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ARCHIV

Nr.12/2019, S.16

Terra oblita – Ansatzpunkte für eine europäische Erinnerungskultur?

01 dok: Der Krieg der Vergangenheit, der Krieg der Gegenwart. Erfahrungen einer ukrainisch-russisch-deutschen Studierendenbegegnung

EInleitung und Dokumentation: Johann Witte, Bremen

„Terra oblita“ – das vergessene Land – eine Onlineplattform für Erinnerungsorte an vergessene NS-Opfer entstand 2018/19 während des Projekts Memory-Wiki – Auf den Spuren der Erinnerung an NS-Opfer in der Ukraine, Russland und Deutschland.

Zwanzig Studierende der Universität Bremen, der Nationalen Universität „Oles Hontschar“ Dnipro (Ukraine), der Südföderalen Universität Rostow am Don (Russland) und der Higher School of Economics in Moskau recherchierten zu Erinnerungsorten an vergessene NS-Opfer in Zentral- und Osteuropa. Gefördert wurde das Projekt durch das Auswärtige Amt, die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ (EVZ)1 und die Stiftung „Erinnerung Lindau“. Durchgeführt wurde es vom Verein Kontakte-Kohtaktbl e.V., der sich um Kontakte zu früheren Kriegsgefangenen bzw. ihren Angehörigen in Ländern der ehemaligen Sowjetunion bemüht.

Auf der Plattform „Terra Oblita“ lassen sich anhand einer interaktiven Karte Erinnerungsorte von vergessenen NS-Opfern bemüht, d.h. Opfern, die in der öffentlichen Wahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle spielen, wie z.B. sowjetische Kriegsgefangene, Opfer der „Euthanasie“ u.a.. In vier Sprachen (russisch, ukrainisch, deutsch und englisch) kann man sich informieren oder auch selbst Beiträge hochladen.

(Wir) „möchten Brücken für ein Verständnis vielfältiger Erinnerungskulturen in Europa bauen und durch gemeinsame Projektarbeit zu einer (Wieder-)Annäherung der drei Länder auf der zivilgesellschaftlichen und vor allem der zwischenmenschlichen Ebene beitragen“ (aus der Projektbeschreibung). Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit dient hier als Klammer, um sich mit der Gegenwart auseinandersetzen und zusammenarbeiten zu können. Das angehängte Dokument stammt von einer Dozentin der Universität Bremen und beleuchtet die dabei auftretenden Schwierigkeiten und Probleme – zeigt aber auch Ansatzpunkte für eine Zusammenarbeit. Das Projekt ist eines von sehr wenigen unter vielen von der EVZ geförderten Projekten, die eine derartige Aufgabenstellung verfolgen.

Am 20.8.2019 fand in Bremen die Abschlusspräsentation des Projekts statt. Gleichzeitig wurde die Plattform „terra oblita“ freigeschaltet. Am folgenden Tag fand eine Kundgebung der Projektteilnehmer auf dem Gelände eines ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenenlagers am Rande der Bremer Innenstadt statt – auf einer vergessenen Freifläche vor dem ehemaligen Amerikahaus.

Für die beteiligten Studenten ist das Projekt damit erst einmal beendet, die Plattform soll für neue Beiträge offen bleiben und wird von den Studenten der Moskauer Universität weiter gepflegt.

1 die Stiftung wurde im Jahr 2000 von Bundestag, Regierung, Wirtschaft u.a. gegründet, um Zahlungen an Zwangsarbeiter des NS-Regimes zu leisten., https://stiftung-evz.de; https://kontakte-kontakty.de; https://terraoblita.com/de

Abb. (PDF): Karte

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dok: Der Krieg der Vergangenheit, der Krieg der Gegenwart. Erfahrungen einer ukrainisch-russisch-deutschen Studierendenbegegnung

Zweierlei Kriegsspuren

Der erste Eindruck vom Krieg, noch bevor das Flugzeug die Landebahn berührt: „Es ist strengstens verboten, Film- oder Fotoaufnahmen auf dem Flughafen zu machen“, informiert uns der Pilot (…) bei der Landung in Dnipro. Es ist auch schnell klar warum: Am Rande des Rollfelds stehen Militärmaschinen, kleine zwar, und nicht viele, aber es sind keine Relikte aus sowjetischer Zeit, sondern es ist aktuelles Kriegsgerät.

