Politische Berichte Nr. 3/2021 (PDF)06
Aktuelles aus Politik und Wirtschaft

Beziehungen Schweiz-EU werden schwieriger

01 „Die Schweiz ist ein Teilmitglied der EU“

02 DOK: Schweizer Pharma-Konzerne protestieren

Alfred Küstler, Stuttgart

Auch wenn manche Pro-Brexit-Medien in Großbritannien schon jubeln, dass sich jetzt auch die Schweiz auf den Weg des Vereinigten Königsreich begeben habe, um einen „Schwexit“ oder ein „Bern-Out“ handelt es sich nicht. Der Schweizer Bundesrat, also die siebenköpfige Regierung, hat am 26. Mai beschlossen, die Verhandlungen um ein Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU nach insgesamt sieben Jahren abzubrechen.

Die Schweiz ist kein EU-Mitglied, in zwei Abstimmungen (1992 und 2001) wurde das vom Schweizer Volk abgelehnt. Dennoch sind die Wirtschaftsbeziehungen äußerst eng: für die Schweiz ist die EU sowohl bei Einfuhren (Anteil 70%) als auch bei Ausfuhren (52%) der mit Abstand wichtigste Markt. Umgekehrt ist für die EU insgesamt die Schweiz ein ebenfalls wichtiger Markt, nach den USA und China, es gehen ungefähr 8% des Außenhandels in die Schweiz. Die Beziehungen sind in zahlreichen bilateralen Verträgen geregelt, die wichtigsten sind: Freihandel (seit 1973); gegenseitige Anerkennung von Versicherungen (1993); Zollerleichterung (seit 2011 bzw. Vorgängerabkommen seit 1991); die Bilateralen I (seit 1999): Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Forschung, Luftverkehr, Landverkehr; Bilaterale II (2004): Schengen/Dublin, automatischer Informationsaustausch (Steuern), Betrugsbekämpfung, landwirtschaftliche Verarbeitung, kreatives Europa (Förderprogramme), Umwelt, Statistik, Ruhegehälter, Bildung; weitere Bilaterale seit 2004: Europol, Eurojust, Europäische Verteidigungsagentur, Wettbewerbsbehörden, Satellitennavigation, Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen, Emissionshandel.

Diese ausführliche Darstellung macht zwei Dinge deutlich: erstens die Schweiz ist in hohem Maße in die EU integriert, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch auf zahlreichen Politikfeldern. Selbst die immer wieder hochgehaltene Schweizer Neutralität beruht darauf, dass der europäische Luftraum von der Nato überwacht wird. Zum zweiten ist auch der beiderseitige Wunsch verständlich, dass statt der zahlreichen einzelnen Verträge (die Bilateralen), die immer wieder ergänzt oder erneuert werden müssen, ein Rahmenabkommen besteht. Damit würden EU-Regelungen durch die Schweiz grundsätzlich übernommen, es gäbe Vorbehalte in bestimmten Bereichen und von Volksabstimmungen. Darüber waren sich die Schweizer Regierung und die EU-Kommission im Jahre 2014 grundsätzlich einig, und die Verhandlungen begannen auf technischer Ebene, die sich hinzogen.

2019 kam es dann zu einer unglücklichen politischen Konstellation. Die rechtsnationale Schweizerische Volkspartei (SVP) war schon immer grundsätzlich gegen die EU und alle Verträge, hatte allerdings alle anderen politischen Parteien gegen sich. Das Schweizer Volk hatte auch in mehreren Abstimmungen immer wieder entgegen SVP-Initiativen die bilateralen Verträge gebilligt, zuletzt 2009 (Freizügigkeit auch für Bulgarien und Rumänien), 2014 (keine Begrenzung der Zuwanderung), 2019 (Waffenrichtlinie der EU) und 2020 (keine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens). Ende 2018 lag der Entwurf eines Rahmenabkommens vor; der EU-Kommissionspräsident Juncker wollte noch in seiner Amtszeit einen Abschluss; auch die Schweizer Regierung war im Grundsatz dafür. In den Schweizer Parteien begann jetzt aber nicht nur die SVP gegen das Abkommen zu schießen, sondern auch die SP, die Sozialdemokraten. Der Lohnschutz sei unzureichend. Tönt gut, aber dabei geht es vor allem um eine Kontrollkommission, die Anträge prüft, ob eine Firma aus dem Ausland einen Auftrag ausführen darf. Diese Kommission ist von den Sozialpartnern paritätisch besetzt, personalintensiv und erhebt Gebühren. Faktisch ist der Umfang von Beschäftigung in diesem Bereich geringfügig: nur 0,7 Prozent der Beschäftigten machen Kurzzeitbeschäftigungen von Firmen aus Deutschland, Frankreich, Italien oder Österreich aus. Die Sozialdemokratische Partei eröffnete damit eine Rechts-Links-Überschneidung in der Kritik an den Beziehungen zur EU. Themen wie „Souveränität“, festgemacht an „fremden Richtern“ (Rolle des Europäischen Gerichtshofs als letzte Instanz für Auslegung von EU-Recht) und „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ (Unionsbürgerrichtlinie), wurden wieder hochgekocht und fanden plötzlich auch bei einigen Mitteparteien Resonanz. Der Bundesrat versuchte noch einmal in Verhandlungen mit der EU-Kommission mehr Entgegenkommen bei Lohnschutz und Unionsbürgerrichtline sowie Staatsbeihilfen zu erreichen, hielt allerdings seine Verhandlungslinie geheim. Schließlich platzten dann die Verhandlungen nach einem Besuch des Bundespräsidenten Guy Parmelin (SVP) bei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 23. April. Parmelin spricht von fundamentalen Differenzen. Am 26. Mai gibt dann der Bundesrat bekannt, die Verhandlungen seien beendet. Einen „Plan B“ habe er nicht, die EU solle in einen „politischen Dialog“ über die weitere Zusammenarbeit eintreten.

