Politische Berichte Nr.2/2022 (PDF)09
EU-Politik

Parlamentsbericht zum Arbeitsschutz in Europa

Rolf Gehring, Brüssel

Bereits im letzten Jahr hat die Europäische Kommission ihren strategischen Rahmen zum europäischen Arbeitsschutz für die Jahre 2021 bis 2027 vorgelegt. Inhaltlich werden drei Schwerpunkte benannt, namentlich die Bewältigung des digitalen Wandels und der demographischen Entwicklung, eine bessere Prävention von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie die Bearbeitung potenzieller neuer Risiken am Arbeitsplatz. Die in dem Dokument vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen fallen allerdings sowohl was die Anpassung des europäischen Rechtsrahmens als auch die praktischen Maßnahmen betrifft dürftig aus. Im letzten halben Jahr wurde nun der Bericht im Beschäftigungsausschuss des Europäischen Parlaments beraten und am 9. Februar in der Plenarsitzung des Parlaments beschlossen.

Zentral weist der Bericht in den einleitenden Erwägungen darauf hin, vor welchem Hintergrund der europäische Arbeitsschutz agiert beziehungsweise agieren muss. Im Jahr 2018 wurden für die EU 3300 tödliche Arbeitsunfälle ausgewiesen, 3,1 Millionen Unfälle, aber auch mehr als 200 000 durch Berufskrankheiten bedingte Todesfälle, davon etwa 100 000 Krebserkrankungen. Genau diesbezüglich wird die Kommissionsstrategie als unzureichend beurteilt. Die Kommission bewertet den europäischen Arbeitsschutz wesentlich als Erfolgsgeschichte und verweist in ihrer Strategie auf die tendenziell gesunkenen Zahlen von Arbeitsunfällen und tödlichen Arbeitsunfällen, verschweigt aber, dass in dem Bereich der Berufskrankheiten kaum oder keine Fortschritte erzielt wurden, möglicherweise die Betroffenenzahlen gar steigen.

Das Parlament fordert nun, in diesem Bereich deutlich nachzubessern. Es möchte, dass Krebsgefahren am Arbeitsplatz deutlich stärker in den bestehenden allgemeinen Plan zur Bekämpfung von Krebserkrankungen in der Gesellschaft aufgenommen werden. Für die Arbeitsschutzrichtlinie zur Regulierung von krebserzeugenden Arbeitsstoffen (Arbeitsplatzgrenzwerte oder Verbote) wird vorgeschlagen, mindestens 25 weitere Risikosubstanzen aufzunehmen. Wie bereits in dem Legislativbericht zu Asbest wird erneut auf die immer noch hohen Risiken, die von Asbest ausgehen, verwiesen und beharrlich eine Absenkung des Arbeitsplatzgrenzwertes auf 1000 Fasern pro Kubikmeter gefordert.

Bemerkenswert ist, dass das Parlament auch die von Gewerkschaften geforderte Revision der europäischen Liste der Berufskrankheiten und ihre Umwandlung von einer Empfehlung (kann, muss aber nicht umgesetzt werden) in eine bindende Richtlinie mit Mindestvorschriften aufgenommen hat. Ausdrücklich wird gefordert, berufsbedingte Krankheiten aus den Bereichen Muskelskeletterkrankungen, psychosozial bedingte Erkrankungen, rheumatische und chronische arbeitsbedingte Erkrankungen, alle asbestbedingten Erkrankungen und Hauterkrankungen aufzunehmen. Eine Erweiterung der Liste, aber insbesondere ihre Umwandlung in eine Richtlinie wird von den Arbeitgebern, aber auch von den meisten Mitgliedsstaaten deutlich bekämpft. Eine europäische Regelung in dieser Frage wird als in Eingriff in die sozialen Sicherungssysteme gesehen, die unter die Hoheit der Mitgliedsstaaten fallen. Die Gewerkschaften argumentieren, dass die rein formale (nicht die individuelle) Anerkennung von Berufskrankheiten eine reine Umsetzung von wissenschaftlicher Erkenntnis und daher ein Arbeitnehmerrecht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit ist.

Ein weiterer Fokus des Berichts sind Berufsgruppen mit besonderen Belastungen und Bedingungen wie Frauen, ältere Beschäftigte, Plattformarbeiter, Menschen mit Behinderungen. Zu allen Gruppen werden konkrete Vorschläge für einen verbesserten Arbeitsschutz gemacht, einschließlich einer stärkeren Beachtung des Jugendarbeitsschutzes. Ebenfalls behandelt wird das Thema der prekären Beschäftigungsformen, mit Verweis darauf, dass diese Beschäftigten selten unter tariflichen Bedingungen arbeiten und nicht in Arbeitsschutzmaßnahmen einbezogen werden. Gefordert werden auch spezielle Arbeitsschutzvorgaben für Telearbeit, einschließlich des Rechts auf Abschalten.

Aufgenommen wurde schließlich auch der Vorschlag, eine Art Frühwarnsystem einzurichten, um neue Gefährdungen am Arbeitsplatz unter Einbeziehung der sektoralen Sozialdialoge frühzeitig wahrzunehmen und mögliche nötige Änderungen bestehender Richtlinien anzuregen.

Dass der Bericht mit einer sehr großen Mehrheit im Europäischen Parlament angenommen wurde (551 dafür, 30 dagegen, 110 Enthaltungen) und auch die sehr weitreichenden Forderungen eine deutliche Unterstützung der konservativen Fraktion erhalten haben, dürfte den gewerkschaftlichen Bemühungen Auftrieb geben.

Parlamentsbericht: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-9-2022-0023_DE.html

Abb. (PDF): Foto Arbeit am Wrack. Pressemitteilung der NGO Shipbreaking Platform (https://shipbreakingplatform.org) vom 23. März 2022: „Das Gulating Lagmannsrett, ein Berufungsgericht in der norwegischen Stadt Bergen, hat die Gefängnisstrafe für den norwegischen Reeder Georg Eide wegen Beihilfe zum Versuch, das Schiff Tide Carrier, auch bekannt als Eide Carrier und Harrier, zum Abwracken nach Pakistan zu exportieren, bestätigt.

Bereits im November 2020 hatte das erstinstanzliche Bezirksgericht Sunnhordland in Norwegen Georg Eide zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, weil er den Schrotthändler Wirana bei dem Versuch unterstützt hatte, die Tide Carrier illegal zum Abwrackstrand von Gadani (Pakistan) zu exportieren. Das Gericht ordnete außerdem die Beschlagnahme von kriminellen Dividenden in Höhe von 2 Millionen norwegische Kronen von Eide Marine Eidendom AS an.“