Politische Berichte Nr.3/2022 (PDF)09
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Corona und die Folgen: Soziale Sicherungssysteme in der EU weiter mangelhaft

Rüdiger Lötzer, Berlin

Die sozialen Sicherungssysteme in der EU sind weiterhin mangelhaft. Mehr noch: Während der Corona-Pandemie sind insbesondere grenzüberschreitende soziale Sicherungen regelrecht „eingefroren“, wie es die Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung in ihrem Newsletter 4/2022 zusammenfasst.Sichtbar wird das unter anderem im Statistischen Bericht über die Koordination der Sozialen Sicherungssysteme, den die EU-Kommission kürzlich veröffentlichte. Darin erfasst die Kommission unter anderem Daten über die Ausgabe verschiedener Dokumente, die bei grenzüberschreitender Mobilität innerhalb der EU benötigt werden. Das Dokument A1 beispielsweise wird ausgestellt, wenn Unternehmen Beschäftigte in andere EU-Länder zur Arbeit entsenden. Es soll sicherstellen, dass diese Beschäftigte für die Dauer ihrer Entsendung weiter der sozialen Sicherung des Entsendestaates unterliegen und keine Beiträge an ihrem ausländischen Arbeitsort entrichten müssen. In der Praxis kommt dieses Dokument zur Anwendung bei der Entsendung von Arbeitskräften in der Baubranche, im Logistikgewerbe, in der Pflege, für Saisonarbeit im Tourismus oder in der Gastronomie, für Erntearbeit in anderen Ländern, aber auch in der Industrie, wenn z.B. ein deutsches Unternehmen Techniker oder Ingenieure in andere EU-Länder schickt.Weniger grenzüberschreitende Mobilität

Nach einem jahrelangen Anstieg der Ausgabe solcher Dokumente verzeichnete die EU 2020, nach Ausbruch von Corona, einen Einbruch von fast 25%, von 3,2 Millionen solcher Dokumente im Jahr 2019 auf 2,4 Millionen in 2020. Während deutsche Unternehmen solche Dokumente vor allem für Industriebeschäftigte beantragen, die ins Ausland entsandt werden, überwiegt in allen anderen EU-Ländern die Baubranche, die solche Dokumente für die Entsendung ihrer Beschäftigten in andere Länder benötigt. Beide Formen der Entsendung sind im Jahr 2020 scharf eingebrochen.

Ausnahme: Logistikgewerbe

Weitere 1,2 Millionen solcher Dokumente wurden ausgestellt für Personen, die üblicherweise in mehreren EU-Ländern arbeiten. Hier dominieren polnische Unternehmen, die solche Dokumente vor allem für ihre LKW-Fahrer ausstellen. Während auch hier die EU für alle Länder im Jahr 2020 einen leichten Rückgang der Ausgabe dieser Dokumente verzeichnet, stieg die Ausgabe an polnische Unternehmen 2020 sogar weiter an. Der Anteil polnischer bzw. von polnischen Unternehmen beschäftigter LKW-Fahrer in der EU nahm also weiter zu.

Wenig Schutz für Selbständige, Leiharbeit, Befristete

Sehr viel kritischer fällt dagegen das Urteil über die sozialen Sicherungssysteme für atypisch Beschäftigte (Saisonkräfte, Leihkräfte, befristet Beschäftigte u.a.) in einer Studie des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) über die Corona-Zeit aus. Das Institut hat dazu acht Staaten und deren Maßnahmen zur sozialen Sicherung von Beschäftigten gegen die Corona-Pandemie untersucht: Belgien, Italien, Frankreich, Irland, Litauen, Portugal, Rumänien und Schweden. Das Ergebnis: Der soziale Schutz für diese atypisch Beschäftigten sei weiter unzureichend. Sie hätten keinen angemessenen Schutz gegen Krankheit, Arbeitsunfälle, Jobverlust. Insbesondere der Gesundheitsschutz und der Schutz gegen Arbeitslosigkeit sei für diese Beschäftigten weiter mangelhaft.

