Politische Berichte Nr.2/2022 (PDF)24
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Ruskij Mir – Patriarch Kyrills „Lehre von der russischen Welt“

Edda und Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

01 Zur Geschichte der Orthodoxen Kirche
02 Das Moskauer Orthodoxe Patriarchat unter der Führung des Patriarchen Kyrill
03 Gegen-Erklärung zur „Lehre von der Russischen Welt“

01

Zur Geschichte der Orthodoxen Kirche

Weltweit gibt es ca. 263 Millionen orthodoxe („rechtgläubige“) Christen, wie sie auch im Sprachgebrauch des Ökumenischen Weltrates der Kirchen genannt werden. Sie selbst lassen sich bis heute meist geografisch und ethnisch näher bestimmen. Entstanden sind sie in der frühen Christenheit im Bereich der Wirkungstätigkeit Jesu und seiner ersten Nachfolger, bald auch in Konkurrenz zu dem katholisch-päpstlichen Rom. Ihre kirchliche Organisation ist davon bestimmt, welche der zwei, drei, bzw. sieben christlichen Ökumenischen Konzilien in Nizäa, Konstantinopel, Ephesus und Chalzedon zwischen 321 und 787 sie grundlegend anerkennen. Ihr Glaubensleben wird vorrangig von ihrer liturgischen, spirituellen und ikonografischen Ausprägung bestimmt – was über das Kirchenjahr hinweg gesungen und gefeiert wird, und welche Heiligenbilder, wo in den Kirchenräumen platziert sind. Waren sie anfangs vor allem sprachlich griechisch geprägt und auf ihr zentrales Patriarchat in Konstantinopel bezogen, verbreiteten sie sich gegen Ende des 1. Jahrtausends in den slawisch bestimmten Raum. Das am Dnjepr in der Ukraine mit der Zentrale in Kiew entstandene Händlervolk der Rus wurde ab der Jahrtausendwende durch seine neuen Machthaber in Moskau und die Übernahme des Christentums zu dem mächtigen zaristischen Russland. Mit diesem bildete ein eigenständiges orthodoxes Patriarchat fortan eine Einheit. Heute gehört ihm mit 114 Millionen Gläubigen fast die Hälfte aller orthodoxen Christen der Welt an, und sie machen gut Zweidrittel der Bevölkerung Russlands aus. Es ist ohne Zweifel eine wichtige Frage, in welcher Weise sich diese orthodoxe Kirche unter der Leitung „Seiner Heiligkeit Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland“ zu der Politik des Landes und seines Präsidenten Putin sowie konkret zu dem kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine verhält. Dies soll hier dargestellt werden und ebenso soll die dazu konträre Stellungnahme der übrigen orthodoxen Kirchen aus aller Welt zu Worte kommen.

02

Das Moskauer Orthodoxe Patriarchat unter der Führung des Patriarchen Kyrill

... vertritt eindeutig eine Weltsicht, in der der Kreml der wichtigste Hüter des Christentums und die Ukraine kein unabhängiger Staat, sondern nur Teil der „russischen Welt“ ist. Bereits am 11. November 2014 wurde nach dem ersten Einfall Russlands in die Ukraine auf einer Sitzung des XVIII. „Weltweiten Russischen Volkskonzils“ (Всероссийский национальный совет) zu dem Thema „Einheit der Geschichte, Einheit des Volkes, Einheit Russlands“ eine Definition geliefert, die festlegen sollte, was zur „Russischen Welt“ gehöre. Es ist „die Erklärung der russischen Identität“ (http://www.patriarchia.ru/db/print/508347.html). Darin heißt es unter anderem:

„… Die Zugehörigkeit zur russischen Nation wird also durch eine komplexe Reihe von Verbindungen bestimmt: genetische und eheliche, sprachliche und kulturelle, religiöse und historische … Gleichzeitig bedeutet nationale Identität unweigerlich Solidarität mit dem Schicksal des eigenen Volkes. Jeder Russe fühlt eine tiefe emotionale Verbindung zu den großen Ereignissen seiner Geschichte: die Taufe Russlands, die Schlacht von Kulikovo (gegen Tartaren/Mongolen), der Sieg über Napoleon und Hitler. Wir betonen, dass der Stolz auf den Sieg von 1945 einer der wichtigsten integrierenden Faktoren der modernen russischen Nation ist.“

Auf der Grundlage der programmatischen Thesen dieses Dokuments wurde folgende Definition der russischen Identität festgelegt:

„Ein Russe ist eine Person, die sich selbst als Russe betrachtet; die keine anderen ethnischen Präferenzen hat; die Russisch spricht und denkt; die das orthodoxe Christentum als Grundlage der nationalen geistigen Kultur anerkennt; die sich mit dem Schicksal des russischen Volkes verbunden fühlt.“

Der orthodoxen Sichtweise zufolge umfasst die Konzeption der „Russischen Welt“ den gemeinsamen zivilisatorischen Raum auf dem Territorium der „historischen Rus’“ und stützt sich dabei auf drei Säulen: Die Orthodoxie, die russische Kultur mit ihrer Sprache und ein gemeinsames historisches Gedächtnis. Die Ukraine und die ukrainische Kirche sind nach diesem Verständnis als ein Bündnis des neuen Russlands mit der alten „Heiligen Rus’“ nicht wegzudenken. Mit dieser Idee der „Russischen Welt“ legitimiert auch Russlands Präsident Putin seine politische Übergriffigkeit jenseits der eigenen Grenzen.

Nach der strengen Trennung von Kirche und Staat in der Zeit des Sozialismus in der Sowjetunion von 1920 bis in die 1990er Jahren entwickelte sich in der nachsowjetischen Periode in Windeseile wieder die sogenannte „Symphonie“ zwischen Russisch-Orthodoxer Kirche und russischem Staat. Mehr und mehr setzten beide sich in ihrer Tradition mit einer „russischer Identität“ gleich. Putin selbst stellt daher westliche Wertvorstellungen wie Liberalismus und Demokratie dem orthodoxen Traditionalismus entgegen. Im Jahre 2008 stellte dementsprechend die Russisch-Orthodoxe Kirche einen ausdrücklichen Gegensatz zwischen universellen Menschenrechten und christlicher Moral fest. Toleranz wie beispielsweise gegenüber „Abtreibung, Unzucht und Zerstörung der Familie“ gefährde die „Moral der russischen Gesellschaft“.

In der Orthodoxen Weltkirche stößt diese politische Theologie, die Christentum mit einer ethnisch-nationalen Verbundenheit und strikt konservativer, betont anti-westlicher Moral verbindet, auf immer heftigeren Widerspruch.

Jetzt äußerten sich weit über tausend orthodoxe Gelehrte und Theologen in einer eigenen Stellungnahme gegen die oben dargelegte Lehre von der „Russischen Welt“ und ihre Auswirkung auf den von Russland in der Ukraine begonnen Krieg.(ДЕКЛАРАЦИЯ ОБ УЧЕНИИ О «РУССКОМ МИРЕ») Wir dokumentieren sie hier in verknappenden Auszügen.

03

Gegen-Erklärung zur „Lehre von der Russischen Welt“

„Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist eine historische Bedrohung für ein Volk mit orthodoxer christlicher Tradition. Noch beunruhigender für die orthodoxen Gläubigen ist, dass die leitende Hierarchie der Russischen Orthodoxen Kirche sich geweigert hat, diese Invasion als das zu bezeichnen, was sie ist, und stattdessen vage Erklärungen über die Notwendigkeit des Friedens angesichts der „Ereignisse“ und „Feindseligkeiten“ in der Ukraine abgegeben hat, während sie die brüderliche Natur des ukrainischen und des russischen Volkes als Teil der „Heiligen Rus“ betonte, die Feindseligkeiten dem bösen „Westen“ anlastete und sogar ihre Gemeinden anwies, in einer Weise zu beten, die die Feindseligkeit noch zusätzlich fördert.

Die Unterstützung des Krieges von Präsident Wladimir Putin gegen die Ukraine durch viele Mitglieder der Hierarchie des Moskauer Patriarchats hat ihre Wurzeln in einer Form von orthodoxem ethnophyletischem religiösem Fundamentalismus mit totalitärem Charakter, genannt Ruskij Mir (Russische Welt), eine falsche Lehre, die viele in der orthodoxen Kirche anzieht, obgleich sie von der extremen Rechten und auch von katholischen und protestantischen Fundamentalisten aufgegriffen und verbreitet wurde.