Die neue Zeit und die Relikte aus der alten – sie werden uns in dieser Woche im Mai 2019 in der viertgrößten Stadt der Ukraine (…) immer wieder vor neue Fragen stellen. Es beginnt schon mit dem Namen: Die Millionenstadt Dnipro heißt erst seit 2016 so. Von 1926 bis 2016 hieß die am Dnepr gelegene Stadt Dnipropetrowsk (…) nach dem russischen Revolutionär Grigori Petrowski, dem ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Sowjet der Ukrainischen Sowjetrepublik.

Dnipro ist für unsere Studierendengruppe aus Bremen die zweite Station in dem für ein Jahr konzipierten trilateralen Projekt (…) Ziel ist es die Erinnerung an vergessene Opfer des Nationalsozialismus in den drei beteiligten Projektländern Deutschland, Ukraine und Russland zu erforschen und zu bewahren. Dazu erarbeiten Studierende der beteiligten Universitäten eine interaktive Internetplattform, die mit Informationen zu konkreten historischen Orten gefüllt werden soll, an denen während des Zweiten Weltkrieges Menschen gequält, zur Zwangsarbeit gezwungen und getötet worden sind (…).

Insgesamt sind je sechs ukrainische und deutsche sowie acht russische Studierende an diesem Projekt beteiligt (…)..

Das ist eine vielfache Herausforderung, auch deshalb, weil sich die ukrainischen und russischen Studierenden nur in Bremen begegnen können. Das ukrainische Bildungsministerium hat seit der russischen Annexion der Krim und dem hybriden, offiziell nicht erklärten, aber von russischen Truppen unterstützen Krieg in der Ostukraine die Zusammenarbeit ukrainischer Bildungseinrichtungen mit russischen Partnern untersagt. Für die ukrainischen Studierenden (…) ist das Projekt offiziell ein bilaterales deutsch-ukrainisches Projekt. Die russischen Studierenden sind während der Workshops in Dnipro immer via Internet an Absprachen zur weiteren Ausarbeitung der Internetplattform beteiligt. So wird in Dnipro sicherheitshalber hinter geschlossenen Türen gemeinsam von allen Projektbeteiligten darüber abgestimmt, welches der von den Moskauern entworfenen Logotypen zukünftig die Plattform graphisch prägen soll und wer eigentlich zu den Gruppen der „vergessenen NS-Opfer“ gehört (…).

Bremen als Drehscheibe und der rosa Elefant

Bei der ersten Begegnung in Bremen (September 2018) konnten sich alle Projektteilnehmer aus Dnipro, Rostow am Don und Moskau treffen. Die sprachliche Barriere war für die Bremer Studierenden am höchsten. Einige von ihnen lernen Russisch, aber greifen in der Kommunikation doch immer wieder auf Englisch zurück, das allerdings nur die Moskauer flüssig sprechen, nicht aber alle Studierenden aus Dnipro und Rostow. Während der Workshops und der Ausflüge helfen Sprachmittler für die Übersetzung aus dem Russischen, das die Studierenden aus Dnipro fast alle auch als Hauptsprache zuhause in ihren Familien sprechen, auch wenn die offizielle Amts- und Unterrichtssprache Ukrainisch ist. Sprachlich und geographisch, aber auch in ihrem Alltagsleben sind sich die Studierenden aus Rostow und Dnipro also sehr nahe (…).

Der Krieg in der Ostukraine ist während der ersten Projektwoche in Bremen freilich wie ein rosa Elefant immer mit im Raum – alle sehen ihn, aber keiner wagt ihn anzusprechen. Dass die russischen und ukrainischen Studierenden (…) miteinander „Mafia“, „aktivity“ und andere Gruppenspiele spielen, sieht die ukrainische Dozentin (…) mit Rührung. Sie ist ethnische Russin, ihren Eltern wurde in den 1960er Jahren (…) in Dnepropetrowsk (…) der erste Arbeitsplatz zugewiesen, so blieben sie in der Stadt. Die Dozentin leidet unter dem nicht erklärten Krieg (…).

Dass sich russische und ukrainische Studierende näher kommen, sich nicht als Feinde sehen, ist eines der Ziele nicht nur der Projektorganisatorinnen, sondern auch der Geldgeberinnen. Und eine der größten Herausforderungen des Projekts (…). In Bremen fand während der ersten Projektwoche ein Gesprächsworkshop zur Situation in der Ostukraine statt (…). In gemischten Kleingruppen, jeweils mit einem Studierenden aus den vier Städten sollten sie sich gegenseitig erzählen – und vor allem zuhören; „Wie hast Du von den bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ostukraine erfahren? Hat sich dadurch in deinem Leben etwas verändert? Was?(Wie) Spürst Du den bewaffneten Konflikt und/oder seine Folgen? (…) Fortsetzung Seite 18

