Politische Berichte Nr. 3/2021 (PDF)29
Kalenderblatt 6. Juli 1884

Statt der Armenfürsorge eine Versicherung bei Arbeitsunfall, Mathias Paykowski, Karlsruhe. Das 19. Jahrhundert – ein Jahrhundert der Ausstellungen Rudi Arendt, Elmshorn Aufstand Der Fischer von St. Barbara Eva Detscher, Karlsruhe.

6. Juli 1884 Deutsches Reich

Statt der Armenfürsorge eine Versicherung bei Arbeitsunfall

Matthias Paykowski, Karlsruhe.

Das am 6. Juli 1884 im Deutschen Reich in Kraft getretene Unfallversicherungsgesetz markiert einen Übergang von der Armenfürsorge in den Händen von zumeist Gemeinden und Kommunen hin zu einer Versicherung gegen Schäden an Leib und Leben, die sich im und um den Arbeitsprozess und aufgrund der Arbeitsbedingungen ereignen. Entschädigt wird bei tödlichen Arbeitsunfällen, bei Arbeitsunfähigkeit und Invalidität.

Das Gesetz wird zunächst nur in als „besonders gefährdet“ bezeichneten Bereichen eingeführt: in Bergwerken, Steinbrüchen, Fabriken, Werften, auf Baustellen und im Schornsteinfegergewerbe. Aber schon 1886 wird es ausgedehnt, auf z.B. land- und forstwirtschaftliche Betriebe, dann die Seeschifffahrt. Die Beiträge zu dieser Versicherung bringen die Unternehmen auf, die Höhe der Beiträge richtet sich nach Betriebsgröße und jeweiliger Unfallgefahr (Gefahrenklasse). Als Organisationsform dieser berufsständischen Genossenschaften wird die Selbstverwaltung durch die Unternehmen festgelegt. Rechtsprechungs- und Aufsichtsbehörde ist das Reichversicherungsamt (RVA).

In die neugeschaffenen Spruchbehörden / Schiedsgerichten des RVA werden auch Vertreter der versicherten Arbeiter gewählt und dies erweist sich für die Entwicklung der Unfallversicherung und des Unfallgeschehens als zweckmäßig und vorteilhaft. Die Sozialdemokratie, die der Versicherung ablehnend und misstrauisch gegenübersteht, weil nicht alle Arbeiter einbezogen sind, kann so durch ihre „nichtständigen“ Mitglieder – die sogenannten Laienmitglieder bzw. -beisitzer – in den Spruchbehörden an der Ausgestaltung der Rechtsprechung teilnehmen und sie beeinflussen:

„Die nichtständigen Mitglieder werfen unmittelbar nicht nur das Gewicht ihrer Gründe, die Tiefe ihrer Überzeugung und die Dringlichkeit ihrer Wünsche, sondern auch ihre Stimme in die Waagschale. Und nicht selten tritt die Majorität, wo sie keinen festen Rechtsboden unter den Füßen hat, oder wo die Zweckmäßigkeit ihrer Absicht ernsthaftem Widerstande begegnet, mit ihrer Meinung vor der Minorität zurück, so daß tatsächlich die Wenigeren obsiegen. (…) Insbesondere ist es bei diesem Verfahren bisher auch durchaus gelungen, auf seiten der Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer die Meinung nicht aufkommen zu lassen, sie seien ja doch in der Minderheit, ihr Votum sei weniger bedeutend als das der anderen; und darum hat das Amt im allgemeinen gerade in diesen nichtständigen Mitgliedern die besten Vertreter seiner Entscheidungen nach außen“.1

1887 wird der Verband der deutschen Berufsgenossenschaften gegründet, ein Zusammenschluss von 32 Berufsgenossenschaften. Von diesem als Verein konstituierten Verband wird gemeinsam mit dem RVA die Ausarbeitung von Unfallverhütungsvorschriften organisiert. Die dafür gebildeten Kommissionen setzen sich paritätisch aus Vertretern der Arbeiter und der Genossenschaftsvorstände zusammen. Vorgesehene Arbeiterausschüsse finden im Reichstag keine Mehrheit.

