Politische Berichte Nr. 3/2021 (PDF)09
EU Politik

Neustart der EU-Industriepolitik? Rüdiger Lötzer, Berlin, Rolf Gehring, Brüssel Italien: Keine Aussicht auf eine echte Industriepolitik, Paola Giaculli, Berlin Spanien: „Modernisierung der wichtigsten Produktionsbereiche“, Claus Seitz, San Sebastian

Italien: Keine Aussicht auf eine echte Industriepolitik

Paola Giaculli, Berlin

Seit Jahrzehnten mangelt es dem Land an einer Industriepolitik. Stattdessen Deindustrialisierung, die ganze Branchen (z. B. Haushaltsgeräte) ruinierte. Internationale Konzerne schließen und verlagern. Auch bei Krisen von Großunternehmen wie Alitalia und dem Stahlkonzern Ilva in Apulien ist kaum eine Strategie erkennbar. In mehr als 150 Betriebe stehen aktuell ca. 300 000 Entlassungen an, 80 000 davon in der Metallbranche (z.B. Whirlpool in Neapel wird verlagert). Im Pandemiejahr haben bisher 945 000 Menschen ihren Job verloren. Laut der Zentralbank werden zusätzliche 570 000 nach dem Ende der Kündigungssperre arbeitslos werden. Die Gewerkschaften gehen von einer Zahl bis zu zwei Millionen aus. Diese verheerende Lage ist nicht nur pandemiebedingt, obwohl insbesondere der Süden unter dem fehlenden Tourismus heftig leidet. Hier sind befristete Verträge, gelegentliche Jobs und Schwarzarbeit besonders verbreitet. Hinzu kommt, dass die organisierte Kriminalität die finanziellen Schwierigkeiten kleiner Unternehmen in der Gastronomie und Hotellerie nutzt, um diese günstig zu übernehmen. Corona-Hilfen, Kredite, Steuererleichterungen insbesondere der zweiten Phase haben eher mittlere bis große Unternehmen (zu einem Anteil von 74 Prozent) wie Ex-Fiat (FCA nach der Fusion mit Chrysler) faktisch bedingungslos begünstigt. Der Staat verzichtet weiter auf eine führende Rolle in der Wirtschaft und der Industrie. Die EU-Aufbaufonds, mit 191 Milliarden Euro wird Italien das größte Stück beziehen, werden daran kaum etwas ändern. Zwar plant der Aufbau- und Resilienzplan 40 Prozent für den ökologischen und 25 für den digitalen Umbau. Aber die einzelnen Projekte stehen zusammenhanglos und nicht für eine Transformation. Sogar der Minister für die ökologischen Transition setzt wieder auf fossile Energiequellen wie Gas. Das Gros der Finanzierung geht an die Unternehmen (knapp 50 Milliarden) bei weiteren Steuererleichterungen, für die Arbeitspolitik bleiben 6,6 Milliarden Euro.

Der Aufbauplan: Ergebnis eines kleinen Kreises von „technischen Ministern“ und Draghi, Parlament und zivile Gesellschaft bleiben außen vor. „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Wachstum“ gelten als Motor des Wiederaufbaus. Der italienische Plan löst kaum das Problem fehlender Infrastruktur vor Ort (z.B. Pendlerzüge statt Hochgeschwindigkeit) und eines ausgehöhlten Gesundheitssystems (30 Milliarden Einsparungen in den letzten zehn Jahren). Nur 2,49 Milliarden Euro sind für die Verbesserung der hydrogeologisch fragilen Lage geplant. Unzufrieden ist auch die unabhängige Forschungswelt. Die geplanten 11,4 Milliarden begünstigten meistens die Unternehmen und nicht die Basisforschung in den öffentlichen Einrichtungen. Besonders beunruhigend sind die Gesetzentwürfe zur „Vereinfachung“ (Vergabeprozedere und Ausschreibungen), damit die Projekte schnell realisiert werden. Das heißt, Kriterium des „niedrigsten Preises“ und keine Begrenzungen für Subunternehmen. Mangelnde Sicherheit am Arbeitsplatz und eine Carte blanche für die organisierte Kriminalität wären die Konsequenzen. Nach dem Protest der Gewerkschaften wurden diese Vorschläge abgeschwächt, aber nur vorübergehend bis November.

Insgesamt scheint es, der ehemalige EZB-Präsident Draghi kam wie gerufen, Rezepte durchzusetzen, die sich schon im letzten Jahrzehnt als unbrauchbar erwiesen haben.