Es ist ein emotionaler Austausch, und gerade für die ukrainischen Studenten auch eine große Belastung. Eine Studentin hat Angehörige in der Ostukraine verloren, ein anderer kommt ursprünglich aus Donezk. Seine Eltern leben weiterhin dort, haben sich aber entschlossen, den Sohn an einer „richtigen“ Universität studieren zu lassen und nicht in der „Volksrepublik Donezk“, einem nirgends anerkannten Staatsgebilde, dessen Universitätsdiplome außerhalb der Stadt nicht gelten (…). Seine Eltern sieht er nur selten, obwohl Donezk nur 250 km von Dnipro entfernt liegt – aber hinter mehreren Checkpoints, sowohl ukrainischen als auch welchen der „Volksrepublik Donezk“. „Ich habe Glück gehabt“, sagt er sachlich, „und keine Leichen gesehen“ (…).

Den Bremer Studierenden, die sich vorher fragten, was sie eigentlich zu dem Krieg in der Ostukraine zu sagen hätten, wird über die sehr persönlichen Fragen der Gesprächsrunde deutlich, dass auch das Wissen oder Nichtwissen westlicher Politiker, Parteien und Wähler einen Teil der komplexen Auseinandersetzung ausmachen (…). Einer der ukrainischen Studierenden richtet sich sehr emotional an die russische Gruppe: „Ich bin bereit, mit Euch als Historiker zusammen zu arbeiten, aber nicht, mit Euch über die Gegenwart zu reden.“ Eine Studentin artikuliert ihre hilflose Wut: „Es ist doch gar nicht unser Konflikt. Wir als junge Leute haben doch gar nichts damit zu tun. Wir könnten uns gut verstehen.“ (…)

Bürokratie am Don

Bei der Begegnung in Rostow am Don einige Monate später sind dann nur die Bremer Studierenden dabei; die ukrainische Gruppe aus Dnipro kann nicht anreisen. Aus Bremer Perspektive, nach der langen Anreise über Moskau, registrieren wir erstaunt, wie wenig der Krieg in der Ostukraine hier, nur 200 km von der Stadt Donezk entfernt, präsent ist. Für sie habe sich seit 2014 eigentlich nichts verändert, erklären uns die russischen Studierenden. Dafür machen wir Erfahrungen mit der russischen Bürokratie (…): Der geplante Schulbesuch muss bei der Gebietsverwaltung angemeldet werden. Bis zum letzten Tag ist ungewiss, ob wir die Genehmigung bekommen. Dabei betreibt die Schule, die seit 2018 den Namen von Alexander Petscherskij trägt, ein eigenes, sehr beeindruckendes Museum, dass wir schlussendlich doch besuchen dürfen. Petscherkij (1909-1990), der aus Rostow stammte, geriet als Rotarmist in deutsche Kriegsgefangenschaft, wurde als Jude in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und führte dort im Oktober 1943 einen erfolgreichen Aufstand an.

Ukrainische Helden, sowjetische Helden? Zwei Museen an einem Ort

In Dnipro ist der Krieg in der Ostukraine dagegen allgegenwärtig. In der Stadt wurde 2016 ein Museum über die „Anti-Terror-Operation“ (ATO) eingerichtet, und zwar im Gebäude des 1975 eröffneten Dioramas über die Schlacht am Dnjepr im Herbst 1943. Die Ausstellung zum aktuellen Kriegsgeschehen erscheint so als Fortführung des letzten Krieges. Die Ausstellung präsentiert (…) vor allem aber Geschichten von beteiligten Soldaten und Freiwilligen der Kämpfe, zur Evakuierung der Zivilbevölkerung (…) und in einem großen Saal Porträts und persönliche Gegenstände der mehr als 500 gefallenen Militärangehörigen aus dem Verwaltungsgebiet Dnipro. (….)

O. Marintschenko, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Museum, das neben dem Diorama-Museum auch das ATO-Museum verantwortet, kommentiert die Ambivalenz des neuen Museums: Einerseits würde in der heutigen Ukraine die sowjetische Vergangenheit abgelehnt und negiert, andererseits aber in diesem Museum das sowjetische Kriegsnarrativ mit seinem Fokus auf den individuellen Heroismus reproduziert, ohne dass sich die Ausstellungsmacher dessen bewusst seien. (…)

Solche Ambivalenzen überhaupt wahrzunehmen und auszutauschen, das ist ein Anspruch des Projekts (…).

Text und Foto: https://ukraineverstehen.de/huhn-ukrainisch-russisch-deutsche-studierendenbegegnung