Politische Berichte Nr. 3/2021 (PDF)08
EU Politik

Neustart der EU-Industriepolitik? Rüdiger Lötzer, Berlin, Rolf Gehring, Brüssel Italien: Keine Aussicht auf eine echte Industriepolitik, Paola Giaculli, Berlin Spanien: „Modernisierung der wichtigsten Produktionsbereiche“, Claus Seitz, San Sebastian

Neustart der EU-Industriepolitik?

Rüdiger Lötzer, Berlin, Rolf Gehring, Brüssel

Die industriepolitischen Strategiepapiere der EU-Kommission wirkten in den letzten Jahren oft etwas inhaltsleer. Geschrieben aus der Perspektive des europäischen politischen Feldes und der Administration, formulierten sie allgemeine Wachstumsziele, verbunden mit Hoffnungen auf neue technologische Trends und allerlei gute Absichten. In der Rückschau stellte sich dann oft heraus, dass fast alle Ziele verfehlt wurden. An dem jeweils neuen Programm änderte dieses Fiasko in der Regel kaum etwas. Lernen aus Fehlern, seriöse Stärken-Schwächen-Analysen, neue Ideen? Fehlanzeige. Der Rückstand Europas gegenüber den USA schien uneinholbar, die inneren Widersprüche der EU zwischen Nord und Süd, Ost und West, Zentrum und Peripherie, armen und reichen Regionen, Gläubigern und Schuldnern unheilbar. Mehr noch: der Abstieg Europas gegenüber neuen Mächten wie China, Indien schien unausweichlich. Die Widersprüche und Zentrifugalkräfte in der EU nahmen zu. Typisch und zugleich Tiefpunkt war die Vorstellung der Industriestrategie der neuen Kommission am 10. März 2020, Thema: „Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft“. Am nächsten Tag erklärte die WHO Covid-19 zur weltweiten Pandemie. Kurz darauf schlossen die EU-Staaten panikartig ihre Grenzen. Nicht nur der Brexit – das Ende der EU wurde denkbar.

Stärkung „industrieller Ökosysteme“, Abbau von Abhängigkeiten, neue „Industrieallianzen“

Am 5. Mai dieses Jahres stellte nun die EU-Kommission ihre „Aktualisierung der Industriestrategie“ (1) vor. Und siehe da: nicht nur der Tonfall ist anders. Die Kommission versucht ihre Strategie erstmals detailliert zu begründen mit Verweis auf die Trümmer infolge Corona und anderer Krisen in der EU. „Rückgang der EU-Wirtschaft um 6,3%“. „60% der KMU mit Umsatzeinbußen im Jahr 2020“. „Abnahme des Handels in der EU um 24% im 2. und 3. Quartal 2020“. „1,4 Millionen Arbeitsplätze verloren“. Solche Schlagzeilen sind ein neuer Sound. Die Zeiten der Schönfärberei scheinen vorbei.

Zur „Stärkung der offenen strategischen Autonomie Europas“ (das klingt ein wenig wie Verlautbarungen aus Peking) hat die Kommission „14 industrielle Ökosysteme“ identifiziert, die sie jährlich analysieren, stärken und modernisieren will. Gemeint sind das Baugewerbe, digitale Industrie, Gesundheitssektor, Agrar- und Lebensmittelsektor, erneuerbare Energien, energieintensive Industriezweige, Transport- und Automobilindustrie, Elektronikindustrie, Textilindustrie, Luftfahrt-, Raumfahrt- und Verteidigungsindustrie, Kultur und Kreativwirtschaft, Tourismus, Lokal- und Sozialwirtschaft und Einzelhandel.

Zweitens will sich die Kommission um den „Abbau strategischer Abhängigkeiten“ bemühen. Dazu hat sie 5.200 Produkte genauer untersucht. Dabei hat sie 137 Produkte entdeckt, „bei denen in der EU eine hohe Abhängigkeit besteht“. Diese Produkte machen sechs Prozent der Importe der EU aus. Mehr als die Hälfte kommt aus China, gefolgt von Vietnam und Brasilien. Große Abhängigkeit besteht bei Rohstoffen, Batterien, pharmazeutischen Produkten, Wasserstoff, Halbleitern, Cloud-Diensten und anderen Spitzentechnologien. Durch massive Investitionen, aber auch neue Technologien, soll in diesen Feldern die „Resilienz“, d.h. die Widerstandsfähigkeit der EU, gestärkt werden.

