Politische Berichte Nr.3/2022 (PDF)28
Globale Debatten - UN Initiativen

G20-Protest 2017: Räumung des „Antikapitalistischen Camps“ war illegal

Das Verwaltungsgericht Hamburg stellte am 4. Mai 2022 die Rechtswidrigkeit der Räumung des „Antikapitalistischen Camps“ während des G20-Gipfels 2017 in Hamburg fest.

Gaston Kirsche, Hamburg

„Die Begründung liegt noch nicht vor“, so Rechtsanwalt Martin Klingner im Gespräch mit dem Autor: „Es ist aber klar, dass das Verwaltungsgericht das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit hier als verletzt ansieht, das ist ein wichtiger Erfolg“. Martin Klingner vertrat den Kläger, den Anmelder des „Antikapitalistischen Camps“, bereits im Sommer 2017.

Bereits ein halbes Jahr vor dem G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 begann eine beispiellose Kampagne gegen den zu erwartenden Protest. Da wurde die Anschaffung eines Anti-Terror-Räumpanzers der Hamburger Polizei mit zu erwartenden Bedrohungsszenarios begründet, der Hamburger Verfassungsschutz lieferte sich mit dem Staatsschutz, der Abteilung 7 des Landeskriminalamtes Hamburg, einen Wettstreit darüber, wer das furchterregendste Szenario linker Gewaltbereitschaft kreierte. Für die Innenstadt wurde durch die Polizeiführung per Allgemeinverfügung eine 38 Quadratkilometer große Verbotszone eingerichtet für politische Versammlungen jeder Art. Über Wochen wurde ein Ausnahmezustand zelebriert, indem Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden.

Die Hamburger Polizeiführung kam auf die Idee, die Zahl der anreisenden Protestierenden dadurch zu reduzieren, dass die geplanten Protestcamps, in denen mehrere Tausend Menschen übernachten sollten, verboten wurden. Praktischerweise ist die Versammlungsbehörde in Hamburg der Polizei angegliedert, die im Volkspark und im Stadtpark geplanten Protestcamps wurden nicht als Versammlungen erlaubt: Dabei sollte mit den Camps, so planten es die Veranstaltungsgruppe, ein durchgängig erreichbarer und sichtbarer Ort des Protestes geschaffen werden und Menschen, die aus der ganzen Welt nach Hamburg kommen wollten, ein Ort der Versammlungsmöglichkeit und der Meinungsfreiheit geboten werden.

Schon früh stellte Hamburgs rotgrüner Senat klar, dass er solche Camps nicht zulassen würde. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wurde missachtet. Höhepunkt war dann der Polizeieinsatz am 2. Juli, am Sonntag vor dem G20-Gipfel, gegen das „Antikapitalistische Camp“ auf der abgelegenen Elbinsel Entenwerder unter Missachtung zuvor ergangener Gerichtsentscheidungen. Es war der Auftakt zu einem einwöchigen Eskalationskurs seitens der Hamburger Polizeiführung.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in einer von Rechtsanwalt Martin Klingner angestrebten Eilentscheidung am 28. Juni 2017 klargemacht, dass ein derartiges Camp von den zuständigen Behörden grundsätzlich als Versammlung zu behandeln sei, und zwar in seiner Gesamtheit, also einschließlich Übernachtungsmöglichkeiten und Infrastruktur. Das Verwaltungsgericht Hamburg hatte in einem weiteren Beschluss entschieden, dass ein Verbot des Camps auf der Halbinsel Entenwerder nicht wirksam sei und ordnete die Aufhebung der sofortigen Vollziehung eines Verbotsbescheides der Versammlungsbehörde an. Damit wäre der Weg frei gewesen mit dem Campaufbau zu beginnen. Was folgte, nannte der sichtlich schockierte Rechtsanwalt Martin Klingner vor Ort „einen Putsch der Polizei gegen die Justiz, gegen Gerichtsentscheide“. Denn auf Anordnung des G20-Gesamteinsatzleiters Hartmut Dudde wurde zuerst Sonntagmittag mündlich eine weitere Verbotsverfügung durch die Polizeiführung verkündet. Fünf Hundertschaften in Kampfmontur versperrten die Zugänge zur Zeltwiese und verhinderten großteils den Campaufbau. Dann erlaubte die Polizei doch eine Nutzung, aber ohne Schlafzelte. Nur der souveränen Hartnäckigkeit der etwa Hundert anwesenden G20-Protestierenden war es zu verdanken, dass 12 kleine Schlafzelte aufgebaut wurden. Bei Anbruch der Dunkelheit räumten die behelmten Hundertschaften unter massivem Einsatz von Pfefferspray sowie Schlagstöcken den Platz: Personalien wurden festgestellt, Zelte beschlagnahmt.

Klagen vor Verwaltungsgerichten dauern lang, aber der Anmelder des Camps gab nicht auf. Am 5. Mai erklärte die Pressestelle des Verwaltungsgerichtes Hamburg: Die „Absperrung des Zugangs zu der Elbinsel Entenwerder zur Errichtung eines Protestcamps anlässlich des G20-Gipfeltreffens wie auch die Untersagung des Camps und das Verbot von Schlafzelten waren rechtswidrig“. Denn, so die Presserklärung zum Aktenzeichen 21 K 264/18: „Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts stellte das angemeldete Protestcamp (jedenfalls in erheblichen Teilen) eine Versammlung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG dar. Vor diesem Hintergrund sei die nicht näher eingegrenzte, insbesondere nicht zeitlich klar befristete Verfügung, mit der die Errichtung des Protestcamps zunächst untersagt wurde, ebenso wie die im Rahmen der späteren Verfügung erfolgte vollständige Untersagung des Aufstellens von Schlafzelten, des Errichtens von Duschen und des Aufbaus von Küchen rechtswidrig gewesen.“ Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.Der rotgrüne Senat schweigt zum Urteil, SPD, Grüne, CDU, AfD und FDP als Parteien und Bürgerschaftsfraktionen ebenfalls. In den Hamburger Medien wird zwar über das Urteil berichtet, aber nur aus Chronistenpflicht. Der Anmelder des Camps und Kläger erklärt dagegen erfreut: „Das Verwaltungsgericht hat die Rechtsbrüche der Polizei klar benannt. Dies ist eine große Genugtuung. Dies muss jetzt auch politische Konsequenzen haben.“ Seine Forderung nach Konsequenzen wird vom Rathaus ignoriert, der Senat schweigt: „Die Verantwortlichen für die rechtswidrigen Polizeieinsätze, namentlich Innensenator Andy Grote sowie der damalige Bürgermeister und jetzige Bundeskanzler Olaf Scholz müssen für den rechtswidrigen Einsatz in Entenwerder zur Verantwortung gezogen werden.“

