Politische Berichte Nr.3/2022 (PDF)07
Aktionen-Initiativen

Konferenz zur Zukunft Europas – das transnationale demokratische Experiment muss Wirklichkeit werden

Helmut Scholz, MdEP*

2019 verkündete Ursula von der Leyen in ihrer Bewerbungsrede zur EU-Kommissionspräsidentin im Europaparlament , eine Konferenz unter Beteiligung von Bürger*innen durchzuführen, um Ideen für die zukünftige Ausgestaltung der EU zu erarbeiten. Sie griff dabei Vorschläge des französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, auf und belieh Erfahrungen aus Bürger*innen-Dialogen in Frankreich, Irland und anderen EU-Mitgliedstaaten. Es war de facto auch eine Flucht nach vorn und das Eingeständnis, dass die „Beerdigung“ des Spitzenkandidaten-Verfahrens bei den Europawahlen 2019 durch das übliche Aushandeln von Entscheidungen im Hinterzimmer der Macht, dem Europäischen Rat, das Demokratiedefizit in der EU und Zweifel am demokratischen Funktionieren der Mehr-Ebenen-Entscheidungsstruktur (Multi-Governance) europäischer Politik weiter vergrößerte. Die einzige direkt gewählte EU-Institution, das Europäische Parlament – schon lange um mehr Rechte für gleichberechtigte Politikgestaltung kämpfend –, packte die Gelegenheit beim Schopfe und setzte sich unter Zustimmung aller im Europäischen Parlament vertretenen demokratischen Parteien fortan an die Spitze der Vorbereitung einer Konferenz zur Zukunft Europas. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU wurde mit der Konferenz ein transnationales Gesprächs- und Arbeitsformat von Vertreter*innen der unterschiedlichen Entscheidungsstrukturen in der EU mit gleichberechtigt agierenden Bürger*innen-Versammlungen auf den Weg gebracht, um Ideen und Vorschläge für eine andere Politik und, wo notwendig, auch andere Formen, Rechte, Wertedurchsetzung und Verantwortungen der EU-Politik neu zu bestimmen. Alles auf den Prüfstand, keine Tabus, auch Vertragsänderungen sollten Maxime der Konferenz sein. Ein Experiment, ja. Mit vielen Ecken und Kanten, mit wenig Zeit für breite Konsultationen im Vorfeld – und in vielem dann in der konkreten Vorbereitung und Durchführung von den Lockdowns der Pandemie beeinträchtigt.Deshalb verschob sich auch der ursprünglich angesetzte Starttermin der Konferenz auf den Europatag 2021, fast zwölf Monate verspätet. Aber nicht nur auf Grund der Pandemie, sondern auch durch die sehr unterschiedlichen Sichten der beteiligten EU-Institutionen, wie denn nun eine solche Konferenz zu konkreten Resultaten kommen kann und soll. Die Ergebnisse sollen und müssen als verbindliche Empfehlungen in praktische Konsequenzen münden. Und das wiederum hieß in Bezug auf die von Kommission, Parlament, aber auch EU-Rat vereinbarte finale Offenheit der Konferenz. Auch Vertragsveränderungen und Politikprioritäten, Kompetenzgewichtungen und -verlagerungen sollten zugelassen werden. Die Einigung dazu dauerte. Aber es gelang –deshalb hatte das Parlament, zumindest mehrheitlich, weitgehend darauf verzichtet, bereits in inhaltliche Themen einzusteigen: das sollte den Bürger*innen-Panels als neuem Akteur in diesem Dialogprozess vorbehalten bleiben. 800 aus allen 27 EU-Mitgliedstaaten per Losverfahren ausgewählte Bürger*innen (und damit die Breite der Gesellschaft widerspiegelnd), nach sozio-ökonomischen Kriterien, Genderparität, möglichst auch die unterschiedlichen Stadt-Land-Region widerspiegelnd, haben über den Zeitraum von einem Jahr in Präsenz und Online ihre Sichten und Vorschläge erarbeiten. Mit Unterstützung von Expert*innen, Dolmetscher*innen oder auch durch den Einsatz von Übersetzungssoftware konnten sie sich in ihrer Muttersprache, für viele erstmalig überhaupt, mit Herausforderungen und konkreten Wegen des Politikmachens „herumschlagen“ und zugleich konstruktiv neue Sichten vorlegen. Ein Drittel der Beteiligten war, bewusst so gewollt, jünger als 25 Jahre. Vor allem den jungen Menschen sollte eine gewichtige Stimme in der Konferenz gegeben werden. Gegenwart und Zukunft der EU gehen gerade sie an. Im Rahmen von vier großen Komplexen diskutieren die ausgelosten Bürger*innen ihre Visionen und Ideen zu den folgenden Themenbereichen: eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung/Bildung, Kultur, Jugend und Sport/digitaler Wandel; Demokratie in Europa/Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit; Klimawandel und Umwelt/Gesundheit; die EU in der Welt/Migration.