In den Reden von Präsident Wladimir Putin und dem Patriarch Kyrill von Moskau wurde die Russische-Welt-Ideologie in den letzten 20 Jahren wiederholt beschworen und weiterentwickelt. Im Jahr 2014, als Russland die Krim annektierte und einen Stellvertreterkrieg im ukrainischen Donbas begann, bis hin zum Beginn des ausgewachsenen Krieges gegen die Ukraine und danach, haben Putin und Patriarch Kyrill die Russische-Welt-Ideologie als Hauptbegründung für die Invasion verwendet. Sie umfasst vom Anspruch her Russland, die Ukraine und Weißrussland (und manchmal Moldawien und Kasachstan) sowie ethnische Russen und russischsprachige Menschen in der ganzen Welt. Diese Lehre geht davon aus, dass diese „russische Welt“ ein gemeinsames politisches Zentrum (Moskau), ein gemeinsames geistiges Zentrum (Kiew als „Mutter aller Rus‘„), eine gemeinsame Sprache (Russisch), eine gemeinsame Kirche (die russisch-orthodoxe Kirche, das Moskauer Patriarchat) und einen gemeinsamen Patriarchen (den Patriarchen von Moskau) hat, der – dem Konzept der „symphonia“ entsprechend – mit einem gemeinsamen Präsidenten/Nationalen Führer (Putin) zusammenarbeitet, um diese russische Welt zu regieren und eine gemeinsame, unverwechselbare Spiritualität, Moral und Kultur aufrecht zu erhalten. Gegen diese „Russische Welt“ (so die Lehre) steht der korrupte Westen, angeführt von den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Nationen, der vor dem „Liberalismus“, der „Globalisierung“, der „Christenfeindlichkeit“, den in Schwulenparaden propagierten „Rechten von Homosexuellen“ und dem „militanten Säkularismus“ kapituliert hat.

Seit der Inthronisierung von Patriarch Kyrill im Jahr 2009 haben sich die führenden Persönlichkeiten des Moskauer Patriarchats sowie Sprecher des russischen Staates immer wieder auf diese Grundsätze berufen, um die theologischen Grundlagen der orthodoxen Einheit zu untergraben. Dieses Prinzip der ethnischen Organisation von Kirche wurde auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahr 1872 verurteilt. Wenn wir solche falschen nationalreligiösen Prinzipien für gültig erachten, dann hört die orthodoxe Kirche auf, die Kirche des Evangeliums Jesu Christi, der Apostel, des Nizäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses, der Ökumenischen Konzilien und der Kirchenväter zu sein.

Wir verwerfen auch all jene, die den Cäsaropapismus unterstützen und ihren letztendlichen Gehorsam gegenüber dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn durch den Gehorsam gegenüber jedem Führer ersetzen, der mit unbegrenzten Herrschaftsbefugnissen ausgestattet ist und behauptet, selber Gottes Gesalbter zu sein, ob er nun den Titel „Cäsar“, „Kaiser“, „Zar“ oder „Präsident“ trägt. …

Wir bekräftigen, dass die Aufteilung der Menschheit in Gruppen auf der Grundlage von Rasse, Religion, Sprache, ethnischer Zugehörigkeit oder irgendeinem anderen sekundären Merkmal der menschlichen Existenz ein Kennzeichen dieser unvollkommenen und sündigen Welt ist. … Die Behauptung der Überlegenheit einer Gruppe gegenüber anderen ist ein charakteristisches Übel solcher Unterscheidungen, die im völligen Gegensatz zum Evangelium stehen. …

Wir verurteilen daher jede Lehre als nicht-orthodox und lehnen sie ab, die einer einzelnen lokalen, nationalen oder ethnischen Identität göttliche Einsetzung oder Autorität, besondere Heiligkeit oder Reinheit zuschreibt oder eine bestimmte Kultur als besonders oder göttlich gewollt charakterisiert, sei sie griechisch, rumänisch, russisch, ukrainisch oder eine andere. …

Wir bekräftigen – dem Gebot unseres Herrn folgend –, dass, … „die Gnade Gottes nicht in dem Menschen ist, der seine Feinde nicht liebt“, und dass wir keinen Frieden erfahren können, solange wir unsere Feinde nicht lieben. So ist das Führen von Kriegen der ultimative Verstoß gegen das Gesetz der Liebe Christi. …

13. März 2022 – Sonntag der Orthodoxie

https://publicorthodoxy.org/ru/2022/03/13/10845/

Abb. (PDF): Eröffnung des Gedenkkomplexes „Fürst Alexander Newski und sein Hof“: Präsident Putin mit Metropolit Tichon von Pskow und Porkhov und Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland

Bildquelle: Wiki Common, www.kremlin.ru