So sei zum Beispiel die Anwartschaftszeit für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nur in drei der acht Länder während der Pandemie verkürzt worden: in Frankreich von vier auf drei Monate, in Portugal und Schweden von zwölf auf sechs Monate. Damit kamen – ähnlich wie in Deutschland, dessen Sicherungssysteme nicht Gegenstand dieser Studie waren – viele Beschäftigte in diesen acht Ländern auch während der Corona-Pandemie nicht oder kaum in den Bezug von Arbeitslosengeld.

Verbesserungen gab es für einzelne Beschäftigtengruppen. So kamen in Belgien und Frankreich Beschäftigte im Kulturbereich (Artisten, Künstler, aber auch Techniker, die in dieser Branche arbeiten) erstmals in den Genuss von Arbeitslosengeld. Auch in Frankreich wurde ihr Zugang zu Arbeitslosengeld erleichtert.

Auch der Zugang für Selbständige zu solchen Formen der sozialen Absicherung blieb in der Pandemie mangelhaft. Nur in vier Ländern – Irland, Portugal, Rumänien und Schweden – haben solche Beschäftigten überhaupt Anspruch auf Arbeitslosengeld. Allerdings sind auch in diesen Ländern diese Leistungen mangelhaft. In Schweden etwa gilt die Regel, dass Selbständige nur dann Arbeitslosengeld beziehen, wenn der letzte Bezug fünf Jahre zurück liegt. Diese Regelung wurde in der Pandemie 2020 nur vorübergehend aufgehoben. In Portugal erhielt immerhin jeder zweite Selbständige Leistungen aus den Covid-Hilfsprogrammen der Regierung, allerdings deutlich weniger als reguläre Beschäftigte.

Trotz dieser Kritikpunkte endet die Studie des ETUI optimistisch: In Belgien, Irland und Rumänien habe die öffentliche Debatte über einen stärkeren Sozialversicherungsschutz für diese Beschäftigtengruppen während der Pandemie deutlich zugenommen. Ob daraus am Ende auch Verbesserungen folgen, bleibt offen. Der Weg zu einer solidarischen Bürgerversicherung gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und andere soziale Not scheint nicht nur in Deutschland weiter dornig.

Coordination of social security systems at a glance, 2021 Statistical Report, Hrsg. European Commission, März 2021; DSV-Newsletter on Social Security Systems 04/2022; Social protection for atypical workers during the pandemic – Etui Working Paper 2022/10

EU: Covid-19 wird Berufskrankheit

Am 18. Mai haben sich im beratenden Ausschuss für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz die staatlichen, die gewerkschaftlichen und die Arbeitgeberverbandsvertreter darüber geeinigt, dass Covid-19 als Berufskrankheit in die europäische Liste der Berufskrankheiten aufgenommen werden soll. Wie in den meisten Ländern möglich, wird vorgeschlagen, die Krankheit nur für Branchen mit nachweislich erhöhtem Infektionsrisiko anzuerkennen. Die Europäische Kommission ist nun gefordert, die europäische Liste der Berufskrankheiten entsprechend anzupassen.

Neben der permanenten Beratung in den sogenannten Coreper-Strukturen (Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedsstaaten) sind in dem vertikalen Mehrebenen-Prozess der Rechtsetzung in der EU diverse beratende Ausschüsse und bei der Kommission angesiedelte Expertenkommissionen eingerichtet. In ihnen finden sich bezogen auf den materiellen Gegenstand die Interessengruppen. Eine deutliche Einigung in diesen Gremien bedeutet meist auch ein schnelles Handeln der Kommission und in der Konsequenz (oft) wenig Dissens zwischen Parlament, Rat und Kommission.

Stellungnahme des beratenden Ausschusses für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz vom 18. Mai 2022: https://circabc.europa.eu/ui/group/cb9293be-4563-4f19-89cf-4c4588bd6541/library/e5dcd649-8338-473a-b18c-d008c678e6d3/details