Politische Berichte Nr.3/2022 (PDF)22
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Antiziganismus – auch gegen Kriegsflüchtlinge

Demokratisches Verhalten von Verwaltung und Behörden gefordert

Michael Juretzek, Bremen

Krakow (Polen) im Mai: 100 aus der Ostukraine geflohene Romnja sind in einem bis 13. Mai spendenfinanzierten Hostel untergekommen. Ihre Häuser wurden teilweise zerbombt, ihre Männer sind in die Armee eingezogen worden. Trotz Registrierung bei polnischen Behörden bekommen sie keine staatliche Unterstützung. Einige bräuchten wegen Krebs- oder Schilddrüsenerkrankung dringend medizinische Versorgung. Das Roma Center Göttingen hat Ende April eine Reise zu den geflüchteten Roma nach Polen und in die ukrainische Grenzregion gemacht. Ihr beeindruckender Bericht ist unter der untenstehenden Internet-Adresse zu lesen.

Prag (Tschechien) Mitte Mai: Etwa 100 aus Transkarpatien (Westukraine) geflüchtete Roma halten sich in einem Nebengang des Bahnhofs auf. Zweimal am Tag müssen sie für die Reinigungskräfte räumen. Viele von ihnen haben sowohl eine ukrainische wie ungarische Staatsbürgerschaft. Hilfskräfte berichten, dass es schwierig ist, für die teilweise großen Familien private Unterkünfte zu organisieren. Innenminister Rakusan erklärte, dass Geflüchtete mit doppelter Staatsbürgerschaft keinen Anspruch auf vorübergehenden Schutz und Sozialleistungen hätten.

Ende März wird Roma-Familien aus der Ukraine der Zugang zu Übernachtungsmöglichkeiten der Deutschen Bahn für Geflüchtete in Mannheim verweigert. Am 9. April verweist ein Zugbegleiter 20 ukrainische Roma um 4 Uhr nachts in Karlsruhe des Zuges.

Die EU tut sich schwer mit der Anerkennung der sechs Millionen auf ihrem Gebiet lebenden Sinti und Roma als gleichberechtigte Bürger. In der Behandlung der geflüchteten Roma aus der Ukraine wird das überdeutlich. Das hat Tradition – lange Tradition.

Ein Blick in die Geschichte

Im 14. Jahrhundert dehnte sich das Osmanische Reich bis an die indisch-pakistanische Grenze aus. Im Punjab-Tal wurden die Sinti und Roma unterworfen und Tausende für die weiteren Eroberungsfeldzüge zwangsrekrutiert. Andere, vor allem christlich geprägte Sinti, flohen vor der Besatzung nach Europa. Zunächst als „Pilger aus Ägypten“ eingeschätzt, erhielten sie von den europäischen Landesfürsten Schutzbriefe. Als die osmanischen Heere im 15. Jahrhundert Konstantinopel und Teile des Balkans eroberten, änderte sich die Haltung. Die als Zigeuner bezeichneten (Tagebuch des Andreas von Regensburg: „Cigäwnär“, 1422) galten nun als heimliche Kundschafter, als türkische Spione, als „getaufte Heiden“.

Sie bekamen keinen Zugang zu Städten, mussten vor den Stadtmauern campieren, ihnen wurde die Aufnahme in die Zünfte verwehrt. Schon 1472 ordnet der Kurfürst von der Pfalz an, „kein zigener durch seyn gnaden lande oder gebiete faren zu lassen“. 1504 befiehlt der französische König ihre Ausweisung. Es folgen Schweizer Städte, Flandern, England und Polen. Der Reichstag zu Freiburg erklärt sie 1498 für „vogelfrei“.

Von allen gesellschaftlichen Strukturen ausgeschlossen, durch kein Gesetz geschützt, bilden die Familienverbände die einzige Möglichkeit des Überlebens. Getrennt von Möglichkeiten der Bildung und Erwerbstätigkeit, erzwingt ihre Rechtlosigkeit Armut und ständigen Ortswechsel – bis zur nächsten Vertreibung.

Im 19. Jahrhundert liefern die Völkerkundler die entsprechende Wesenscharakteristik. Johann Schwicker entdeckt im „düsteren Blick“ der „Zigeuner“ den „Ausdruck des Stumpfsinnes, der mangelnden geistigen Thätigkeit und einer Gefühllosigkeit, die bei dem tierischen Wesen eines solchen Volkes ganz natürlich erscheint.“ („Die Zigeuner in Ungarn und Siebenbürgen“, Studie 1883, zitiert aus K.M. Bogdal „Europa erfindet die Zigeuner“, S. 172) Am Ende sind sie sich einig in der Behauptung der Existenz „einer nicht arbeitenden Rasse in Europa“ (ebda., S. 182). Mit dieser pseudowissenschaftlichen Einordnung verfallen Sinti und Roma zu Zeiten rasanter Industrialisierung zu einer für die Arbeitsreserve unnützen Menschengruppe, zu einem Chaos verursachenden Naturvolk, das unter strenge staatliche Kontrolle gestellt werden muss. Ab 1899 legt die Münchener Polizeidirektion durch ihren „Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner“ tausende Personalakten an. 1926 beschließt der bayerische Landtag das „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“.

