Politische Berichte Nr. 3/2021 (PDF)04
Aktuelles aus Politik und Wirtschaft

Mit einer Politik von Hier-und-da-Vertragsverletzungen wird London nicht gut fahren

Eva Detscher, Karlsruhe

Die ersten Irritationen gab es, weil Premierminister Johnson, gedeckt vom Unterhaus und ohne Konsultation mit dem EU-Partner, das Nordirland-Protokoll sehr eigenwillig interpretiert und die Frist für Warenverkehr und Tier- und Lebensmittelhandel zwischen der britischen Insel und Nordirland ohne Kontrollen und ohne Zoll über den vereinbarten Zeitraum bis 31.3.21 auf Ende Oktober hinaus verlängert hat. Mit der Grenze EU-Großbritannien, die faktisch in der Irischen See verläuft und damit Nordirland von der britischen Insel in vielerlei Hinsicht trennt, war das Abkommen zwischen Großbritannien und EU ja überhaupt erst möglich geworden. Londons Vertragsbruch ruft die alten, nur durch das gemeinsame Haus EU neutralisierten Geister von konfessionellen Spannungen und einer gesamtirischen Unabhängigkeit hervor. Vor allem irritiert die Aufkündigung der gemeinschaftlich formulierten Zusage zur vertrauensvollen Zusammenarbeit. Aber der Verstoß gegen international übliche Regelungen in den Handelsbeziehungen nötigten Mitte März die EU-Kommission zur Androhung eines Verfahrens gegen Großbritannien. Seither laufen die Drähte heiß. Es ist wohl nicht übertrieben, den Regierungskreisen in London ein Interesse an einer Konfrontation zu unterstellen. Die nächste Sitzung des Fachausschusses wird Mitte Juni stattfinden, es wird spannend und richtungsweisend für die weiteren Beziehungen. [1]

Ein bedrohliches Szenario hatte sich Anfang Mai vor der Kanalinsel Jersey (räumlich viel näher an Frankreich als an Großbritannien) abgespielt, nachdem die Terminvergabe britischer Fischlizenzen für französische Fischer in den Gewässern um Jersey seitens London vertragswidrig hinausgezögert worden war. Etwa 50 französische Fischerboote blockierten den Hafen aus Protest dagegen. Umgehend schickte London zwei Patrouillenboote der Marine Richtung Kanalinseln, Paris antwortete mit zwei Marineschiffen. Die Fischer brachen ihre Aktion ab, die Militarisierung der Situation war bedrückend. London beorderte die Schiffe zurück. Das Brexit-Abkommen sieht eine klare Regelung vor: Französische Fischer dürfen in einer Übergangsphase bis 2026 weiterhin ihre Netze in den fischreichen und relativ ruhigen britischen Gewässern auswerfen – danach werden die Fangrechte um 25 Prozent reduziert. So konkret der Vorfall war, zeigt er Prinzipielles: „Frankreichs Meeresministerin Annick Girardin macht politische Ursachen für den Zoff aus: ‚Großbritannien hat seine Souveränität zurückerlangt und will das der Welt zeigen‘.“ [2] Und sie drohte mit Stromunterbrechung für die Kanalinseln.

Die wirtschaftliche Situation ist nicht eindeutig einzuschätzen, die Pandemie ist ein nicht kalkulierbarer Player. Nach einer Einschätzung der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) fühlten sich 42 % der britischen Exporteure vom Brexit negativ betroffen. Großbritannien wäre stärker von den Auswirkungen des Brexits betroffen als die EU. Großbritannien verliere an Bedeutung für die EU-Exportwirtschaft (Branchen unterschiedlich betroffen). Seefrachten, LKW-Verkehr gingen zurück, wobei sich die Lage nach dem ersten Quartal 2021 an vielen Stellen wieder beruhigt hat. Bei der Automobilzulieferindustrie ist die Tendenz eher weg von Großbritannien, und seit 2017 verliert der Maschinenexport nach Großbritannien zunehmend an Bedeutung. [3] Das düstere Szenario, das die Remainer für die Nach-Brexit-Zeit gemalt haben, muss mittelfristig nicht eintreten. Großbritannien ist rege, was das Abschließen von bilateralen Verträgen mit etlichen Staaten der Welt angeht.

