Politische Berichte Nr.2/2022 (PDF)23
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Die Vergessenen vom „Russenfriedhof“–Streit um eine Bahnwerkstatt

Johann Witte, Bremen

Die Firma Alstom1, die Schienenfahrzeuge herstellt, will in Bremen-Oslebshausen eine neue Bahnwerkstatt und Gleisanlagen errichten – auf einem Gelände, das im Zweiten Weltkrieg als Friedhof für überwiegend sowjetische und polnische Kriegsgefangene diente.

Als Zwangsarbeiter waren sie in fünf größeren umliegenden Lagern untergebracht. Eingestuft als „Untermenschen“, wurden sie nicht nach den Maßstäben der Genfer Konvention behandelt, sondern waren der Vernichtung durch Zwangsarbeit, dem Verhungern und der Ermordung in den Lagern ausgeliefert.

Bestattet wurden die Opfer auf diesem Gelände, dem sogenannten „Russenfriedhof“. 1946 wurde hier auf Anordnung der UN eine Untersuchung durchgeführt, die 217 Erkennungsmarkennummern aufführt. 2021 wurden die Unterlagen in den Arolsen Archives2 wiederaufgefunden. Zur Anzahl der Bestatteten gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Nach 1946 wurde das Gelände mit Sand aufgefüllt. Exhumierungen wurden gleichzeitig durchgeführt und die gefundenen Toten auf den Bremer Zentralfriedhof für Opfer des Zweiten Weltkriegs umgebettet.

Nach der Aufnahme der Planung für die Bahnwerkstatt machten Friedensforum und Bürgerinitiative Oslebshausen die Stadt Bremen auf den Friedhof aufmerksam. Die Stadt hatte die Existenz zunächst „vergessen“. Erinnerung war nur ein orthodoxes Kreuz in einiger Entfernung vom Gewerbegelände, auf dem der Friedhof liegt. Als ca. 400 sowjetische Opfer, die dort bestattet und z.T. später exhumiert wurden, mit Hilfe des russischen Onlinearchivs Memorial namentlich identifiziert werden konnten, war endgültig klar, dass unvollständig exhumiert wurde, so dass noch bis jetzt eine unklare Anzahl von Opfern in der Erde liegen.

Der Senat hielt aber an der Planung für die Bahnwerkstatt fest. 2021 begann die Landesarchäologie mit Ausgrabungsarbeiten auf dem Kerngebiet des „Russenfriedhofs“. Sie förderten zu Beginn nur menschliche Überreste und Erkennungsmarken zu Tage, zu Beginn dieses Jahres wurden auch neun vollständige Skelette gefunden. Bis dahin war Bürgermeister Bovenschulte auch in Absprache mit den konsularischen Vertretungen Russlands und der Ukraine immer der Ansicht gewesen, die gefundenen Knochen u.a. auf den zentralen Friedhof umzubetten. Letztlich sollten die Ergebnisse der Ausgrabungen aber abgewartet werden. Auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge stimmte Anfang Februar dieser Position zu.

Friedensforum und Bürgerinitiative betrachteten das Vorgehen des Bürgermeisters als einen Affront gegenüber den Opfern und protestierten gegen die Planungen der Stadt. Zur völkerrechtlichen Einordnung legten sie zwei Rechtsgutachten vor. Übereinstimmend kamen die Gutachten zu dem Ergebnis, dass die geplante Bahnwerkstatt vom humanitären Völkerrecht her zumindest in Zweifel zu ziehen ist:

„Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet die Kriegspartei, auf dessen Boden sich die Kriegsgräberstätte befindet, dazu, die Stätte zu pflegen und zu erhalten… Exhumierung und Umbettung darf nur in bestimmten rechtlich anerkannten Umständen unternommen werden… Die Einrichtung einer Bahnwerkstatt auf dem Areal einer Kriegsgräberstätte, … ist also nicht mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar, wenn deren sterbliche Überreste nie exhumiert und umgebettet worden sind … Um (ihrer) Pflicht nachzukommen, muss diese Kriegspartei, sobald es die Umstände erlauben, mit dem Heimatstaat der Verstorbenen Abkommen schließen, die den dauernden Erhalt der Kriegsgräberstätte ermöglichen…“3

Angesichts der letzten Funde forderten Bürgerinitiative, Friedensforum und die Partei Die Linke im Januar die Einsetzung einer Expertenkommission aus Völkerrechtlern, Historikern und Ethikern, die der Bürgerschaft eine verbindliche Empfehlung zum Umgang mit den Kriegsgräbern geben könnte.

Inzwischen sind die Grabungsarbeiten zum Teil augenscheinlich abgeschlossen. Stellungnahmen von Archäologie und Stadt hat es seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine nicht mehr gegeben.

1 Alstom ist seit 1998 Nachfolgeunternehmen des Waggonbauers Linke-Hofmann-Busch, der bis 1945 in großem Umfang Güterwaggons für die Reichsbahn baute | 2 Arolsen Archives ist ein „International Center on Nazi Persecution“ in Bad Arolsen | 3 Gutachten des Kalshoven-Gieskes Forum on International Humanitarian Law; Leiden University Netherlands vom 29.6.2021: zit. nach S. Hundt in: https://www.nachdenken-in-bremen.de/russenfriedhof.htm. – Div. Ausgaben der Bremer Tageszeitungen seit Mitte 2021; Artikel der taz, des Spiegel, nd, Lok-Report vom 18.1.2022; Veröffentlichungen von Friedenforum und Bürgerinitiative Oslebshausen, Mitteilungen der Senatspressestelle.

Abb. (PDF): Foto des Geländes