Im Dezember 1942 setzt Himmler mit seinem Auschwitz-Erlass die Vernichtungsmaschinerie in Gang zur Deportation aller „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütiger Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“. Schätzungen gehen von 500 000 Opfern aus.Noch 1956 verneinte der Bundesgerichtshof eine rassische Verfolgung der Sinti und Roma vor 1942 mit der Begründung: „Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist“.

EU – ernüchternde Bilanz

2020 stellt die Europäische Kommission fest, dass Europa noch einen langen Weg bis zur Gleichstellung der Roma-Bevölkerung vor sich hat. Bezugnehmend auf den 10-Jahres-Rahmen zur Integration der Roma bis 2020 kommt sie zu dem ernüchternden Ergebnis: „… viele der schätzungsweise 10 bis 12 Millionen Roma in Europa sind im täglichen Leben weiterhin mit Diskriminierung, Antiziganismus und sozioökonomischer Ausgrenzung konfrontiert“. (https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/commission_proposal_for_a_draft_council_recommendation_for_roma_equality_inclusion_and_participation_de.pdf, S. 3)

Mit einem neuen Strategischen Rahmen für die Roma in der EU hat die Kommission neue Ziele bis 2030 gesetzt. Sie konzentrieren sich auf die Bereiche Armutsbekämpfung, Bildung, Arbeit, Gesundheit und Wohnen.

Armut: Gegenüber 20% der übrigen Kinder sind 85% der Roma-Kinder armutsgefährdet. Dieses Gefälle soll um mindestens die Hälfte reduziert werden.

Bildung: 62% der jugendlichen Roma besuchen keine Schule, sind nicht erwerbstätig oder in Ausbildung (bei 10% der übrigen Jugendlichen). Dieser Unterschied soll ebenfalls halbiert werden, reine Roma-Klassen in Grundschulen verringert und die Erlangung der Berufsreife verbessert werden.

Arbeit: Die Beschäftigungslücke soll um die Hälfte verkleinert werden.

Gesundheit: Die Unterschiede bei der Lebenserwartung soll um 50% gesenkt werden.

Wohnen: Die überdurchschnittliche Wohnungsnot soll um ein Drittel verringert werden, Überbelegungen abgebaut und der Zugang zu gesundem Leitungswasser auf 95% angehoben werden.

Allein die Aufzählung dieser Ziele zeugt von den Folgen jahrhundertelanger Ausgrenzung und Diskriminierung. Die Mitgliedsstaaten sollen alle zwei Jahre einen Bericht über die Umsetzung des Planes liefern.

Zentralrat der Sinti und Roma

Bei der Umsetzung der EU-Ziele sind neben finanzieller Mittel besonders die Verwaltungs- und Sozialbehörden gefordert. Einfühlsamer und vorurteilsfreier Umgang beim Ausstellen von Ausweisen, Bearbeiten von Kindergeldanträgen, Vermittlung von Wohnungen, Kindergarten- und Schulplätzen, Eingliederung in Krankenkassen, Organisierung von Sprachkursen, Eingliederung in den Arbeitsmarkt, Familienbetreuung usw. All das wird häufig ohne die Anwesenheit von Dolmetscherinnen nicht möglich sein. Der Zentralrat der Sinti und Roma stellt in seinem Monitoring-Bericht 2020 „Antiziganismus in der Verwaltung und in der Sozialen Arbeit“ zusammenfassend fest: „Diskriminierungen durch die öffentliche Verwaltung und Organisationen, die soziale Dienste anbieten, hindern benachteiligte Sinti und Roma daran, ihre bürgerlichen und sozialen Rechte wahrzunehmen“. (https://zentralrat.sintiundroma.de/zentralrat-veroeffentlicht-dritten-monitoringbericht-antiziganismus/; S. 8). In seinen Empfehlungen kritisiert er, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) nicht auf den öffentlichen Sektor anwendbar ist und erwartet: „Es ist dringend erforderlich, entweder den Geltungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auf den öffentlichen Sektor auszudehnen oder die entsprechende Gesetzgebung dafür zu schaffen…Die Institution der Ombudsperson sollte in der öffentlichen Verwaltung institutionalisiert werden“ (ebda. S. 10). U.a. hier entscheidet sich, ob die jahrhundertelange Diskriminierung der Sinti und Roma zurückgedrängt wird.

Abb. (PDF): Geflüchtete Romnja aus der Nähe von Odessa in Polen. c Roma Center e.V.1

Abb. (PDF): „von den schwarzen getauften heiden die miteinander nach Bern kommen“, aus der Spiezer Chronik, Diebold Schillings des Älteren (um 1445-1486).2

Abb. (PDF): Romakinder im KZ Auschwitz. Quelle: Patriaindipendente.it, Zeitschrift der Associazione Nazionale Pzartigiani d’Italia (ANPI)3

Abb. (PDF): Roma-Siedlung in Neapel neben dem Hafen. Wikipedia.4

Abb. (PDF): Buchempfehlung: K.-M. Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. (Literaturwissenschaftler Uni Bielefeld) Suhrkamp, Euro 15

Abbildungen, Quellenangaben : 1 https://ran.eu.com/gefluchtete-roma-aus-der-ukraine-in-polen-ein-reisebericht-des-roma-centers/ 2 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c5/Spiezer_Schilling_749.jpg 3 Romakinder im KZ Auschwitz. Quelle: Patriaindipendente.it, Zeitschrift der Associazione Nazionale Pzartigiani d’Italia (ANPI) 4 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Roma-siedlung_neben_dem_hafen_in_neapel.JPG