Zur Situation im Land

Noch kann die Regierung Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln, medizinischen Produkten usw. oder Verzögerungen bei Zwischenproduktlieferungen als vorübergehende Erscheinungen eines Großbritannien in lichter Zukunft herunterspielen, wo auch die Zollformalitäten alle ganz einfach und schnell zu bewältigen sein würden. Die Wirtschaft in Gang zu bringen, die versprochene Besserstellung vor allem von Beschäftigten (oder Arbeitslosen) im Norden Englands oder in den walisischen Dörfern lässt auf sich warten. Überlagert und daher schlecht einzuschätzen, ist die wirtschaftliche Situation hauptsächlich wegen der Pandemie und der hohen Summen, die die Regierung im Zuge der Bewältigung der Pandemie unter die Leute bringt. Eine große Rolle spielt dabei auch die populäre Person des Boris Johnson. Obwohl er vielen seiner konservativen Partei gegen den Strich geht, wird er geduldet, solange er solche Erfolge wie Wahlgewinne und Brexitdeal zustande bringt. Auch seine Pandemie-Strategie wird als einzige Erfolgsgeschichte verkauft – sein Risikospiel ist aufgegangen. Dem durch und durch populistischen Politiker, der es mit der Wahrhaftigkeit, der Prinzipientreue oder der Kalkulierbarkeit nicht so genau nimmt, scheint nichts etwas anhaben zu können: weder persönliche Skandale noch die Angriffe seiner ehemaligen grauen Eminenz und eigentlichen Treibers Dominic Cummings, der ihn demnächst vor Gericht gezogen haben wird. Dieser verzeiht ihm nicht seinen Rauswurf im November 2020. Cummings meint erstens, er hätte den knappen Erfolg bei der Brexit-Abstimmung 2016 erwirkt (was wahrscheinlich sogar stimmt), und zweitens, der Brexit sollte nur der Anfang seiner Vision einer anderen britischen Gesellschaft sein. In seinem Blog [4] sucht er intensiv nach hochqualifizierten „Mitarbeitern“ für dieses Projekt, bei dem höchstes Misstrauen angebracht ist. Und eines ist klar: der Brexit bleibt, egal was mit Boris Johnson wird. Und inwieweit das Bild eines großen unabhängigen Landes mit Beziehungen in alle Welt nicht doch eine Dynamik auslöst, die keiner erwartet, ist nicht ausgemacht.

Court of Appeal stellt sich gegen die Verwaltungspraxis

Die Abschaffung der in der EU geltenden Personenfreizügigkeit und die Kontrolle über das Einwanderungsgeschehen hatte die Administration u.a. zur Ausweitung des staatlichen Zugriffs auf Personendaten geführt. Das Bündnis The three Millions ist dagegen vor Gericht gezogen und hat vom Obersten Gericht recht bekommen, es schreibt dazu in seinem Newsletter:

„Die Ausnahmeregelung für die Einwanderung erlaubt es der Regierung und dem privaten Sektor, die Datenschutzverpflichtungen unter dem vagen Zweck der ‚effektiven Aufrechterhaltung der Einwanderungskontrolle‘ zu umgehen. Es ist faktisch eine pauschale Befugnis, Informationen zu verweigern und sie heimlich zu verwenden. Millionen von Menschen sind potenziell von dieser Einschränkung ihrer Daten betroffen. Das Innenministerium hat sich bereits bei 72 % der Auskunftsersuchen für persönliche Informationen darauf berufen. Obwohl die Datenschutz-Grundverordnung Einschränkungen der Datenschutzrechte zulässt, müssen alle Ausnahmen eng gefasst sein und angemessene Garantien zum Schutz des Einzelnen enthalten. Die Bedeutung solcher Schutzmaßnahmen und Grenzen wird durch Windrush deutlich (Die „Windrush“ war ein Schiff, mit dem vor siebzig Jahren Einwanderer aus der Karibik nach Großbritannien kamen. Deren Nachkommen, die Windrush-Generation, wurden jetzt als Illegale verfolgt, Anm. Red). Das Vereinigte Königreich hat ein feindliches Umfeld geschaffen, in dem Privatpersonen und öffentliche Bedienstete den Einwanderungsstatus anderer Bürger überprüfen müssen, wenn sie eine Stelle anbieten, eine Wohnung mieten, einen Hausarzt oder ein Krankenhaus aufsuchen, ein Bankkonto eröffnen, heiraten und vieles mehr. All diese Gruppen zählen als ‚Datenverantwortliche‘, die diese neue Ausnahmeregelung nutzen könnten, um Informationen, die sie über eine Person haben, zurückzuhalten. Sicherheitsvorkehrungen müssen schriftlich und in der Gesetzgebung verankert sein. Die Regierung entschied sich jedoch, diese Anforderung einfach zu ignorieren und führte keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen oder Beschränkungen ein. Der Court of Appeal hat festgestellt, dass die Regierung rechtswidrig gehandelt hat. Wie diese Rechtswidrigkeit zu beheben ist, wird in einer Anhörung später im Sommer entschieden. Als Reaktion auf das Urteil des Court of Appeal sagte Maike Bohn, Mitbegründerin von 3million: ‚Wir begrüßen das heutige Urteil, zumal wir Millionen von EU-Bürgern vertreten, die zum ersten Mal ihre persönlichen Daten an das Innenministerium und seine Auftragnehmer aushändigen müssen, um im Vereinigten Königreich bleiben zu können. In ihrer jetzigen Form gibt die Ausnahmeregelung zum Datenschutz für ausländische Staatsangehörige alle Karten in die Hand von nicht rechenschaftspflichtigen Parteien – ein Rezept dafür, dass die Dinge schrecklich schief gehen können. Der Sieg in der Berufung bedeutet, dass wir hoffentlich die dringend benötigte Kontrolle wieder einführen können, damit Fehler und Datenmissbrauch nicht unentdeckt bleiben‘.“ [5]

Der Brexit als Weckruf für die britische Gesellschaft …

Das rasante Schrumpfen von Britannien, das Gefühl, Teil eines verschwundenen großen Empire gewesen zu sein, bildeten in der britischen Politik den Humus, auf dem Entscheidungen wachsen. Allein die seit 1948 immer wieder geführte Diskussion, wer ist britischer Bürger angesichts der Zuwanderung aus Staaten der ehemaligen britischen Gebiete, weist auf die spezifische Lage hin. Für den Beitritt zur EU 1973 musste Großbritannien eindeutig erklären, wer denn nun ein britischer Bürger und somit ein EU-Bürger ist. Dabei war die innerbritische Diskussion darüber noch nicht abgeschlossen. [6] Dass es eine Erfolgsgeschichte wurde und nicht abzusehen ist, wo Großbritannien heute stünde ohne EU, ist angesichts der Entscheidung, aus der EU auszuscheiden, nicht mehr von Interesse. Von Interesse ist aber, wie sich die unterschiedlichen Komponenten in der Bevölkerung des Staates, der Großbritannien umfasst, in ihren Interessen und Konflikten verhalten und welche Möglichkeiten ihnen dafür seitens der Verfassung und der Legislative eröffnet werden. Dieses Problem erscheint sowohl bei den Fragen der vier Landesteile England (54,3 Millionen Einwohner), Schottland (5,3 Millionen), Wales (3 Millionen) und Nordirland (1,8 Millionen), der noch existierenden britischen Hoheitsgebiete (z.B. Falklandinseln) wie auch bei allen anderen Fragen, die um die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen aufgeworfen werden. Die Auseinandersetzungen stellt die britische Gesellschaft vor große Herausforderungen: sei es hinsichtlich der innerbritischen Regelungen für den Ausgleich zwischen den Landesteilen (Stichwort: Unabhängigkeit von Schottland, Karfreitagsabkommen Irland/Nordirland), sei es die Bewertung des kolonialen Erbes mit all den Aktionen um dieses Thema, seien es die Kämpfe gegen Diskriminierung aus welchen Gründen auch immer, sei es die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung innerhalb des Landes, die Zukunft der Jugend , die Löhne, die Ausbeutung nichtbritischer Beschäftigter u.v.m. Vielleicht wäre eine gute Unterstützung einer emanzipatorischen Entwicklung, die Zusammenarbeit auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu verstärken. Städtepartnerschaften, Schüleraustausch – die ganzen alten Klamotten könnten wieder an Bedeutung gewinnen.