Neben diesem Gesprächsformat der Konferenz waren zeitgleich Bürger*innen der EU aufgerufen, sich auf einer digitalen Plattform ebenfalls zu Wort zu melden, Vorschläge zu unterbreiten oder auch selbst einzubringen – auf nationaler Ebene fanden diverse Dialogveranstaltungen statt, um möglichst viele Menschen in den Prozess einzubinden. In die Schlussphase der Konferenz wurden dann diese gewichteten Vorschläge mit in die Empfehlungserarbeitung der Konferenz einbezogen, wie auch Vertreter*innen („Botschafter*innen“) der nationalen Bürger*innen-Versammlungen in der Plenarkonferenz berichterstatteten. Das alles zu bündeln, zu gewichten und produktiv zu machen, war Aufgabe und Verantwortung der Plenarversammlung der Konferenz; sie tagte sieben Mal. Zusammengesetzt aus 108 Vertreter*innen des Europäischen Parlaments, 54 Vertreter*innen des Rates, drei Vertreter*innen der EU-Kommission sowie 108 Vertreter*innen aller nationalen Parlamente, 80 Vertreter*innen der vier Europäischen Bürger*innenforen, sowie der Präsidentin des Europäischen Jugendforums und 27 Vertreter*innen nationaler Veranstaltungen und/oder nationaler Bürger*innenforen. Zudem war der Ausschuss der Regionen mit 18 Vertreter*innen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss mit 18 Vertreter*innen, die regionalen Behörden mit sechs gewählten Vertreter*innen und die lokalen Behörden mit sechs gewählten Vertreter*innen, die Sozialpartner mit zwölf Vertreter*innen und die Zivilgesellschaft mit acht Vertreter*innen beteiligt.

Was fordern die Bürger*innen?

Am 9. Mai 2022 fand der offizielle Abschluss der Konferenz zur Zukunft Europas statt – 49 Empfehlungen in neun Themenfeldern und mit 325 konkreten Vorschlägen wurden seitens der beteiligten Bürger*innen den EU-Institutionen vorgelegt. Die Teilnehmer*innen bestätigten in einem erstaunlich breiten Konsens diese Empfehlungen, wenn natürlich nicht alles von jeder/m geteilt wird. Die vielen engagierten Menschen fordern unter anderem das soziale Europa zu stärken; eine Gesundheitsunion und eine gemeinschaftliche Umwelt- und Energiepolitik zu schaffen; gleiche Standards in der Bildungspolitik durchzusetzen; die Asyl- und Migrationspolitik neu auszurichten.

Vieles kann sofort oder in den nächsten Monaten umgesetzt werden; deshalb wird es Folgeveranstaltungen der gemeinsamen Beratung über den Sachstand geben, und die EU-Kommissionspräsidentin hat zugesichert, in ihrer für September 2022 vorgesehenen jährlichen Grundsatzrede „Zur Lage der EU“ einen konkreten Fahrplan über das Wie-weiter vorzulegen. Das können und werden wir alle sehr genau verfolgen. Die Messlatte ist aufgelegt. Zehn Prozent der Schlussfolgerungen erfordern jedoch grundsätzliche Vertragsänderungen, um wirklich EU-Politik bürger*innennah und krisenvorbeugend zu machen, um Lehren aus Finanzkrise, Demokratie- und Vertrauensverlust in Politik, aus Flüchtlingskrise oder Vermögen und Unvermögen gemeinsamer Covid-19 Pandemie-Bekämpfung zu ziehen und in Beziehung zur Vertragsrealität zu stellen. Das Europarlament ist sich da seiner Verantwortung für das rechtliche Ermöglichen solcher Punkte bewusst.Der andauernde Krieg Russlands in der Ukraine hat auch die Fragen der künftigen Außen- und Sicherheitspolitik wie der Energiepolitik aufgeworfen – und damit, wie in diesem Zusammenhang Klimawandel, CO2-Emmissionen und generell Umweltschutz neu ausgerichtet und verbindlich für die EU27 zu machen sind, sozial gerecht, solidarisch und global verantwortlich. Zu benennen sind z.B. Schritte zur Einführung eines vertraglich festgelegten, verbindlichen Initiativrechts auf Gesetzgebung für das Europäische Parlament oder Verbriefung seiner Rechte in der EU-Haushaltgesetzgebung, die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat, um Blockadehaltungen einzelner Mitgliedstaaten z.B. bei der Gewährleistung aller Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit entgegenzuwirken.