Rückblick

Die Gefahren und Risiken, die sich für Leib und Leben aus der Transformation und Ablösung der feudalen Produktionsweisen in die Industriegesellschaft ergeben, nehmen mit dem raschen Anwachsen der Industrie in einem bisher nicht gekannten Umfang zu. Die bisherige Wahrnehmung, die einen Unfall im Arbeitsprozess als persönliches Unglück und Schicksal verortet, deren Folgen das Individuum selbst zu tragen oder für die bestenfalls die Gemeinde aufzukommen hat, ist durch massenhaftes Unfallgeschehen im industriellen Arbeitsprozess nicht mehr haltbar: „Wenn Lohnarbeit im industriellen Kontext mit ständig fortschreitender Technisierung verrichtet wird und dies in einem urbanen Umfeld, weil die Industriearbeiter ganz überwiegend aus ländlichen Regionen kamen, erlangt ein soziales Risiko herausragende Bedeutung: der Arbeitsunfall.“2

„Mit dieser dynamischen industriellen Entwicklung entstanden neue Probleme. Zunehmend siedelten die Deutschen vom Land in die Städte um, verließen Handwerksbetriebe und gingen in den Fabriken arbeiten. Dort hatten sie zunächst kaum Rechte: Die Löhne waren gering, und lange Arbeitszeiten sowie schlechte Arbeitsbedingungen bestimmten den Betriebsalltag. Die Folge: Die Gesundheit und oft auch das Leben der Arbeiter waren zunehmend gefährdet. Schließlich stieg die Zahl der Unfälle durch schlechte und unsichere Arbeitsbedingungen sehr schnell an.“3

1839 wird in Preußen das Regulativ über die „Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ erlassen, das erste Gesetz, das Schutzmaßnahmen wenigstens für arbeitende Kinder ergreift. Die Diskussion über die Kinderarbeit war kontrovers und heftig. Eingriffe in die Vertragsfreiheit fürchten die National-Liberalen. Friedrich I. von Preußen sieht den sittlichen Wert in den Spinnereien für Kinder durchaus erfüllt, um die Untertanen an „mehreren Fleiß und Arbeitsamkeit (zu) gewöhnen“, damit sie nicht „müßig umherlaufen“. Die Kritik an der Kinderarbeit braucht etliche Denkschriften, bis 1853 in Preußen die ersten Fabrikinspektoren für die Überwachung und Kontrolle eingesetzt werden. 1869 wird die „Einheitliche Gewerbeordnung der Staaten des Norddeutschen Bundes“ beschlossen. Sie verpflichtet die Unternehmen, „auf seine Kosten alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbe-Betriebes und der Betriebsstätte zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind.“

Das 1871 von den National-Liberalen vorgeschlagene und vom Reichstag eingeführte Reichshaftpflichtgesetz enthält immerhin erste Ansätze einer Gefährdungshaftung, in dem es einen Schadensersatz bei Arbeitsunfällen zuspricht. Außerdem sieht das Gesetz eine Kopplung der Unternehmen an die Unfallversicherungen über anteilige Prämien vor. Allerdings bleibt die Beweislast auch hier beim Geschädigten und es stellt sich heraus, dass die Unfallversicherungen Schadensersatz in der Regel erst nach verlorenem Prozess leisten.

Erst mit dem Unfallversicherungsgesetz von 1884 wird die Rechtdogmatik des zivilen Haftungsrechts überwunden. Der Anspruch des Arbeiters begründet sich aus der Idee der Gefährdungshaftung und der damit verbundenen Risikoverantwortung des Unternehmens. Die Erfüllung der Ansprüche erfolgt durch einen Versicherungsträger und damit sind eklatante Schwächen des bisherigen zivilrechtlichen Schadenersatzsystems überwunden. Mit dem Gesetz vollzieht das Deutsche Reich einen sozial- und zivilrechtlichen Wandel.

Quellen: 1 Florian Tennstedt. Entwicklung des Sozialrechts, Aufgabe der Rechtsprechung. Das Reichsversicherungsamt und seine Mitglieder: https://kobra.uni-kassel.de/ 2/3 Prof. Dr. Maximilian Fuchs. Ein sozialrechtlicher Quantensprung – Die Entstehung der gesetzlichen Unfallversicherung: https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/data/AuR2017_07.pdf 4 Abb.: BG ETEM, Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse, https://www.bgetem.de

Abb. (PDF): Aus den Elementen Beteiligung der Beschäftigten und ihrer Organisationen, aus der Kritik an den Arbeitsbedingungen und der nun institutionell geregelten Verantwortung der Unternehmen entwickelt sich eine geänderte Praxis: die Praxis der Prävention; seit 1996 auch durch die Gefährdungsbeurteilung, die schon im Vorfeld Gefahren in den Unternehmen und am Arbeitsplatz ermitteln und geeignete Maßnahmen dagegen ergreifen muss.