… und für die EU

Die neue Kommissionpräsidentin von der Leyen hat in ihrer Antrittsrede am 27.11.2019 [7] auf die vielen Initiativen reagiert, die es auf bürgerschaftlicher Ebene in Anbetracht des Austrittswillens eines Mitgliedsstaates gegeben hatte, um die Europawahlen und die EU als Errungenschaft auf dem Weg zu Demokratie und sozialem Fortschritt unters Volk zu bringen: „Und den Menschen geht es um Mitsprache bei der Gestaltung ihrer Zukunft. Die Wahlbeteiligung bei den diesjährigen Europawahlen war so hoch wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Doch die demokratische Beteiligung endet nicht am Wahltag. Wir werden die engagiertesten Köpfe aus allen Teilen unserer Union, aus allen Institutionen und allen Lebensbereichen mobilisieren, damit sie sich an der Konferenz zur Zukunft Europas beteiligen. Alle Institutionen und Bürgerinnen und Bürger sollten einbezogen werden, und das Europäische Parlament sollte eine führende Rolle übernehmen.“ Diese Konferenz zur Zukunft Europas [8] ist pandemiebedingt erst jetzt möglich, am 19. Juni wird die konstituierende Plenartagung in Straßburg stattfinden, im Vorfeld wird am 17. Juni in Lissabon eine europäische Bürgerveranstaltung stattfinden. Helmut Scholz, Mitglied des Europaparlaments für die Linke notiert dazu in seinem Newsletter „Zwischen Zeuthen und Brüssel“: „In der kommenden Woche steht die erste Plenarkonferenz zur Zukunftskonferenz der EU (COFE) an, bei der ausgewählte Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus allen Mitgliedstaaten der EU zu einem ersten Austausch zusammenkommen. Für mich als Teilnehmer an dem Treffen ist klar, dass folgende Punkte gesetzt werden müssen und nicht diskutabel sind: Wir als Linksfraktion fordern die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger, wenn es um die Gestaltung der Zukunft der EU geht. Und wir wollen, dass ihre Beiträge ernst genommen werden und in Ergebnisse sowie konkrete Handlungen der Politik münden.“ [9] Vielleicht sollte diesem Versuch einer Teilhabe größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Alle 27 Mitgliedsstaaten sind beteiligt, jeder Bürger kann sich beteiligen. [10] Ob die Konferenz eine Rückwirkung in die einzelnen Staaten hat und inwieweit die Ergebnisse einfließen in die Gestaltung der EU – das wird man erst hinterher wissen. Zu hoffen ist, dass den Antworten aus der politischen Rechten auf die Probleme in den Ländern und in der EU, etwas entgegenzusetzen ist, damit es den rechten und nationalistischen Kräften in anderen Ländern nicht gelingt, Mehrheiten für einen Austritt aus der EU zusammenzubringen.

[1] Unterschiedliche Dokumente von https://ec.europa.eu/info/publications/

und https://ec.europa.eu/commission/presscorner

[2] https://www.derstandard.de/story/2000126419591/frankreich-droht-der-britischen-kanalinsel-jersey-den-strom-abzudrehen

[3] https://www.lbbw.de/konzern/research/2021/studien/20210326-lbbw-research-brexit-zwischenbilanz-deal-is-done_acrznf194o_m.pdf

[4] https://dominiccummings.com/

[5] https://us13.campaign-archive.com/?u=9c20dec826b5110f3a7f5e9bc&id=c5a9502ff2

[6] Ebke, Almuth: Britishness: Die Debatte über nationale Identität in Großbritannien, 1967 bis 2008. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 55, De Gruyter, Oldenburg

[7] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/speech_19_6408

[8] https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/de-_gemeinsame_erklarung_zur_konferenz_uber_die_zukunft_europas.pdf

[9] https://www.helmutscholz.eu/kontext/controllers/newsletter.php?id=17

[10] https://futureu.europa.eu/?locale=de

eoff