EU-Konvent – oder weiter wie bisher?

All das macht deutlich, die Menschen in der EU erwarten konkrete Veränderungen der europäischen Politik, ein gerechtes, friedliches und gemeinsames solidarisches Zusammenleben. Und: sie wollen mitmachen! Die Beteiligung aller in der EU-lebenden Menschen ist daher dringend auszubauen und zu verstetigen über das Ende der Konferenz hinaus. Auch da gibt es konkrete Ideen – für unterschiedlichen Formen und Strukturen eines permanenten Gesprächsdialogs, die aktive Verknüpfung von repräsentativer und partizipativer Demokratie, z.B. durch Konsultationen mit Bürger*innen vor jeder entscheidenden Gesetzgebung auf EU-Ebene. Die Zukunft der Gesellschaft kann nur gemeinsam gestaltet werden, und die Alltagserfahrungen der Menschen müssen in politisches Handeln fließen. Insofern wird diese Erfahrung einer neuen Art der Bürger*innenbeteiligung zu dauerhaften Veränderungen in der Entscheidungskultur führen – ich bin da optimistisch, dass ein Zurück zum Ausgangspunkt vor der Konferenz nicht mehr möglich sein wird. Ein Es-bleibt-wie-es-ist wird keinen Bestand haben können. Die Linke und viele engagierte demokratische und progressive Kräfte sollten gerade im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder deutlich machen, es liegt an uns. Wir sind der Souverän demokratischer Entscheidungsprozesse. Geben wir unseren Anspruch und unser Recht auf Mitgestaltung und Entscheidung nicht nach dem Wahltag ab.Parlament, Rat und Kommission sind jetzt aufgefordert, aus den Berichten und zahlreichen Empfehlungen der Bürger*innen verbindliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Die EU braucht neue demokratische Strukturen, die Menschen dauerhaft an EU-Entscheidungen beteiligt, und eine veränderte Arbeitsweise der EU-Institutionen. Es ist offensichtlich: Vertragsveränderungen können kein Tabu mehr sein! Zum Beispiel sollte das bisher einzige transnationale direktdemokratische Instrument Europäische Bürgerinitiative (ECI) ausgebaut werden. Eine erst kürzlich in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Schluss, die ECI ist mit mehr Transparenz und einem niedrigschwelligen Zugang auszustatten. Die EU-Institutionen wären verbindlich zu verpflichten, die jeweiligen Anliegen umzusetzen, und die ECI entscheidungsverantwortlich beim Europaparlament anzusiedeln.

Entscheidungsstrukturen und Mechanismen der EU müssen also an diversen Stellen verändert werden. Es geht nicht in erster Linie um ein Mehr oder weniger von EU, sondern um gleiche Chancen und Rechte und das Schaffen der dafür notwendigen Rahmenbedingungen, Entscheidungsstrukturen und Zugänge für jede und jeden. Dazu zähle ich auch das Überwinden des de facto Vetorechts im EU-Rat durch Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips. Wo und bei welchen Entscheidungen, welche Konsequenzen sich daraus auch für die sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte des Zusammenlebens im Staatenverbund EU ergeben: das muss in einem Konvent umfänglich und tiefschürfend beraten werden. Das Europarlament hat als seine Antwort auf die Forderungen der Bürger*innen am 9. Juni 2022, also schon einen Monat nach Abschluss der Konferenz, beschlossen, den Konvent einzuberufen. Der Ball liegt jetzt beim EU-Rat und den Regierungen aller 27 Mitgliedstaaten, dafür gleichermaßen Verantwortung zu übernehmen. Der Konvent sollte in seiner Zusammensetzung eine konsequente Weiterentwicklung der Zukunftskonferenz sein, auch hier die bürger*innengestützte Mitsprache von vornherein strukturell konzipieren.Helmut Scholz gibt einen wöchentlichen Newsletter über europapolitische Schwerpunkte heraus, er kann hier bestellt werden: https://www.helmutscholz.eu/de/topic/44.newsletter.html.

Eine englischsprachige Studie zu ECI aus Sicht von European Left ist abrufbar unter: https://www.helmutscholz.eu/kontext/controllers/document.php/137.2/7/3a6ef3.pdf

* Beobachter/Mitglied im Lenkungsausschuss der Konferenz zur Zukunft Europas, Koordinator für die Fraktion THE LEFT im Ausschuss für Konstitutionelle Angelegenheiten (AFCO) des EP