Die Reaktionen in der Schweiz sind eher erschrocken bis stark ablehnend, außer bei der SVP. Eine Umfrage hatte vor kurzem erst ergeben, dass eine Zweidrittelmehrheit der Bevölkerung das Rahmenabkommen gut oder eher gut heißt. Die Industrie, vor allem die Pharmabranche protestiert gegen den Abbruch der Verhandlungen, siehe den dokumentierten Brief, der von allen wichtigen Schweizer Pharmafirmen (Roche, Novartis, Biogen, Johnson&Johnson) unterschrieben wurde. Aus der Kultur und Wissenschaft kommen ebenfalls weitgehend erschrockene Stellungnahmen: Die Uni ETH Zürich fürchtet, dass es künftig schwerer wird, Spitzenkräfte anzuwerben. Das Parlament, der Nationalrat, hat sich bisher nur über die Außenpolitische Kommission geäußert, die gefordert hatte, die Verhandlungen nicht alternativlos abzubrechen. Aus der EU hat sich u.a. der CDU-Abgeordnete Andreas Schwab, Vorsitzender der Schweiz-Delegation im EU-Parlament, geäußert, „es hätten sich einige wenige Hardliner in der Schweizer Verwaltung durchgesetzt“, die Ablehnung des Abkommens löse aber kein einziges Problem.

Auch wenn die Regierung sagt, sie habe keinen Plan B, gibt es doch Überlegungen, die Beziehungen zur EU wieder aufzugleisen. Die Schweiz hat die Zahlungen der „Kohäsionsmillionen“ noch nicht geleistet. Das sind Fördermittel, die unter Schweizer Regie an wirtschaftsschwache EU-Länder in Osteuropa gehen. Jetzt sollen dies Gelder als Geste guten Willens ohne Bedingungen gezahlt werden. Die Hoffnung ist, dass dann das EU-Forschungsprogramm für die Schweiz geöffnet wird. Also anders als beim Brexit sind beide Seiten bemüht, nicht in ein Fahrwasser gegenseitiger Bestrafungen zu geraten, sondern zu versuchen, die wechselseitige Kooperation auszubauen.

Allerdings gibt es heftige ideologische Hemmnisse. Die Behandlung der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz als Frage der Souveränität von Nationalstaaten führt in eine Sackgasse. Die linke Politik, sowohl in der Schweiz als auch in der EU, sollte sich nicht auf diese Schiene begeben. Die sachlichen Probleme liegen meiner Meinung nach woanders: Was muss zentral auf Ebene der EU geregelt werden, was kann und muss daher nicht vereinheitlich werden, sondern kann im nationalen oder kantonalen bzw. kommunalen Rahmen geregelt werden. Die Schweiz mit ihrer Tradition der stark verfassten unteren Ebenen kann viele Anregungen geben. Wie das Beispiel Großbritannien zeigt, sind mit der Trennung von der EU die Probleme zentral-dezentral (Schottland, Nordirland …) ja überhaupt nicht verschwunden.

