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ARCHIV

Nr.11/2019, S.18

Wahlkampf in Zeiten der Katalonienkrise

Die Leiden der Nacht

Von Gaston Kirsche

Die Kampagnen für die Wahl zum spanischen Parlament am 10. November werden dominiert durch die nationale Polarisierung wegen des Katalonienkonflikts.

„Jetzt Spanien. Jetzt Regierung“ steht groß auf der Plakatwand, daneben lächelt der amtierende Ministerpräsident Pedro Sánchez, unten ist die Faust mit der Rose zu sehen, das Symbol der PSOE, der nominell sozialistischen, real sozialdemokratischen Partei. Deren Koalitionsverhandlungen sind gescheitert, Sánchez Partei hofft auf mehr Mandate am 10. November, umso aus einer stärkeren Position heraus erneut um eine Mehrheit für seine Regierung zu verhandeln – die Umfragewerte im September sahen gut aus für die PSOE, zum Zeitpunkt der Parlamentsauflösung, mittlerweile ist dies nicht mehr eindeutig. De facto sind Spaniens Parteispitzen seit dem Sommer im Wahlkampf – im Juli erklärte Sánchez, er könne nicht ruhig schlafen bei der Vorstellung, Minister von Unidas Podemos würden durch eine Erhöhung von Sozialausgaben die Haushaltsdisziplin verletzen. Damit waren die Verhandlungen mit dem linksalternativen Wahlbündnis Unidas Podemos praktisch am Ende, den ganz ohne Ministerämter und Einfluss auf die Regierungspolitik wäre es keine Koalition, sondern eine Tolerierung. Aber Unidas Podemos möchte nach über einem Jahr Tolerierung ab jetzt verbindlich mit entscheiden dürfen. Und um eine absolute Mehrheit im Parlament zu haben, wäre die Zustimmung der Regionalparteien aus dem Baskenland und Katalonien zusätzlich nötig. Die katalanischen Regionalparteien waren und sind aber nicht bereit, Sánchez weiter im spanischen Parlament zu unterstützen, da er sich weigert, mit ihnen über ihre Unabhängigkeitsbestrebungen zu verhandeln.

In der Nacht auf Freitag begann der offiziell kürzeste Wahlkampf in Spanien seit dem Ende der Francodiktatur. Die regierende PSOE entschied sich, ihre Auftaktveranstaltung in Sevilla durchzuführen, in Andalusien, ihrer traditionellen Hochburg. Die konservative Volkspartei PP startete ebenso in Sevilla ihren Wahlkampf. Denn im Dezember 2018 konnte sie nach den Regionalwahlen in Andalusien das erste Mal eine Regierung bilden, zusammen mit der liberalen Partei Ciudadanos, Cs und toleriert von der erstmals in ein Regionalparlament eingezogenen neofranquistischen Partei VOX. Viele Wähler der PSOE blieben bei der Regionalwahl zuhause, weil die andalusische PSOE zu offensichtlich staatliche Gelder, die eigentlich für die Qualifizierung von Arbeitslosen gedacht waren, über Jahre in einer Günstlingswirtschaft an ihr nahestehende Firmen verteilt hatte. 21 hohe Funktionäre der Regionalregierungen der PSOE der letzten beiden Jahrzehnte müssen sich deswegen derzeit in einem spektakulären Prozess verantworten. Unter den Angeklagten sind auch zwei langjährige Ministerpräsidenten Andalusiens, Manuel Chaves und José Antonio Griñán. Darüber sprechen Spaniens Sozialdemokraten nicht so gerne, umso lieber dagegen die Konservativen, um vom eigenen Korruptionsprozess abzulenken, der im Mai 2018 mit der Verurteilung zahlreicher konservativer Politiker, darunter des langjährigen Schatzmeisters endete. Die Konservativen verloren bei den letzten spanischen Parlamentswahlen, den ersten nach dem Korruptionsprozess, die Hälfte ihrer Wähler und stürzten auf 17 Prozent ab. Bei den kommenden Wahlen wollen sie die zu den Liberalen und den Neofranquisten abgewanderten Wähler zurückgewinnen. Die beiden großen Parteien PSOE und PP haben sich Andalusien als Ausgangsbasis für eine Rückgewinnung der Wähler von den kleineren Parteien erkoren. Bis 2015 dominierten die beiden großen Parteien unangefochten das spanische Parlament.