Drittes Handlungsfeld sind „Industrieallianzen“, die über „breite und offene Plattformen“ entwickelt werden sollen, damit sich Start-Ups und KMUs mit Konzernen besser vernetzen können. Dabei sind mit „Plattformen“ nicht nur Gegengewichte gegen Amazon und den chinesischen Konzern Alibaba gemeint. In Wirklichkeit gibt es Tausende „Plattformen“ weltweit, auf denen Unternehmen Rohstoffe, Software und Hardware, Vorprodukte und Endprodukte vergleichen, kaufen und verkaufen. Der Kommission geht es speziell um dauerhafte technologische Allianzen. Dabei gibt es sicher am Ende auch knifflige Kartellrechtsthemen, den Schutz betrieblicher Daten, neue Patente, Normen, geistiges Eigentum. „Die Kommission arbeitet an der Allianz für Prozessoren und Halbleitertechnologien sowie der Allianz für Industriedaten, Spitzen- und Cloudcomputing und erwägt eine Allianz für Trägerraketen und eine Allianz für emissionsfreie Flugzeuge.“ Unschwer zu erkennen ist: Diese Allianzen richten sich sowohl gegen asiatische Wettbewerber in Taiwan, Südkorea, Indien, Vietnam, China beispielsweise im Bereich der Chipfertigung, als auch gegen US-Konzerne wie Amazon, Apple, Google, Microsoft und Tesla.

Wie immer steckt hier der Teufel im Detail. Allein die Umstellung der Stahlindustrie auf „grünen Stahl“, sprich die Fertigung von Stahl mit Hilfe von Wasserstoff, kostet enorme Investitionen, nicht nur in Stromerzeugung und -verteilung. Ähnliches gilt für die chemische Industrie. Hinzu kommt der Wechsel bei den Antriebssystemen im Schiffbau, in der Flugzeugindustrie, beim Schienenverkehr, bei Bussen, LKWs und PKWs, weg von fossilen Brennstoffen. Wenn im Ergebnis Konzerne wie VW künftig ihren Stahl aus Wasserstoff-Stahlwerken in Schweden beziehen, ihre Feststoff- oder Lithium-Batterien selbst bauen, Chips und IT selbst entwickeln (2), was wird dann aus Industriezentren wie dem Ruhrgebiet, aus traditionellen Lieferketten, Unternehmen wie Thyssen-Krupp, Conti, ZF, Bosch? Sicher ist: nicht nur Technologien werden sich ändern, auch die regionale Verteilung der Industrien kann am Ende in der EU eine andere sein als bisher. Was wird, wenn das so eintrifft, bei solchen Prozessen mit den Beschäftigten der „alten“ Branchen und Standorte? Wie „disruptiv“, wie zerstörerisch wird dieser Wandel? Mit welchen Folgen für die abgeforderten Qualifikationen der Beschäftigten, für Respekt, Wertschätzung und Mitbestimmung in den neuen Unternehmen? Für den sozialen und regionalen Wandel in der EU?

Absehbar ist: Die durch Corona noch sichtbarer gewordenen Schwächen und Defizite in der Europäischen Union, aber auch die enormen Investitionen in neue Technologien, in den Abbau von Abhängigkeiten bei Lieferketten etwa zur Herstellung von Medikamenten, erfordern enorme private und staatliche Mittel. Eine neue Form von „Staatsinterventionismus“ entsteht – und damit eine neue Debatte, wie weit der Staat sich in wirtschaftliche und technologische Entwicklungen einmischen soll und darf. Prompt gab es im Vorfeld des neuen Industriepapiers Streit zwischen dem eher staatsinterventionistischen Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton aus Frankreich und der liberalen dänischen Vizepräsidentin Margaretha Vestager (3). Damit verbunden sind neuerliche, im Zuge von Brexit, Corona und der Klimakrise zusätzlich angefeuerte Debatten, wie aus einem von wenigen extrem reichen Personen, Gruppen von Personen oder Unternehmen wie Amazon, Apple, Elon Musk & Co. angetriebenen, scheinbar nur technologischen Wandel ein mitbestimmter „soziotechnischer Prozess“ werden kann, das heißt ein Prozess, der auch die Verhältnisse von Menschen in der Arbeitswelt, ihre Menschenwürde und Mitbestimmung respektiert. Stichworte dafür sind US-Sozialmodell versus europäisches Sozialmodell versus chinesisches, russisches oder irgendein anderes, autokratisches Sozialmodell. Auch diese – alte – Debatte hat erneut begonnen.

(1) Europäische Kommission, Europäische Industriestrategie, 6. Mai 2021; (2) Handelsblatt, 30.4.21; (3) ebenda.