Politische Berichte Nr.1/2022 (PDF)21
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Andreas Speit: Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus

Andreas Speit untersucht in diesem Buch ideologische Verbindungen von alternativer Kritik staatlicher Maßnahmen gegen Corona und Impfgegnerschaft zu den Rechtsextremen in der Querdenken-Bewegung.

Rosemarie Steffens Langen/hessen

Querdenken präsentiert sich, so Speit, durch feste Rituale kollektiver Staatsverachtung mit alternativem Habitus und durch Ignoranz gegenüber den Corona-Toten und ihren Angehörigen.

Die Chronologie der Bewegung weist eine Radikalisierung auf, das Umschlagen latenter Aggressivität in offene Gewalt(androhung) gegenüber dem Rudolf-Koch-Institut, Ärzten, Politikern, Polizisten und Journalisten – es gab Todesfälle.

Organisiert und vermarktet wird die Querdenken-Bewegung professionell wie eine Firma über den Messenger-Dienst Telegram, dessen Organisator Nähe zur Reichsbürgerbewegung zeigt. Die Angst vor einer Diktatur wird geschürt. Das geht soweit, dass Vergleiche von Impfgegnern zu NS-Verfolgten gezogen werden. „Das Geschäft mit der Angst boomt“.

Speit zitiert Michael Butter: „In unsicheren Zeiten wie der jetzigen gaukeln Verschwörungstheorien Stabilität und Ordnung vor. Es gibt Gut und Böse, alles ist eindeutig erklärbar.“ Der Autor weist darauf hin, dass die Wissenschaftsskepsis mit der Hinwendung zur Spiritualität einhergehe. Die Weltbilder, die so entstehen, sind oft religiös geprägt – hier betont er die wichtige Unterscheidung zwischen autoritären und humanistisch geprägten Religionen.

Bei der Querdenken-Klientel liege die Rettung aus der Krise in der Abkehr von den „Eliten“ und Hinwendung zu neuen Heilsversprechen.

Die Verschwörungstheorien – über Bill Gates, die WHO, über Impfmanipulationen – seien grotesk, entsprängen aber auch einem kritischen Denken, einer neuen Reflexion der Moderne. So sei seit der Finanzkrise so intensiv wie lange nicht über Lebens- und Produktionsweise der westlichen Industriestaaten diskutiert und das „Weiter so“ in der Waren und Finanzwelt, wo Besitz- und Dinge das Ich ausmachen, hinterfragt worden. „Der Markt wird den Klimawandel nicht stoppen“ sagt die Ökonomin Ann Pettifor.

Speit erkennt eine neue Lebensreform-Bewegung in Deutschland, in der Form einer Gegen- und Suchbewegung. Die erste Lebensreform, Mitte des 19. Jahrhunderts, beklagte den alles umfassenden gesellschaftlichen Wandel durch die industrielle Revolution mit der Entfremdung von Mitmenschen und der menschlichen Natur. Der Rationalismus wurde fragwürdig, ein rechter Antimodernismus entstand damals mit Hinwendung zu Ur-Göttern und arteigenen Lebensweisen bis hin zu völkischen, antisemitischen, antifeministischen Positionen.

Bei der zweiten Bewegung in den 60ern, der Hippie-, Studenten-, Friedensbewegung – mit Kritik am Vietnamkrieg, NS-Regime, Kolonialismus, dem Kalten Krieg gab es auch nach rechts offene antiautoritäre Motive (siehe die Ambivalenzen zu Anfang der Grünen Partei).

Bei der jetzigen dritten Reformbewegung seien insbesondere Frauen mit höherem Bildungsabschluss und Offenheit für esoterisches Denken führend. Sie nähmen die Maßnahmen gegen die Pandemie als leidvolle Erfahrung und Einschränkung ihrer Sorge um Angehörige wahr. Verschwörungsnarrative vermengten sich mit der latenten Sehnsucht nach Spiritualität, ja Glauben. (N. Frei und U. Nack: Frauen und Corona-Protest).

Als nicht eingelöst angesehen würden von der Querdenken-Bewegung die zentralen Versprechen „Aufstieg durch Leistung, Freiheit durch Demokratie, Gleichheit durch Rechtssicherheit und Wahrheit durch Wissenschaft, steigende Lebenserwartungen durch die Errungenschaften der modernen Schulmedizin.“ Auch um Freiheit der Kritik als Kennzeichen der Moderne fürchten die Besorgten und Bewegten.

Der Autor erinnert an G. Lucacz, der ideologische Vorläufer des NS reflektierte und davor warnt, dass die Option einer aggressiven reaktionären Ideologie bis hin zur faschistischen in jeder philosophischen Regung des Irrationalismus sachlich enthalten sei.

Auch die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 zeigt, dass den sehr heterogenen Gruppen bei Querdenken Verschwörungstheorien, antidemokratische Gesinnung und Wissenschaftsfeindlichkeit gemeinsam sei. Politiker würden als Marionetten der Pharmalobby, der jüdischen Millionäre etc. betrachtet, die Verantwortung nach außen verlagert. Angehörige der Mittelschicht seien überrepräsentiert, Menschen, die etwas zu verlieren hätten, deren Selbstverwirklichung durch Lock-Downs begrenzt werde. Die meisten hätten wenig Berührungsängste nach rechts, seien aber nicht ausgesprochen islamfeindlich, selten sozialdarwinistisch, selten NS-leugnend. „Wir sind überparteilich und schließen keine Haltung aus.“ 23 % der Befragten bei Querdenken-Protesten haben GRÜNE und 18 % Linke gewählt. Bei der nächsten Bundestagswahl stiege die Bereitschaft, AfD zu wählen (bei der Befragung 15 %) nach eigenen Aussagen dieser Gruppe dann auf 27 % an.

Gefährlichen Weltbildern in der ökologisch-esoterischen Szene und ihren Ambivalenzen geht Speit sehr ausführlich in der zweiten Buch-Hälfte auf den Grund: der Alternativen Medizin und Homöpathie-Bewegung, die bei der jüngeren Generation der Grünen Partei allerdings kaum noch Rückhalt habe. Beim Waldorfschulen-Konzept kritisiert er den immanenten Elite-Gedanken, würdigt aber auch Bewegungen in dieser Szene, die sich von dem rassistischen Gedankengut ihres Gründers Steiner distanzieren. Auch mit der (militanten) Vegan- und Tierrechts-Bewegung, die teilweise so weit geht, Massentierhaltung mit dem Holocaust gleichzusetzen und der völkischen „Zurück-zur Natur“-Bewegung von Siedler-Familien zeigt er offene Tore zu antisemitischen und rechtsextremistischen Geisteshaltungen auf. Zur Q-Anon-Bewegung mit Heilsbringer D. Trump, die in Deutschland durch Xavier Naidoo großen Zulauf hat, ist es da nicht weit. Rechte Magazine wie Compact, Rubikon, Demokratischer Widerstand vernetzen die verschiedenen Gruppen und Ansätze.

Trotz Darstellung der überwältigenden Fülle demokratiefeindlicher Bestrebungen in dieser Szene sagt Andreas Speit: „Der Kult wächst. Die Kritik auch.“

Abb.(PDF): Speit, Andreas: Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus. Aufbau-Verlag, 1. überarb. Aufl. 2021, 18 €: Auch erschienen in der bpb-Schriftenreihe Bd. 10762, 4,50 €)