Pedro Sánchez begann seinen Auftritt mit Zweckoptimismus: „Der Sieg des Sozialismus beginnt hier, in Sevilla, in Andalusien!“ Das auf billigen Plastikstühlen sitzende Publikum klatschte frenetisch. Zuvor hatten die regionale Parteivorsitzende Susana Díaz, sowie María Jesús Montero, aus Andalusien stammende Finanzministerin der Minderheitsregierung von Sánchez, gesprochen. Die bedankte sich überschwänglich bei Sánchez für ihren Ministerposten und dass sie einen für Andalusien vorteilhaften Haushalt im Parlament präsentieren durfte – der allerdings nicht verabschiedet wurde, weil dafür die parlamentarische Mehrheit fehlt. Susana Díaz, in der PSOE spanienweit einflussreiche Vorsitzende der PSOE Andalusiens, sprach geradewegs an, was sie für das zentrale Thema des Wahlkampfes ist: „Es leben mehr als eine Million Andalusier in Katalonien, und ich leide jede Nacht mit ihnen“. Susana Díaz macht in der PSOE seit Jahren Druck dagegen, Katalonien mehr Autonomierechte zuzubilligen oder gar ein Referendum über eine mögliche Unabhängigkeit zuzulassen. In Fragen der „großen, einen Nation“, wie Spanien in der Verfassung aus der Zeit des Übergangs von der Francodiktatur zur konstitutionellen Monarchie definiert wird, unterscheidet sich Susana Díaz kaum von rechtsnationalen Konservativen: „Was Spanien in diesem Moment in Wirklichkeit braucht, ist, dass sich die Patrioten hinter den Präsidenten der Regierung stellen“. So appellierte sie im nationalen Sinn an die beiden Parteivorsitzenden Albert Rivera von den Liberalen und Pablo Casado von den Konservativen. Die Tragik der PSOE ist, dass Rivera und Casado aber nicht dazu bereit sind, eine Minderheitsregierung der PSOE durch Enthaltung zu dulden. Da nutzt es auch nichts, wenn die Ministerin María Jesús Montero in ihrer Rede demonstrativ dem Innenminister zu dessen massivem, repressivem Vorgehen gegen die zivilgesellschaftlichen Proteste in Barcelona gratuliert: „Danke an meinen Genossen Marlaska dafür, die Ordnung in Katalonien besonnen aufrechtzuerhalten.“

Auch Spitzenkandidat Sánchez stellte in seiner Rede die katalanische Unabhängigkeitsbestrebung nicht als politische Bewegung, sondern als Bedrohung dar: „Wir stehen großen Gefahren gegenüber: Der Abkühlung der Weltwirtschaft, den Sezessionsbestrebungen in Katalonien und dem Brexit,“ und „deshalb brauchen wir eine starke Regierung“. Die klare Positionierung von Sánchez beim Katalonienkonflikt steht in scharfem Kontrast zu seiner blumigen, unverbindlichen Ausdrucksweise, wenn es um eine sozial gerechtere Politik geht: „Nach dem 10. November, eine progressive Regierung, und dann ein progressiver Haushalt für ganz Spanien“.

Still und leise wollte die Madrider Parteiführung des PSOE letzte Woche einen Programmentwurf für die Wahlen vom 10. November verabschieden, in dem wesentliche Punkte aus dem letzten Wahlprogramm vom März entfallen sollten: So stand dort nur noch, Spanien solle „im Rahmen der Verfassung“ und des „sozialen Ausgleichs“ weiterentwickelt werden. Es fehlte, dass die PSOE eine Förderalisierung Spaniens anstrebt, einen Ausbau der Autonomie und der Selbstregierung der Regionen. So wäre die Idee eines dezentralisierten, republikanischen Bundesstaates noch nicht mal mehr als Fernziel vorgekommen. Miquel Iceta, Vorsitzender der Regionalpartei der PSOE in Katalonien, der PSC, erreichte durch Druck hinter den Kulissen, dass der Passus zum Föderalismus wieder aufgenommen wurde und so eine dezentrale Gliederung vergleichbar der Bundesländer in Deutschland als Fernziel im Programm bleibt.

Nicht wieder aufgenommen wurde dagegen ein Passus, der im letzten Wahlkampf von den rechten Parteien, den Konservativen und Liberalen, skandalisiert wurde: Die PSOE forderte Steuererhöhungen für Vermögende und Spitzenverdiener. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Dabei hat Spanien ein Einnahmedefizit und aus Brüssel erneut eine Aufforderung zu Einsparungen im Haushalt bekommen. Und seit der Finanzkrise 2008 nimmt die soziale Ungleichheit in Spanien massiv zu: Von 2007 bis 2019 ist die Zahl der Millionäre um 50 Prozent angestiegen. Gleichzeitig stieg die Armutsquote von 23,8 auf 26,6 Prozent aller Haushalte. 28 Prozent der Kinder leben in Armut. 33 Prozent der unter 25-jährigen sind arbeitslos. Die 10 reichsten Prozent der Spanier besaßen 2007 zehnmal soviel wie die 10 ärmsten Prozent. Mittlerweile sind es 15-mal soviel. Zeitgleich mit dem Wahlkampfauftakt wurde im nordspanischen Galizien bekannt, dass ein 42-jähriger Obdachloser, der an einem Protestcamp „Gegen die Armut“ auf der Praza do Rei vor dem Rathaus von Vigo teilgenommen hatte, beim Übernachten im Zelt gestorben war. „Er ist jetzt ein Vögelchen“ meinte ein Freund von ihm aus dem Protestcamp laut der Lokalausgabe von „El País“. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Vigo, Abel Caballero, ließ erklären, der Obdachlose hätte Hilfsangebote in Anspruch nehmen können. Dem widersprachen Obdachlose aus dem Protestcamp: Wer eine noch so kleine Geldleistung vom Staat erhält darf nicht in die Notunterkünfte. Aber Armut und Sozialabbau sind kein Thema im Wahlkampf der PSOE, sie verwaltet beides nur.

Abb. (PDF): Tabelle Wahlumfragen