Sein Anwalt Klingner unterstreicht im Gespräch: „Der Senat hat die politische Verantwortung für alles. Scholz wollte kein Camp.“

Auf die ausführliche Presseerklärung des Verwaltungsgerichtes reagierte nur eine Bürgerschaftsfraktion: „Ein Erfolg ist die Feststellung des Gerichts, dass die Absperrung des Zugangs zur Elbinsel Entenwerder rechtswidrig war“, so Sabine Boeddinghaus, Vorsitzende der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft im Gespräch mit dem Autor: „Dudde hatte sich damit über einen Beschluss des Verwaltungsgerichts hinweggesetzt – das war ein Putsch der Polizei gegen das Gericht, eine Missachtung der Gewaltenteilung.“

Das Verwaltungsgericht habe mit seiner Beurteilung, dass das angemeldete Camp unter den Schutz der Versammlungsfreiheit fällt, die „Hamburger Linie“ in Sachen Camps zurückgewiesen, die ja bestritt, dass die Camps Teil der Versammlungen zu G20 waren. „Wenn dieses Urteil Bestand hat, das heißt nicht vom Oberverwaltungsgericht kassiert wird, hat es Auswirkungen für die Zukunft“, so Sabine Boeddinghaus zum Autor: „Camps könnten dann nicht mehr ohne weiteres verboten werden, das wäre ein wichtiger Erfolg.“

Das Urteil, so Martin Klingner „durchbricht die Erzählung des Senats, es habe keine Rechtsbrüche gegeben beim G 20 und zweitens eröffnet es vielen zukünftigen Camps, die sich auf Versammlungsfreiheit berufen, bessere Chancen.“

Für die damalige Polizeiführung um deren Leiter Hartmut Dudde hat das Urteil „keine persönlichen Konsequenzen“, so die ehemalige Linken-Abgeordnete Christiane Schneider gegenüber dem Autor: „Das Verwaltungsgericht hat die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns überprüft und festgestellt: da wurde ein Grundrecht, das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, verletzt, Dudde muss aber keine Strafe zahlen.“ Christiane Schneider, die 2017 innenpolitische Sprecherin der Linkenfraktion in der Bürgerschaft war, sieht die Bedeutung des Urteils ähnlich wie Anwalt Klingner: „Die Hamburger Polizei müsste sich, wenn das Urteil rechtskräftig wird, zukünftig daranhalten.“

Skeptischer ist Andreas Blechschmidt, er erklärt dem Autor: „Die aktuelle Entscheidung des Verwaltungsgerichts gibt letztlich nur einen versammlungsrechtlichen Gemeinplatz wieder, nämlich dass Protestcamps grundsätzlich auch unter den Schutz des Versammlungsrechtsfallen, das wussten im Sommer 2017 bereits alle Beteiligten.“ Der Anmelder der im Juli 2017 vier Tage nach dem Camp ebenfalls von der Polizei rabiat aufgelösten Demonstration „Für eine solidarische Welt und gegen den G20“ des Welcome-to-Hell-Bündnisses bilanziert nüchtern: „Die Hamburger Polizei hatte aber die Rückendeckung der Politik, in einem Akt des eklatanten Rechtsbruchs die gerichtlichen Entscheidungen bis hin zu der des Bundesverfassungsgerichts ignorieren zu können.“ Das Urteil werde „keinerlei Konsequenzen haben, denn die Polizei wusste ja damals selbst, dass sie offenen Rechtsbruch begeht“, so Andreas Blechschmidt: „Das war politisch sozusagen eingepreist und durch den regierenden rot-grünen Senat gedeckt.“ Und die Hamburger Polizei habe „zum Versammlungsrecht ein rein taktisches Verhältnis“. Christiane Schneider erinnert sich, das Verwaltungsgericht habe „meiner Erinnerung nach mindestens fünfmal“ von Hartmut Dudde verantwortete Polizeieinsätze als rechtswidrig verurteilt: „Das Problem ist, dass in solchen Fällen konkrete Maßnahmen für rechtswidrig erklärt werden, und das oft drei oder, wie jetzt, sogar fast fünf Jahre später.“

Aber einmal hatte eines tatsächlich Konsequenzen: „Ich erinnere mich, dass die Polizei über Jahre hinweg Demonstrationen wegen der Länge von Transparenten drangsalierte“, so Schneider: „Das musste sie nach einem entsprechenden Verwaltungsurteil dann Ende 2011 einstellen. Seitdem dürfen in Hamburg auf Demonstrationen wieder Seitentransparente getragen werden, die breiter als ein Meter fünfzig sind.“

Abb. (PDF): Einige hundert Polizist:innen bereiten sich darauf vor, ein Dutzend Wurfzelte abzuräumen. Foto: Christiane Schneider