• 1994 Emeritierung

*www.schattenblick.de/da/2019/07/sb_190717_schattenblick_druckausgabe.pdf bzw. […]sb_190718_schattenblick_druckausgabe.pdf