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„Die Schweiz ist ein Teilmitglied der EU“

das sagen der Schweizer Historiker André Holenstein und der Jurist Thomas Cottier, die jetzt gemeinsam das Buch „Die Souveräntität der Schweiz in Europa“ veröffentlicht haben. In einem Gespräch mit der NZZ vom 26. Mai sagt Cottier: „Im Buch zeigen wir, dass sich Souveränität immer auf die Herstellung von Frieden und Wohlfahrt bezogen hat. Die Schweiz hat eine großartige Erfahrung in kooperativer Souveränität, im Verhältnis zwischen Bund und Kantonen. Die Frage ist doch, inwiefern man diese Multi-Level-Governance schrittweise auch auf die europäische Ebene übertragen soll, angesichts der großen geopolitischen Herausforderungen. Wir leben in einem Umfeld, das sich so eingerichtet hat, wie es sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eben eingerichtet hat – ob wir das wollen oder nicht.“ Holenstein: „Die heutige Situation erinnert stark an die Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es in der Eidgenossenschaft einen zentralen Streitpunkt gab: Wie stark können, sollen und müssen die Kantone Souveränität in Richtung Bund abgeben? Die Transformation zum Bundesstaat hatte riesige politische, aber auch mentale Barrieren zu überwinden. Heute würde im Rückblick niemand mehr sagen, das sei ein falscher Entscheid gewesen, vor allem nicht in den Kreisen, die ein so absolutes Souveränitätsverständnis vertreten.“

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DOK: Schweizer Pharma-Konzerne protestieren

Offener Brief des Präsidiums der Interpharma zum Abbruch der Verhandlungen über das Institutionelle Rahmenabkommen mit der Europäischen Union (Auszüge)

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren Bundesrätinnen und Bundesräte,

Der Abbruch der Verhandlungen über das Institutionelle Rahmenabkommen mit der Europäischen Union ist für den innovationsstarken Pharma- und Forschungsstandort Schweiz ein herber Schlag. Gesicherte Bedingungen im täglichen Austausch zwischen der Schweiz und ihrer wichtigsten Handelspartnerin haben für unsere Unternehmen höchste Bedeutung. Die Schweizer Pharmaunternehmen exportieren fast 25 Mal so viel Produkte ins Ausland, wie sie in der Schweiz absetzen. 46 Prozent der Schweizer Pharma-Exporte gehen dabei in die EU – pro Tag setzen sie so 125 Millionen Franken um. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Wettbewerbsfähigkeit und Stärke des Schweizer Pharma- und Forschungsstandorts massgeblich mit der Teilnahme am EU-Binnenmarkt verknüpft sind.

Die Teilnahme am Binnenmarkt darf nicht erodieren. Deshalb sind nun rasche Absicherungen insbesondere in drei Bereichen notwendig:

Die gleichberechtigte Teilnahme am Binnenmarkt: Schweizer Pharma-Unternehmen müssen darauf zählen können, dass sie ihre Produkte nicht doppelt zertifizieren und ihre Fabriken nicht mehrfach inspizieren lassen müssen für den Export in die EU.

Der Zugang zu hochqualifizierten Arbeitskräften: Wie keine andere Branche lebt der Pharmasektor von der Innovation. Hierfür braucht er den einfachen Zugang zu den besten Talenten. Das Abkommen zur Personenfreizügigkeit ist hierfür ein wichtiges Element.

Die enge Zusammenarbeit in der Forschung, darunter auch die Beteiligung der Schweiz an den EU-Forschungsrahmenabkommen. Die Schweiz darf künftig nicht zum Drittstaat in den prestigeträchtigen und gut dotierten Forschungsprogrammen der EU herabgestuft werden und muss weiterhin vollständig assoziiert daran teilnehmen können.

Wir ersuchen Sie daher höflich und eindringlich, die oben erwähnten Forderungen und Vorschläge in ihre Arbeiten aufzunehmen und der Bevölkerung und der Wirtschaft rasch einen konkreten Weg aus der aktuellen Unsicherheit über die Teilnahme am EU-Binnenmarkt darzulegen. Gerne stehen wir Ihnen für den Dialog wie auch eine konstruktive Mitarbeit zur Verfügung.

Freundliche Grüsse: Jörg-Michael Rupp, Präsident Interpharma; Head of Roche Pharma International • Nicola Franco, Vizepräsident Interpharma; Executive VP and Chief Business Development Officer, Corporate & Business Development Johnson & Johnson • Dr. med. Katharina Gasser, Vizepräsidentin Interpharma; Managing Director Biogen Switzerland • Mark Never, Vizepräsident Interpharma; Head Western European Cluster Novartis • Dr. René Buholzer, Geschäftsführer Interpharma und Delegierter des Vorstands (jeweilige Firma kursiv) www.interpharma.ch

Abb. (PDF): Aussenhandel Schweiz